Fast 120 Jahre liegt die Uraufführung von Tschechow Stück zurück. Als Situationsbeschreibung des spätzaristischen Russland konzipiert entlockt Mark Zurmühle bei seiner Neuinszenierung von "Die Möwe" dem Werk auch Aussagen zur Zeit. Desorientierung tötet. Sie frisst Seelen auf und sie tötet auf allen Ebenen.
Na, da hat sich ja eine feine Gesellschaft zusammengefunden. Wie in all den Jahren zuvor treffen sich auch in diesem Sommer Freunde und Verwandte auf dem Landgut von Pjotr Nikolajewitsch Sorin. Zu der illustren Gesellschaft gehören neben dem ehemaligen Gerichtspräsidenten auch seine Schwester Irina Nikolajewna Arkadina und dessen Sohn Konstantin "Kostja" Treplew. Im Schlepptau hat die verwitwete Schauspielerin ihr jüngeren Geliebten, den Schriftsteller Boris Trigorin. Zu den Satelliten dieser Sommergesellschaft gehören noch Mascha Iljewna, Tochter des Gutsverwalter Ilja Schamrajew, Semjon Medwedenko, Lehrer, und Nina Saretschnaja, Tochter eines benachbarten Gutsbesitzers. Landarzt Jewgenij Dorn und Polina Schamrejewa, Frau des Verwalters, vervolllständigen das Teilnehmerfeld. Der Mikrokosmos ist komplett
Kostjas Theaterstück stößt auf Unverständnis und wird damit zum Auslöser. Fotos: DT/Winarsch |
Damit ist Kostja ein Kind seiner Zeit. Die 1890er Jahre im Zarenreich waren eine bleierne Zeit, Jahres des Übergangs. Der revolutionäre Schwung der 1870er Jahre war verschwunden, der Terror der 80er Jahre vorbei, die Narodniki im Exil, im Gulag oder hingerichtet. Die Unruhen der 1900er Jahre, die Revolution von 1905 sind Äonen entfernt. Noch ahnt niemand, dass bald Sturm der Avantgarde durch die russischen Salons gehen wird, dass die russische Kunst einen Innovationsschub erfahren wird, wie es wohl keinen zweiten in der europäischen Kulturgeschichte gegeben hat und innerhalb weniger Jahre vom Mittelalter in die Moderne springen wird.
Auf dem Gut von Sorin (l.) hat sich eine illustre Gesellschaft zusammengefunden. Foto: DT/Winarsch |
Diese Sommergesellschaft adeligen Ursprung steht außerhalb der Regel der Bürgerlichkeit, das ist Boheme. Aber sie hat ihre eigenen Regeln und sie unterliegt ihren eigenen Zwängen und Konventionen. Verletzung auf Gegenseitigkeit gehört dazu. Ich tue dir weh, damit ich mich spüre, bei all dieser Lähmung. Andere Verhaltensmuster lässt die Langeweile und der Grusel vor der eigenen Nichtigkeit nicht zu, ist eine der Kernaussage dieser Inszenierung. Die Regeln bestimmt Irina Arkadina. Ihre Waffe ist die Drohung mit Liebesentzug und mit Eklat, symbolisiert in der vorzeitigen Abreise, genau kalkulierend, dass dies die Sommergesellschaft sprengen, atomisieren würde. Damit ist Angelika Fornell die starke Person in dieser Inszenierung. Sie gibt den Rhythmus vor und sie setzt die ganze Palette von gespielter Ahnungslosigkeit bis hin zu dosierter Bösartigkeit ein. Doch welche Kettenreaktion sie mit dem Eklat zur Premiere von Kostjas Stück in Gang setzt, das übersteigt auch ihr Fassungsvermögen. Selbst diese Ahnungslosigkeit nimmt Angelika Fornell ab.
Die einzige Figur, die als Gegenpol wirkte könnte, ist der Landarzt Jewgenij Dorn. Alle würde ihm gern die Rolle des Übervaters zuschreiben,doch er lehnt dankend. Einst Regelbrecher hat er sich gut eingerichtet in seiner Rolle des anerkannten Freigeistes. Als einziger erkennt er Kostja Talent und er anerkennt es auch als eigenständige Leistung. Aber Orientierung kann er ihm auch nicht bieten oder will er nicht geben. Das würde die eigene Bequemlichkeit beenden. Florian Eppinger lässt diese Figur so lebendig werden, dass man denken mag "Halt, das ist doch mein Nachbar zwei Häuser weiter". Auch das ist der Transfer in die Jetztzeit und dann bewältigt man, wenn man seine umfangreichen Mittel eben auch passend einsetzten kann.
Es scheint, als schlage Sorins letzte Stunde. Foto: DT/Winarsch |
Fast 120 Jahre liegt die Uraufführung von Tschechow "Die Möwe" zurück. Mit dieser Inszenierung hat Mark Zurmühle die Triebfedern in diesem Stück verdeutlicht. Weil es ihm gelingt, die Situation in das Jetzt-Dur zu transponieren, zeigt er auch, dass eben jene Triebfedern immer und vielleicht mehr denn je wirken. Langeweile und Selbstzweifeln führen zu Mobbing und fressen Seelen auf. Wer nicht weiß, wo er hinwill, wird unweigerlich in die Katastrophe getrieben. Damit betreibt Zurmühle mehr Gegenwartsanalyse als Historientheater, Gott sei dank.
Das Stück in Selbstbeschreibung
Der Spielplan
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