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Sonntag, 22. Dezember 2013

Planeten ohne Zentralgestirn

Eine zeitlose Möwe im Deutschen Theater Göttingen

Fast 120 Jahre liegt die Uraufführung von Tschechow Stück zurück. Als Situationsbeschreibung des  spätzaristischen Russland konzipiert entlockt Mark Zurmühle bei seiner Neuinszenierung von "Die Möwe" dem Werk auch Aussagen zur Zeit. Desorientierung tötet. Sie frisst Seelen auf und sie tötet auf allen Ebenen.
Na, da hat sich ja eine feine Gesellschaft zusammengefunden. Wie in all den Jahren zuvor treffen sich auch in diesem Sommer Freunde und Verwandte auf dem  Landgut von Pjotr Nikolajewitsch Sorin. Zu der illustren Gesellschaft gehören neben dem ehemaligen Gerichtspräsidenten auch seine Schwester Irina Nikolajewna Arkadina und dessen Sohn Konstantin "Kostja" Treplew. Im Schlepptau hat die verwitwete Schauspielerin ihr jüngeren Geliebten, den Schriftsteller Boris Trigorin. Zu den Satelliten dieser Sommergesellschaft gehören noch Mascha Iljewna, Tochter des Gutsverwalter Ilja Schamrajew, Semjon Medwedenko, Lehrer, und Nina Saretschnaja, Tochter eines benachbarten Gutsbesitzers. Landarzt Jewgenij Dorn und Polina Schamrejewa, Frau des Verwalters, vervolllständigen das Teilnehmerfeld. Der Mikrokosmos ist komplett
Kostjas Theaterstück stößt auf Unverständnis
und wird damit zum Auslöser. Fotos: DT/Winarsch
Das Spiel des DT-Ensembles macht deutlich, dass dieses  Team an einem Widerspruch leidet. Jeder ist zur Stelle, aber keiner ist an seinem Platz. Keiner lebt das Leben, das er leben möchte. Sorin muss aus Geldnot auf dem Lande leben, die Stadt bleibt ihm verwehrt. Mit 60 Jahren muss er bekennen, dass er nie Jurist werden wollte, sondern Schriftsteller.  Lutz Gebhardt gibt dieser Melange aus Alterswut, Verzweiflung und Larmoyanz eine glaubwürdige Gestalt. Die multikausale Verhärmung ist ihm ins Gesicht und die Gestik geschrieben. Also projiziert Sorin seine Hoffnungen auf den Neffen Kostja. Immerhin schon 25 Jahre alt, weiß nun gar nicht, wohin es gehen soll, geschweige denn, wo sein Platz ist. Er weiß nur, dass es so und auf diese Art und Weise nicht weitergehen kann. Er möchte Dramatiker werden oder Schriftsteller, auf jeden Fall aber nicht in den alten Bahnen. Doch sein Theaterstück der neuen Form bleibt fleischlos weil es keine wirklichen Personen zeigt, weil das Neue einem hohlen Formalismus verhaftet bleib. Moritz Pliquet verdeutlicht dieses Nicht-Loskommen, dieses Steckenbleiben und er kann glaubhaft vermitteln, dass Kostja  der Zugang zur Realität, zur Welt da draußen verwehrt. Er leidet an seinem Umfeld, dass ihn als eigenständige Person nicht ernst nimmt. Aber er kann außerhalb des Mikrokosmos nicht existieren. Der einzige Entschluss, denn er in Gelassenheit vollziehen kann, ist die Beendigung seiner eigenen irdischen Existenz.
Damit ist Kostja ein Kind seiner Zeit. Die 1890er Jahre im Zarenreich waren eine bleierne Zeit, Jahres des Übergangs. Der revolutionäre Schwung der 1870er Jahre war verschwunden, der Terror der 80er Jahre vorbei, die Narodniki im Exil, im Gulag oder hingerichtet. Die Unruhen der 1900er Jahre, die Revolution von 1905 sind Äonen entfernt. Noch ahnt niemand, dass bald Sturm der Avantgarde durch die russischen Salons gehen wird, dass die russische Kunst einen Innovationsschub erfahren wird, wie es wohl keinen zweiten in der europäischen Kulturgeschichte gegeben hat und innerhalb weniger Jahre vom Mittelalter in die Moderne springen wird.
Auf dem Gut von Sorin (l.) hat sich eine illustre
Gesellschaft zusammengefunden. Foto: DT/Winarsch 
Solche bleiern Zeiten kehren immer wieder, dies ist die zentrale Aussage der Göttinger Inszenierung, das ist die Transferleistung in die Jetztzeit. Zurmühle verzichtet wohlweislich auf eine Zeitbindung, Der leichte Sommerdress ist nicht an Ort und Zeit gebunden, das trug auch die Boheme der 20er und der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts, in diesem cremefarbenen Leinen spielte Adenauer Boccia in Cadenabbia. Vielleicht sind wir wieder in solch einer bleiernen Zeit?
Diese Sommergesellschaft adeligen Ursprung steht außerhalb der Regel der Bürgerlichkeit, das ist Boheme. Aber sie hat ihre eigenen Regeln und sie unterliegt ihren eigenen Zwängen und Konventionen. Verletzung auf Gegenseitigkeit gehört dazu. Ich tue dir weh, damit ich mich spüre, bei all dieser Lähmung. Andere Verhaltensmuster lässt die Langeweile und der Grusel vor der eigenen Nichtigkeit nicht zu, ist eine der Kernaussage dieser Inszenierung. Die Regeln bestimmt Irina Arkadina. Ihre Waffe ist die Drohung mit Liebesentzug und mit Eklat, symbolisiert in der vorzeitigen Abreise, genau kalkulierend, dass dies die Sommergesellschaft sprengen, atomisieren würde. Damit ist Angelika Fornell die starke Person in dieser Inszenierung. Sie gibt den Rhythmus vor und sie setzt die ganze Palette von gespielter Ahnungslosigkeit bis hin zu dosierter Bösartigkeit ein. Doch welche Kettenreaktion sie mit dem Eklat zur Premiere von Kostjas Stück in Gang setzt, das übersteigt auch ihr Fassungsvermögen. Selbst diese Ahnungslosigkeit nimmt Angelika Fornell ab.
Die einzige Figur, die als Gegenpol wirkte könnte, ist der Landarzt Jewgenij Dorn. Alle würde ihm gern die Rolle des Übervaters zuschreiben,doch er lehnt dankend. Einst Regelbrecher hat er sich gut eingerichtet in seiner Rolle des anerkannten Freigeistes. Als einziger erkennt er Kostja Talent und er anerkennt es auch als eigenständige Leistung. Aber Orientierung kann er ihm auch nicht bieten oder will er nicht geben. Das würde die eigene Bequemlichkeit beenden. Florian Eppinger lässt diese Figur so lebendig werden, dass man denken mag "Halt, das ist doch mein Nachbar zwei Häuser weiter". Auch das ist der Transfer in die Jetztzeit und dann bewältigt man, wenn man seine umfangreichen Mittel eben auch passend einsetzten kann.
Es scheint, als schlage Sorins
letzte Stunde. Foto: DT/Winarsch
Der stille Star an diesem Abend ist das Bühnenbild von Eleonore Bircher. Sie greift ein Thema weiter, das sie bereits be iShakespeares "Was ihr wollt" angewendet hat: Inseln in einem bühnenweiten See. Standen diese Inseln damals für die Vereinzelung der Akteure, sind sie hier eher die Fluchtburgen der Getriebenen, die sicheren Inseln in einem feindlichen Element. Sie drängen die Akteure zusammen, verstärken im positiven wie im negativen Sinne die Beziehungen zueinander, das direkte Mit-und Gegeneinander, das dem Anderen ausgeliefert sein, das dem Ganzen nicht entrinnen können und wollen. In der Möwe ist der See optisch noch weit bis hinter das Bühnenhaus verlängert. So überwindet die Gestaltung einen scheinbaren Widerspruch: Weite, Leere und Klaustrophobie. Dazwischen steht ein Birkenwald. Ist er Grenze? Ist er Versteck? Er ist vor allem der Ort, in dem die Bedrohung lauert, die Bedrohung in Form von Menschen, die heraufziehen, dich zu umringen.
Fast 120 Jahre liegt die Uraufführung von Tschechow "Die Möwe" zurück. Mit dieser Inszenierung hat Mark Zurmühle die Triebfedern in diesem Stück verdeutlicht. Weil es ihm gelingt, die Situation in das Jetzt-Dur zu transponieren, zeigt er auch, dass eben jene Triebfedern immer und vielleicht mehr denn je wirken. Langeweile und Selbstzweifeln führen zu Mobbing und fressen Seelen auf. Wer nicht weiß, wo er hinwill, wird unweigerlich in die Katastrophe getrieben. Damit betreibt Zurmühle mehr Gegenwartsanalyse als Historientheater, Gott sei dank.

Das Stück in Selbstbeschreibung
Der Spielplan

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