Seiten

Seiten

Donnerstag, 8. Juni 2017

Viel Futter für die Seele

Ensemble choreographiert Freiträume am Theater Nordhausen

Das ist Vertrauen in die Mitarbeiter. Am Theater Nordhausen konnten die Mitglieder der Ballettkompanie einen Abend gestalten. Herausgekommen sind vier Choreographien, die gesamte Bandbreite zeitgenössischen Tanztheaters zeigen. Mut muss ja belohnt werden.

Vortrex

Neun Figuren finden sich wie hingewürfelt auf der Bühne wieder. Sie wirken orientierungslos in einem Stimmengewirr.  Dann bricht ein Unwetter über sie herein. Aus den Individuen wird eine amorphe Gruppe. Eins eint sie: Gekleidet sind sie in die Sorte Nachthemden, die man im Krankenhaus bekommt. Es geht ja auch um Krankheit und deren Auswirkung auf das Leben, auf die Seele.

Krankheit macht alle gleich. 
Alle Fotos: Tilmann Graner
Immer wieder sondern sich Einzelne ab. Es besteht ein Nebeneinander aus Individuum und Gruppe, schnell wechselt es in ein Miteinander und ein Gegeneinander. Trotzdem versinken sie wieder in der wogenden Masse. Krankheit eint. dann kommen andere Solisten zum Einsatz. Die Gruppe fängt sie wieder auf. gibt halt. Die Gruppe wirkt aber auch als Begrenzung. Hier ist eine differenzierte Aussage zum Thema "Ich,du,wir" gelungen.

Aber es geht auch um Äußerlichkeit und Innerlichkeit und die Frage nach Sein und Schein. Das Hirn kontrolliert alles, sogar das Gefühl und auch den Schmerz, erklärt die Stimme vom Band. Aber wie kann man das Hirn kontrollieren? Doch wohl nur mit dem Hirn. Die Tautologie ist da und das Werk begibt sich an den Anfang.

Fließende, langsame Bewegungen bestimmen die Choreographie von Andrea Schuller. Kontrastiert werden sie durch die Hektik der Solisten. Das bringt die Spannung, die bis zum Schluss trägt. er Lohn ist euphorischer Applaus im ausverkauften Theater unterm Dach.

Vortrex

Samuel Dorn verfolgt ein anderes Konzept. Seine Choreographie beginnt tanzlos. Requisiteurinnen bauen eine Nachtbar auf, ein Transvestit betritt als Chefin die Bühne, in Leopardenjacke. In "Underneath my Concealer" werden alle Insignien der Pop-und Trash-Kultur bunt miteinander vermischt.

Samuel Dorn mischt alle Insignien der Pop-Kultur. 
Das gilt auch für das Personal. Neben der Barchefin sind da das Girlie, der Vamp, der Aufreißer, das Muttersöhnchen, stilecht im Pullunder, und die Disco-Queen. Fast wie im richtigen Leben Das macht diese Choreographie so erfischend und außergewöhnlich. Wann darf im Tanztheater schon einmal gelacht werden? Hier auf jeden Fall reichlich.

Doch man darf nicht an der Oberfläche bleiben. Die Qualitäten dieses Stück liegen in der Tiefe. Fast schon genial ist die Einspielung und der Tanz zu Gloria Gaynours "I can't take my Eyes off you". Zum Disco-Feger werden innerhalb von  5:37 Minuten mindestens zwölf Gechichten vom VErlieben, Umwerben, Erhören, Ablehnen und wieder neu verlieben erzählt. Einfach großartig.

Doch mit dem Auftritt von Ayako Kikuchi kommt der Bruch und es geht in das Innerste. Doch  der zweite Teil will nicht so recht zum ersten passen. Versinnbildlich wird es, als die Disco-Gruppe die Solisitn umringt und niederringe, ja gar niederschießen will. Doch zum Schluss müssen alle Masken fallen und der Tisch wird zum kindlichen Rettungsfloß. Assoziationen mit dem "Le Radeau de la Méduse" von Théodore Géricault bestimmen den letzten Eindruck. Die Wendung von der Party zum Untergang ist vollzogen.

When the Mind looks back

Joshua Lowe gelingt ein beeindruckender Kunstgriff in seiner Choreographie. Er installiert ein kollektives Gedächtnis und gibt dem Publikum die Möglichkeit, das Gesehene zu vertiefen und Details zu betrachten. somit wird das flüchtige Erlebnis zu einem dauerhaften Eindruck.

Eine Tänzerin steht solo auf der kargen Bühne, sie spricht mit einem einzelnen Herren. Dann tritt ein zwiter Mann hinzu. Alle sind sportlich-lässig gekleidet. Befinden wir uns in einem Tanzstudio? Auf jeden Fall werden   Assoziationen zu einer Übungssituation geweckt. 

Mann eins tritt in den Hintergrund. Die Tänzerin und ihr Kollege beginnen ihre Arbeit. Ihre Choreographie setzt sich zusammen aus klassischen und modernen Elementen. Lowe verzichtet hier wohl bewußt auf spektakuläre oder sinnüberfrachtete Bilder. Guilia Damiano und Rosario Vestaglio zeigen hier pure Bewegung und den Tanz in seiner elementaren Schönheit.

Dann tritt das Paar ab und eine Leinwand fährt von der Decke herab. Der Beamer projiziert das eben Gesehene auf das weiße Tuch und zwar aus wechselnden, ungewohnten Perspektiven. Totale werden zu Naheinstellungen, die Detailansichten ergeben neue Einsichten. Mit der Videotechnik öffnet Joshua nicht eine sondern zwei neue Dimensionen. Somit trägt er das Verständnis des Tanztheaters ein großes Stück voran.

Das scheint auch die Tänzer zu berühren. Großartig ist das Schlussbild, als Guilia Damiano und Rosario Vestaglio live genau in der Position auf der Bühne stehen wie sie just zu diesem Zeitpunkt auf die Leinwand geworfen werden. Gegenwart und Gedächtnis vermischen sich, die schranken der Zeit werden überwunden.

Spätestens jetzt ist der Moment, ab dem man hofft, dass der Abend noch lange dauert wird. Man läuft Gefahr, süchtig zu werden nach immer Bildern, nach neuen Anregungen und Denkanstößen, nach immer neuen Wooowww-Momenten. Man kann in das Gesehene versinken, denn diese Tanztheater ist vor allem Futter für die Seele.

Auch die Wahl der Studiobühne als Aufführungsort ist gelungen. die räumliche Begrenzung ermöglicht die Konzentration auf die Tanzenden. 

mOB

Die Choreographie von David Nigro erzählt eine klare Geschichte. Es geht um Herrschaft und Rebellion. Die Geschichte erinnert ein wenig an Macbeth und Geschichte hat ein gutes Ende, zumindest für die meisten. 

Die Choreographie ist bestimmt vom Gegeneinander der vierköpfigen Gruppe gegen einen Einzelnen. Eine Deutung seiner Person als Theaterdirektor oder auch als Familienvater ist zulässig. Deutlich ist nur, dass seine Position ihn nicht zum Besseren wendet.

Ähnlich wie in "Vortrex" wird die Dichotomie durch Bewegung deutlich. Hier die fließende wallende Masse, dort das hektisch agierende Individuum. 

Auch dieser Kammertanzabend macht deutlich, welchen Entwicklungssprung das Tanztheater in Nordhausen unter Ivan Alboresi genommen hat. Auf jeden Fall ist die Vorfreude auf die Ballettgala bei den Schlossfestspielen in Sondershausen groß.





Theater Nordhausen #1: Der Spielplan
Theater Nordhausen #2: Das Stück

Schlossfestspiele # 1:  Sternstunden. Die Thüringer Ballettgala




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen