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Donnerstag, 5. November 2020

Getanzter Zorn

Die Räuber zwischen Kain, Abel und Ödipus

Mit einer Räuber-Trilogie wollte Olaf Graf in sein Amt als Intendant des TfN starten. Nach Schauspiel, Oper, defekter Brandschutzanlage und geflutetem Theater feierte nun der letzte Teil des Triptychon Premiere im Ausweichquartier "Halle 39". Die Räuber-Choreografie von Marguerite Donlon lässt staunen und macht atemlos. 

Sie ist vor allem rasant und schnell, und bringt doch neue Perspektive. Donlon präsentiert eine neue Version von Kain und Abel und von der verlorenen Unschuld. Damit steht am Ende die Gewissheit, dass die Geschichten mit dem alten Grafen, seinen Söhnen und der schönen amalia nicht anders als tödlich ausgehen kann.

Franz hat den Vater in der Gewalt. 
Alle Fotos: Quast
Seelenleben oder Erzählballett? Innerlichkeit oder Action? Die Wahlberlinerin verknüpft in ihrer Choreografie beide Möglichkeiten und die vier Tänzer und Annick Schadeck als Amalia setzen dies einsdruckvoll um.  Das verwundert nicht, denn sie sind das Donlon Dance Collective

Doch ganz so einfach macht es Marguerite Donlon dem Publikum nicht. Ihr Franz ist gewalttätig und durch und durch böse. Aber Marioenrico D'Angelo liefert in dieser Rolle eine überzeugende Erklärung: Unerwiderte Liebe und Zurückweisung.

Der Liebesentzug durch den Vater verursacht konvulsivische Krämpfe. Es ist abrupte Bewegungen in viele Richtungen. Der ganz Körper zuckt und krampft. D'Angelo bringt den Schmerz auf die Bühne und das Publikum leidet mit. Es hätte nie gedacht, dass der Umgang mit der Requisite Brief solche Folgen haben können. 

Das Mienenspiel ist trotz MNS beeindruckend. Immer mehr Zorn mischt sich in das Gesicht. die entlädt sich in Gewalt gegen den Vater. Das Publikum wird Zeuge einer tänzerischen Folter. Laios hatte Glück, Ödipus tötete ihn sofort. Der alte Graf wird in Etappen sterben, das wird schnell klar.

Die Choreografie bipolar. Marguerite Donlon hat das Gewicht abermals verschoben. Sie rückt die Figur der Amalia stärker in den Fokus. In der blütenweißen Optik ist sie der Kontrapunkt zum schwarzen Franz. Ihr bleiben die raumgreifenden Bewegungen, die nicht ins Leere gehen, sondern immer wieder auf sie zurückführen. Da steckt jede Menge klassischer Ausdruckstanz drin, der kontrastierte zu den Jazz Dance-Elementen der Räuberbande.  

Amalia ist stärker als die Männer,
aber das hilft ihr nur bedingt. 


Damit liegen die Höhepunkte des Abends im Aufeinandertreffen von Amalia und Franz. Diese sind energiegeladen, die Spannung entlädt schlagartig. Dem Prinzip von Zorn und Gewalt stellt Annick Schadeck Selbstsicherheit und Entschlossenheit entgegen. doch dieses Spiel kann kein gutes ende nehmen. Es endet auch für Amalia tödlich.

Die Musik von Michio Woirgardt ist eine Mischung aus Industrial Beats und Klangcollagen. Satte Streicher werden von Textzitaten gekontert. Sie liegt irgendwo zwischen Laurie Anderson und Art of Noise und ist ein Motor in dieser bombastischen und atemlosen Choreographie. 

Doch die stärksten Momente sind die Momente der Stille, des Innenhaltens vor dem Abgrund. Es sind die Soli von Annick Schadeck, die Gänsehaut erzeugen und so in Erinnerung bleiben. 

Das vielschichtige Spiel spiegelt sich im Bühnenbild von Belen Montoliu wieder. Es sind vier Elemente aus Holz auf Rollen. Manchmal wirkt ihr Stangenwirrwarr wie ein Baumhaus als sicherer Beobachtungsposten und mal wie ein Gefängnis. Ineinander verschoben ergeben sie aber auch ein labyrinthisches Dickicht. Das ist ganz große Kunst.

Das einzige Manko? Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig für Tanztheater in der Klasse. Aber dafür kann das TfN nichts. 


Die nächsten Aufführungstermine sind noch nicht festgelegt.  

Sonntag, 1. November 2020

Flucht vor sich selbst

 "Die Winterreise" als Ballett im Theater Nordhausen

Meistens kommt es anderes als man manchmal denkt. Mit einer Aufführung von "Die Winterreise" als Ballettabend hat sich das Theater Nordhausen in die Winterpause verabschiedet. Dabei überzeugt die Choreographie von Ivan Alboresi owohl sie doch einige Längen aufweist. 

In diesem Jahr diktiert erstmal das Corona-Virus den Spielplan. Eigentlich wollte Alboreso die "Carmen" in Szene setzen, doch die zahlreichen Auflagen stoppten das Vorhaben. Doch "Die Winterreise" mit der Musik von Franz Schubert ist mehr als nur Ersatz. Sie passt besser in diese Zeit als die extrovertierte und erotische Carmen.

Mit der affektierten Larmoyanz und dem maßlosen Selbstmitleid in einer konstruierten Realität, die mit der Wirklichkeit nur bedingt deckungsgleich ist, ist die Winterreise die Vorlage für die aktuelle Gemütslage. Statt des grandiosen und tödlichen Finale der Carmen gibt es hier endloses Siechtum. 

Mal eine weibliche Perspektive: 
Gony ist die gefrorene Träne.
Alle Fotos: TNLos
Winterreisen gibt es viele. Auch die Lieder von Franz Schubert ist nur von mehreren zeitgenössischen Vertonungen der 24 Gedicht von Johann Ludwig Müller. Wie es sich für einen Schwerromantiker gehört, konnte er den Ruhm aber nur postum genießen. 

Alboresi schafft es, dem Standardwerk wichtig Ergänzungen hinzuzufügen. Mit dem Untertitel "Stationen einer Flucht" verschiebt sich die Perspektive auf das Seelenleben des Ich-Erzählers. Es ist nur schade, dass sich einige Stationen doch gleichen. Besonders in der zweiten Hälfte wirken einige Szenen redundant. Da unter den derzeitigen Bedingungen eine Pause zur Verarbeitung auf Seiten des Publikums nicht möglich ist, wäre eine Straffung durchaus ratsam. Denn anderthalb Stunden Seelenpein, das  ist schon ein Brett. 

Eigens für die Inszenierung in Nordhausen hat der Komponist Davidson Jaconello Klangcollagen und Electrobeats geschaffen. Diese transportieren die Inszenierung nicht nur 200 Jahre in Richtung "Jetzt". Diese Brücken in die Gegenwart sind auch wichtige Ergänzungen und Kontrapunkte zur traditionellen Instrumentierung. Hier kann sich das Ohr erholen von der Dominanz von Flügel und Bariton.

Dabei profitiert die Choreografie durchaus von der Tradition. Der Bariton hat die Rolle des Ich-Erzählers und Handlungsträger. Deswegen muss Alboresi keinen Gedanken an das Erzählballett verschwenden. Er kann sich auf das konzentrieren, was er am Besten kann und am Liebsten macht: Innere Zustände in Bewegungen umsetzen. 

Philipp Franke hat die Winterreise schon seitz längerem in seinem Repertoire. In dieser Zeit ist die Darbietung gereift. Franke ist nun in der Lage, seinen Bariton akzentuiert einzusetzen. Damit weiß er die schwankenden Stimmungen des Erzählers umzusetzen. Dadurch gewinnt die Winterreise deutlich an Tiefe.

"Stationen einer Flucht" und damit verwundert es nicht, dass das Ensemble immer wieder in Diagonalen über die Bühne hastet. Diese Zurschaustellung innerer Unruhe liegt auf der Hand. Aber ansonsten greift Alboresi in seiner Choreografie in gewohnter Weise auf den gesamten Fundus  tänzerischer Ausdrucksmittel zurück. Klassik trifft auf Moderne trifft auf Break Dance.


Die Grenzen zwischen Musik und Tanz verschwinden.
Alle Fotos: TNLos!
Klassisch drehen sich die Tänzer um sich selbst. Die Pirouetten in den weiten Mäntel wecken Assoziationen an die Derwische. Gelegentlich wird auch gesprungen.  Es sind gewissermaßen Pas de deux mit sich selbst. Das ist nicht nur den Corona-Bedingungen geschuldet. Das alleine zu machen, was sonst nur zu zweit klappt, auch das ist eine Aussage zur Zeit. 

Aber es findet eben auch viel auf dem Boden statt. und dann drehen sie sich auch wieder um sich selbst.

Dadurch gewinnen die Soli an Bedeutung und der Auftritt von Otylia Gony an der dritten Stationen bringt eine zusätzliche Ebene in die Rezeption. Seit der ersten Szene steht sie bewegungslos rechts hinten im Spotlicht. Nun tanzt sie mit sparsamen Platzverbrauch die gefrorene Träne. 

Genau genommen war die Winterreise bisher der Ego-Trip eines verkappten Machos. Junger Mann macht sich falsche Vorstellungen über eine Beziehung, enttäuscht macht er sich über alle Berge und singt anschließend der Welt von seinem verqueren Seelenleben vor. 

Dank Ivan Alboresi kommt nun die Verlassene zu Worte. Warum hat es zweihundert Jahre gedauert, bis endlich jemand fragt, was die Trennung bei der jungen Frau auslöst? Allein für diese neue Opfer-Perspektive gehört Nordhausen Ballettchef in den Olymp. 

Das Bühnenbild von Wolfgang Kurima Rauschning entblättert seine Stärken erst im Laufe der Vorstellung. Damit liefert es aber eine eigenständige Aussage. 

Grün trifft auf Schwarz, aber die Phase der
Hoffnung ist nur kurz.  Alle Fotos: TNLos!
Anfangs verstört es mit seiner sperrigen Do-It-Yourself-Optik. Das ist pure Klaustropobie gezimmert in 45 mal 75er Kantholz. Ab Station vier wird es im Gegenlicht zur Projektionsfläche und dann  öffnet sich die Kulisse Stück für Stück. Die Grenze zwischen Tänzer und Musiker verschwindet sukzessive bis Philipp Franke vom Sänger zum Akteur wird.

Doch die Öffnung retardiert. Die Kulisse senkt sich wieder häppchenweise und Zum Schluss herrscht wieder Klaustrophobie und Einsamkeit und ein Ich-Erzähler der in sich versunken in der Ecke hockt. 

Unterstützt wird dies durch das Farbkonzept der Ausstattung. Baut Birte Walbaum erst aus Schwarz mit einem Hauch weiß, so kommt zwischenzeitlich lindgrün dazu. Die schweren und weiten Romantikermäntel werden vom Tänzerdress abgelöst. Doch die Phase der Hoffnung ist nur kurz. Die Kostüme landen wieder im Monochromatischen. Die Schlussszene sieht Tänzerinnen und Tänzer im schwarzer Regen. Alles was bleibt ist Traurigkeit. 

Es ist fantastische Bilder, die das Ensemble in Tateinheit mit Ausstattung und Licht auf die Bühne des Theater Nordhausens bringen. Bilder, in die man als Zuschauer zu gern versinkt. Aber einige diese Bilder wirken wie Kopien ihrer selbst. Für die Post-Corona-Zeit wäre eine Straffung durchaus angebracht.