Mittwoch, 20. April 2022

Dieser Elch hat sich überlebt

Trotz Neuerungen zeigt die Preisverleihung akuten Neuerungsbedarf

Seit 25 Jahren gibt es den „Göttinger Elch“. Am Sonntag wurde Deutschlands einziger Satirepreis im Deutschen Theater verliehen. Trotz einiger Neuerungen zum Geburtstag wurde deutlich, dass das Prozedere einige Korrekturen braucht, damit der „Göttinger Elch“ lebendig bleibt.

Als Preisträgerin 2021 wurde Maren Kroymann ausgezeichnet. Preisträger für das Jahr 2022 ist Eugen Egner. Corona-bedingt gab es 2020 keinen Preisträger.

Maren Kroymann zeigte sich bei ihrer Dankesrede glücklich. Sie sei vor allem darüber froh, dass es unter ihren zahlreichen Auszeichnungen der erste Preis sei, der ihr nicht im Zusammenhang mit einer Fernsehsendung verliehen wurde. Zudem bedankte sie sich bei all denjenigen, die sie beim Karrierestart Mitte der 80-er Jahre unterstützt hatten.

Maren Kroymann hat mit dem Programm „Auf du und du mit dem Stöckelschuh“ 1982 die Bühne betreten. Sie bot als erste Kabarettistin einen Zugang, der nicht so verkopft war wie die Programme der Schwergewichte Dieter Hildebrandt oder Hanns Dieter Hüsch.

Sie war auch die erste Frau im deutschen Fernsehen, die ab 1993 mit der gleichnamigen Sendung ein eigenes Format auf Sendung hatte. Hildebrandt und Hüsch hat sie überlebt und stilbildend war Maren Kroymann mit ihrem leichteren Ansatz zur gesellschaftlichen Kritik bestimmt. Dafür bekam sie 2021 den Göttinger Elch, dessen Verleihung nun nachgeholt wurde.

Anders sieht es mit Eugen Egner aus. Der gehört eher in die Kategorie Geheimtipp. Obwohl der Zeichner und Musiker aus Wuppertal 1971 einen formidablen Start hingelegte, ist er nie ins Licht der großen Öffentlichkeit gerückt. Seine Zeichnungen und Karikaturen sind von surrealen Elementen geprägt. Stilistisch verharrt Egner in der Ästhetik der legendären U-Comix. Seit 30 Jahren herrscht hier Stillstand und Reproduktion. Damit ist die Rubrik „Spartenprogramm“ vorprogrammiert.

Scheinbar hat die Corona-Pause dem Elch den Stecker gezogen. Es ist eine Preisverleihung wie Hunderte andere auch. Das anarchistische Moment der vergangenen Jahre ist hinweg. Auch das skurrile Element ist Geschichte. Man verzichtet auch in diesem Jahr auf die Übergabe von 99 Dosen Elchsuppe.

Stattdessen dürfen sich die aktuellen und künftigen Preisträger fortan ins Goldene Buch der Stadt eintragen. Auch die ehemals Geehrten dürfen das nachholen, sofern sie noch leben. Damit ist der Göttinger Elch in der bildungsbürgerlichen Normalität angekommen und das ist eigentlich nicht sein Biotop.

Gelobte oben links, Lobredner und Elch ganz klein.
Foto: Thomas Kügler

Wie so vieles rund um den Göttinger Elch liegt der Schlüssel dazu in der Vergangenheit. Das ist bei einem Preis für das Lebenswerk nicht überraschend. Aber an diesem Abend fällt immer wieder der Name „Titanic“. Irgendwie ist alles mit dem Magazin aus Frankfurt verknüpft. Der Chefredakteur darf zum Schluss noch eine Laudatio auf seinen freien Mitarbeiter Eugen Egner halten.

Überhaupt ist die Liste der Preisträger randvoll mit den Vertretern der „Neuen Frankfurter Schule“. Es sieht so aus, als ob die „Titanic“ aus Sicht des Göttinger Elchs das Monopol auf Satire in Deutschland hat. Dieses Magazin ist für den Göttinger Elch das Zentralgestirn seines humoristischen Universums. Dabei ist es eher zu einer Parallelwelt geworden. "Aus der Zeit gefallen" ist eine in den letzten Jahren überstrapazierte Formulierung. Auf diese Veranstaltung trifft sie ohne Einschränkung zu.

Dass es mit dem „Eulenspiegel“ einen weiteren Vertreter aus diesem Genre gibt, der sich sogar besser am Markt behauptet, hat man in der Jury aus lauter Westdeutschen noch nicht wahrgenommen. Somit verwundert es nicht, dass sich selbst im Jahre 32 der deutschen Einheit immer noch kein Satiriker oder Satirikerin aus Ostdeutschland im Reigen der Göttinger Elche findet. Dieser wird dominiert von Künstlerinnen und Künstlern, die zwischen den späten 70ern und den frühen 90ern prägend waren.

Der Göttinger Elch ist in die Jahre gekommen und dies spiegelt sich auch im Publikum wider. Das wird von der Generation Ü 60 dominiert. Ein Milieu feiert hier die Helden der einst rebellischen Jugend. Damals hätte man wohl gegen solche Veranstaltungen voller kleinbürgerlicher Selbstzufriedenheit demonstriert.

Georg Haderer, Preisträger 2019, gibt dies unfreiwillig in der Lobrede auf seine Nachfolgerin Kroymann zu. Er bemüht die alten Zeiten und warnt vor den Veränderungen der Jetztzeit. Gegen die Verflachung der Komik müsse man Haltung zeigen. Dass seine Adressaten ein fester Bestandteil des kapitalistischen System ist, gegen dass man weiter opponieren sollten, kann er nicht sehen. Dabei ist seine Videobotschaft noch ein Highlight an diesem Abend.

Ein anderer Höhepunkt ist die Laudatio von Hans Zippert auf Maren Kroymann. Der Kolumnist der „Welt“ stellt unter Beweis, warum er zu den Besten seiner Zunft gehört. Schließlich hat er schon Mitte der 90-er Jahre den Befreiungsschlag aus dem „Titanic“-Sumpf geschafft. Humorvoll und mit jeder Menge Selbstironie blickt er auf die Zusammenarbeit mit Maren Kroymann zurück und versichert glaubhaft, dass er auf weitere Kooperation baut.

Auf der Bühne trifft Bundesliga auf Kreisliga. Moderator des Abends ist der Lokalheld Lars Wätzold und ihm gehen Witz, Selbstironie und Grandezza völlig ab. Stattdessen kalauert er sich mit Anspielungen durch die Veranstaltung, die nur diejenigen verstehen, die wie er zum „Inner Circle“ gehören. Mit seinem Publikum kann er sich immer wieder versichern, auf der richtigen Seite der Debatten zu stehen 

Den größten Lacher produziert noch die Frage eines Zuschauers. Der möchte von Wätzold wissen, warum sich ausgerechnet die städtische Sparkasse nicht mehr an dieser städtischen Auszeichnung beteiligt. Eine Antwort bekommen er und das Publikum aber nicht.

Stattdessen beteuert man sich immer wieder gegenseitig die eigene Überlegenheit im Vergleich zur Welt da draußen. Damit ist der „Göttinger Elch“ zur eigenen Karikatur geworden. Manfred Deix hätte seine Freude an diesen bildungsbürgerlichen Ritualen. Doch als Preisträger kommt der aus natürlichen Gründen nicht mehr in Frage.

Kein großer Schritt nach vorne

 Antje Thoms verabschiedet sich mit ungewöhnlicher Inszenierung

Die Inszenierung ist gut, das Stück hat Schwächen. So lässt sich die letzte Aufführung am Deutschen Theater unter der Regie von Antje Thoms zusammenfassen. Mit „Der Weg zurück“ verabschiedete sie sich nun nach Regensburg.

Am Anfang steht die Überforderung. Daraus wächst der Wunsch nach einem einfachen Leben. Weil es immer mehr Menschen mit diesem Wunsch gibt, ist in den USA die Bewegung der Regression, der langsamen Rückwärtsbewegung, entstanden. Der britische Autor Dennis Kelly hat diese Erscheinung in seinem Stück „The Regression“ verarbeitet.

Das Werk führt durch fünf Generationen. Am Ende der Technikfeindlichkeit steht eine steinzeitliche Gesellschaft. Ausgangspunkt sind „Der Mann“, seine Tochter „Dawn“ und ihr schweres Schicksal. Endpunkt ist eine weitere „Dawn“, die so retardiert ist, dass sie nur noch einsilbige Wörter beherrscht. Was mit Skepsis der modernen Technik gegenüber beginnt, endet mit dem völligen Verfall von Wissen.

Aufführungsort ist die Tiefgararge des DT Göttingen. Diesen Ort gibt das Stück quasi vor. Die Stühle sind zweireihig im Rund aufgebaut. Es wirkt wie die nächste Sitzung der Gruppentherapie. In der Mitte brennt ein Lagerfeuer. Es soll wohl das Feuer sein, um das man sich seit Menschengedenken so gern versammelt und dann Geschichten erzählt.

Am Eingang hat jeder einen Kopfhörer bekommen. Der beschallt das Publikum mit einer Geräuschkulisse und dem Satz „Du bist in Sicherheit“ in der Endlosschleife. Es ist schon klar, dass es sehr intensiv wird.

Der Blick in die Zukunft die Vergangenheit ist.
Alle Fotos: Thomas M. Jauk
Um das Feuer stehen drei Gestalten, „Die Gruppe“ genannt. Sie warten darauf, dass sie endlich anfangen können. Gaby Dey, Paul Wenning und Florian Eppinger fungieren als Erzähler und schaffen die Brücke zwischen den fünf Zeitstationen. Mit ihrer professionellen Lakonie wirken sie wie die Nornen der germanischen Mythologie, direkt der Edda entsprungen. Ganz nüchtern schauen sie mit Publikum  in eine Zukunft, die wie eine Vergangenheit wirkt. Die Zeitebenen geraten mit Absicht durcheinander und der Stuhlkreis sorgt für das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Es ist eine fatale Gemeinschaft. Keiner kommt hier raus.  

Dann steigt Gabriel von Berlepsch als „Der Mann“ in den Ring. Auf den Armen eine Puppe, die er ständig wiegt und das Mantra „Du bist in Sicherheit“ in die Ohren flüstert. Zerfahren erzählt er von dem schweren Schicksal, von der Empfängnis unter schwierigen Umständen, der Geburt und dem plötzlichen Tod der Mutter.

Von Berlepsch liefert großen Kunst. Fahrige Bewegungen, den Kopf stets gebeugt und abgehackte Sprache. Da ist ein Mann jenseits der Verzweiflung und von Berlepsch kann dies eindrucksvoll vermitteln. Er steckt in einer unheilvollen Schleife, aber diese zieht die erste Szene unnötig in die Länge.

Die Frau konnte nur mit Hilfe der Technik schwanger werden, mit Hilfe der In-vitro-Fertilisation. Für den Katholik Dennis Kelly scheint dies ein neuer Sündenfall zu sein. Von hier an geht es auf der Schrägen rasant bergab. Fortan müssen alle Frauen ihre Schwangerschaft mit dem Leben bezahlen. So viel wurde seit der Romantik nicht mehr im Kindsbett gestorben.

Oder möchte Kelly dem Publikum mitteilen, dass allein fehlende Mutterliebe der Grund für alles Unheil ist? Schließlich müssen fortan alle Akteure ohne liebende Mutter groß werden. 

Die Anfänge der Technikkritik liegen in der Romantik und da ist es logisch, dass Kelly auf ein weiteres Mittel dieser Epoche zurückgreift, nämlich dem Briefroman. Die nächste Etappe trägt „Die Gruppe“ als Lesung aus Briefen vor. Das Publikum darf sich seinen Teil denken. Was aber angesichts der wirren Gedanken nicht immer einfach ist. Der ruhige Vortrag kontrastiert gut zum dramatischen Geschehen. Auf jeden Fall wird am Ende dieser Etappe heldenhaft gestorben.

Gegenwart und Steinzeit vermischen sich.
Foto: Thomas M. Jauk
Es folgt die Szene mit dem größten Gruseleffekt. Es ist vor allem der Wiedererkennungswert. Der Auftritt der Zwilling sorgt für Entsetzen, denn Nele Sennekamp und Paul Häußer machen in ihrem Vortrag deutlich, dass die Propaganda ihrer Bewegung gar nicht so weit entfernt von den Verlautbarungen esoterischer Gruppierungen der Gegenwart. Auch in die akademischen Debatten über die Risikogesellschaft finden sich im Vortrag der Zwillinge wieder. Verschwörung vermischt sich hier mit Ratio, Analyse mit Befürchtung, gewürzt wird mit Zeitgeist. Jeder Einzelne wird auf die Einhaltung der Regeln eingeschworen, der Totalitarismus kommt als gute Sache daher.

Zudem schaffen die beiden Darsteller es immer wieder, in ihrem gehetzten Vortrag die Spannungen zwischen den beiden ungleichen Geschwistern deutlich zu machen. Egomane trifft auf Verständnisvolle und beide packen jede Menge latente Aggression in ihr oberflächlich freundliches Neusprech. Es verwundert nicht, dass dies tödlich endet.

Nach der nächsten Briefroman-Etappe springt die letzte Dawn in den Ring. Es ist eine Szene voller Entsetzen, denn Alma Nossek spielt eindrucksvoll eine Vierzehnjährige auf dem geistigen Niveau einer Dreijährigen. Bemalt wie ein mystisches Wesen aus der Vergangenheit zeigt sie eine mögliche Zukunft. Es ist erstaunlich wie viel Mienenspiel diese Maske noch zulässt. Zu den großen Kulleraugen gesellt sich die raumgreifende Gestik eines überdrehten Kindes. Das Publikum ist hin- und hergerissen zwischen Mitleid und Entsetzen.

Bei allen Längen und Schwächen des Stücks gelingt Antje Thoms mit ihrer letzten Arbeit am Deutschen Theater ein eindrucksvoller Blick in eine mögliche Zukunft. Dabei kann sie auf ein Ensemble bauen, dass mit seinem abwechslungsreichen Spiel alle Facetten der unheilvollen Entwicklung offenlegt.

Sonntag, 10. April 2022

Dieser Fotograf ist nur etwas für Erwachsene

 

Neu bei Steidl: Zeitaufnahmen von Werner Bartsch

Dieses Buch sollte man von hinten nach vorne lesen. Im Nachwort von Stefan Gronert ist der Schlüssel zum Verständnis versteckt und der lautet „Projektionsfläche“. Es ist aber auch zulässig, sich die Fotos anzuschauen, erst dann das Nachwort zu lesen und mit der Zusatzinformation einen erneuten Zugang zum Schaffen von Werner Bartsch zu suchen.

Bartsch gehört zu den prägenden Fotografen der Gegenwart. Seit Jahrzehnten lichtet er Zeitgenossen für die großen Publikationen der deutschen Presselandschaft ab. Mit „Zeitaufnahmen“ hat er jetzt im Steidl-Verlag einen Überblick über die letzten 25 Jahre veröffentlicht. Auf 196 liefert er Porträts von und Fotos mit bekannten und unbekannten Mitmenschen ab.

Das ungewöhnliche Format von 52 mal 31 Zentimeter auf der Doppelseite schmeichelt dem Auge. Es sind durchweg Aufnahmen im Querformat und die korrespondieren wunderbar mit der Gestaltung. Auch haptisch ist dieses Buch ein Erlebnis. Gelegentlich wird die Struktur der Motive begreifbar.

Von außen und ...
Es gibt weniger Nahaufnahme als man erwartet. Bartsch simuliert Nähe, indem er immer mal wieder etwas abschneidet. Da ist immer noch etwas Kopf übrig, wenn das Bild längst zu Ende ist oder andere Körperteile fehlen. So soll der Eindruck entstehen, dass der Fotograf seinem Model so dicht auf die Pelle gerückt ist, dass die Kamera diese Nähe gar nicht mehr fassen kann.

Die Menschen in ihrem Umfeld darstellen, dass ist der Ansatz von Werner Bartsch. Das ergibt einen immer gleichen Aufbau der Fotos. Links jede Menge Umfeld, rechts dann das Model. Die Ergebnisse sind unterschiedlich. Günter Grass vor der großen Bücherwand wendet sich selbstbewusst dem Betrachter zu, Maler Jonas Burgert passt schlüssig in sein Wandgemälde, Karin Beier überzeugt auch aus der Froschperspektive, aber Hito Stayerl wirkt verloren auf dem Cordsofa.

Bartsch inszeniert seine Fotos bis ins Detail und manchmal erdrückt die Inszenierung das Motiv. Das Symbol wird mächtiger als der Mensch. Bei Gerhard Richter hingegen funktioniert die Inszenierung. Der beherrscht selbst die Leere seines riesigen Ateliers als kleiner Kraftpunkt rechts unten im Bild.

Gronert spricht in seinem Nachwort von den Bildern als Projektionsfläche für die Betrachter. Für Bartsch sind die Models seine eigene Projektionsfläche. In „Zeitaufnahmen“ präsentiert er drei Serien mit jungen Menschen. Sie schauen tiefsinnig in die Gegend oder starren in die Kamera. Von Jugendlichkeit keine Spur. Die Rollenverteilung hat sich wohl umgedreht. Der Fotograf hat den Models seine Sichtweise übergestülpt. Es ist die aufgesetzte Tiefsinnigkeit eines alten weißen Mannes.

Man muss ein erwachsener und gestandener Mensch sein, um dem Fotografen Wolfgang Bartsch gegenüber treten zu können. Boris Herrmann schaut ganz selbstbewusst in die Kamera. Kein Wunder, er hat auch gerade solo die Welt umsegelt.

Otto Sander fordert den Fotografen heraus und Otto Waalkes zeigt eine Seite, die den Betrachter überrascht. Hinter dem Komiker Otto steckt der der Waalkes mit der ganzen Erfahrung von 73 Lebensjahr. Das deutlich zu machen, das ist große Kunst.

Das beste Foto kommt ganz ohne Menschen aus. Eine blau lackierte Holztür gibt halbgeöffnet den blick in einen unscharfen Hintergrund frei und das Namensschild auf der Tür wirkt, als wäre es vor Jahrzehnten en passant für wenige Mark bei Mister Minit erstellt worden. Darauf steht Habermas und dahinter wohnt der wichtigste Denker der deutschen Gegenwart. Bartsch holt den Philosophen von dem Sockel, auf dem der sich gern selbst sieht.

... von innen. 
Dann ist da noch die Sache mit den Klischees. Natürlich beginnt der Abschnitt über Helmut Schmidt mit einer Menthol-Zigarette. Zwei Seiten später schauen die Betrachter den Ex-Kanzler beim Rauchen zu und posthum hat Bartsch auch Schmidts Zigarettenbox fotografiert. Auch die Pfeife von Günter Grass ist mehrfach zu sehen, weil Schriftsteller eben Pfeife schmöken.

Inwieweit ist es zulässig, Menschen auf ein Detail zu reduzieren? Wie weit darf pars pro toto gehen? Bedient Bartsch hier die Klischees oder ist Bartsch so sehr ein Teil der kollektiven Wahrnehmung, dass er selbst die Klischees in den letzten Jahrzehnten geprägt hat? Bilden Fotos die Wirklichkeit ab oder erschaffen sie die kollektive Wirklichkeit? Diese Fragen beantwortet Stefan Gronert in seinem Nachwort nicht. Das muss man selbst machen und deswegen lohnt es sich, sich den „Zeitaufnahmen“ zu widmen.

 

 

 

Jane Eyre verharrt im Mittelfeld

 Uraufführung des Musicals kann nur bedingt überzeugen

Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht. Diese alte Weisheit gilt zum großen Teil für das neue Musical am Theater Nordhausen. „Jane Eyre“ verharrt im Mittelfeld. Die Inszenierung hat wenige Höhepunkte und einige Schwachstellen.

Dabei waren die Erwartungen hochgesteckt, denn das Musical nach dem gleichnamigen Roman von Charlotte Brontë erlebte in Nordhausen seine deutsche Erstaufführung. Am Ende überwiegt die Freude, endlich mal wieder Theater vor großem Publikum erleben zu können.

Die Geschichte reiht sich ein in die Gefühlswirren der Romantik. Eine junge Frau mit schwerer Kindheit hat immer noch so viel Liebe in sich, dass sie einen verbitterten älteren Mann wieder auf den rechten Weg führt und am Ende auf die Allee in das gemeinsame Happy End einbiegt.

Kommerziell war es der größte Erfolg von Charlotte Brontë. Die vermeintliche Autobiografie wurde 1847 schon kurz nach dem Erscheinen zum Bestseller. Zumindest im englischsprachigen Raum ist „Jane Eyre“ ein fester Teil der Popkultur. Wikipedia listet immerhin 24 Verfilmungen und 5 Musiktheater auf. So haben auch Paul Gordon und John Caird den Stoff 1995 in ein Musical umgearbeitet. Die Uraufführung war im Jahr 2000 am Broadway.

Zwei, die noch nicht wissen, dass sich
gesucht und gefunden haben.
Alle Fotos: Julia Lormis
Dabei geht dem Stück vieles von dem ab, was man sich von einem Musical erhofft. Da swingt nichts, da bebt kein Tanzboden, da jubelt kein Chor. Stattdessen reiht John Caird eine Pop-Ballade an die andere. Bei drei Stunden Aufführungsdauer wirkt dies schnell monoton. Die einzige Abwechslung ist die Ballszene zur Mitte der Aufführung. Da wird wenigstens gewalzt.

Gordon und Caird haben das Stück als Einakter konzipiert. In Nordhausen hat man zwei Akte daraus gemacht und eine Pause dazwischen gestellt. Leider gibt es keinen Cliffhanger.

Der erste Akt zieht sich 75 Minuten hin mit der Exposition der für die Romantik so typisch affektierte Gefühlslage. Im zweiten Akt überschlagen sich die Ereignisse. Da reiht sich dann eine Überraschung an die andere. Die Inszenierung schaltet gleich zwei Gänge höher.

Die literarische Vorlage hat mehr als 170 Jahre auf der Uhr, Als, was machen die Gefühlsqualen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts so attraktiv für die Digitalmoderne? Es ist die Überforderung mit den Umständen einer sich rasch wandelnden Zeit. Der Mensch sieht sich als Objekt des Schicksals und dunkler Geheimnisse.

Dabei findet sich im Roman eine kleine Geschichte der Emanzipation, zumindest in dem geringen Umfang, die das 19. Jahrhundert für Frauen wie Jane Eyre bereithielt Das geht hier völlig unter.

Es dauert ein wenig, bis sich Eve Rades in die Titelrolle eingesungen hat. Aber dann kann sich stimmlich und voll umfänglich überzeugen. Aber an der Gestik und Mimik sollte sie arbeiten. Den Kopf stets gesenkt, die Arme hängend und die Schultern immer nach vorne gezogen macht sie sich kleiner, als es der Rolle guttut.

Ähnliches gilt für Jonas Hein der Rolle des Edward Fairfax Rochester. Sein erstes Solo ist ein echter Wachrüttler, das erste Duett mit Eve Rades entlarvt die beiden als ideales Paar. Aber auch er wird mimisch leider auf die Rolle des Dauerleids reduziert. Solch eindimensionale Figuren wirken wie Holzschnitte und nicht wie Menschen aus Fleisch und Blut. Immerhin gelingt es Rades und Hein deutlich zu machen, dass hier zwei Figuren ihren Auftritt haben, die an der Welt und vor allem an sich selbst leiden

Einzig Amelie Petrich darf in der Rolle der Blanche Ingram aus der Reihe tanzen. Mehr von diesem Elan hätte der Inszenierung gutgetan. Ihr Ballszenen-Solo ist zudem das vokale Highlight der Aufführung.

Es gibt durchaus farbige und fröhliche
Momente.         Foto: Julia Lormis
Zumindest zur Premiere schränken die Klangprobleme den Genuss deutlich ein. Die Sänger und Sängerinnen sind in der ersten Hälfte fast nur über die Lautsprecher zu hören und die klingen an diesem Abend als wären sie aus dem Jahr 1847. Da fehlen die Bässe, da fehlen die Höhen, da damit fehlt die Dynamik. Mit dem Chor in der Ballszene ist die Anlage komplett überfordert.

Mit „Jane Eyre“ treibt Regisseur Ivan Alboresi seine Vorliebe für düstere und finstere Inszenierungen auf einen neuen Höhepunkt. Die Lichtsetzung kann man bestenfalls als sparsam bezeichnen. Weite Teile der Bühne verschwinden schlicht im Dunkel. Alle Farbigkeit ist verbannt. Es gibt nur schwarz, weiß und jede Menge Grau dazwischen.

 Vielleicht hätte H.P. Baxxter seine Freude an der Inszenierung. Das Bühnenbild hat den Charme eines Techno-Clubs der späten 90-er Jahre. Die mit Silberlack übersprühten Kacheln sind eine ständige Überforderung für das Auge. Der Kontrast zu den historisierenden Kostümen funktioniert nicht so recht.

Wenn Alboresi und Bühnenbildner Pascal Seibicke Gefängnisatmosphäre erzeugen wollen, ist ihnen das gelungen. Schließlich sind die Akteure ständig Gefangene ihres Standes und der Umstände. Es bedarf erst einer Geistesgestörten, um dieses Gefängnis niederzubrennen. Damit geben Ivan Alboresi und Seibicke ihren Kommentar zu einem Lebensgefühl ab, das sich in der Romantik wie in der Digitalmodernen auffällig gleicht.