Das Leben auf der Praça Roosevelt im DT Göttingen
Es mag abgedroschen klingen, aber diese Aufführung geht unter die Haut. Für das Deutsche Theater Göttingen hat Aurelius Śmigiel "Das Leben auf der Praça Roosevelt" auf die Bühne gebraucht und seine Inszenierung zeigt einen Blick auf die Enttäuschten, die aber nicht in Verzweiflung zurückbleiben.Die Praça Roosevelt ist ein Platz in der brasilianischen Wirtschaftsmetropole Sao Paulo. Eine neogotische Kirche ist umstanden von Platanen und Hochhäusern. Gebaut in den 60-er Jahre als ein Versprechen auf eine bessere Zukunft, ist er nun die Heimat von Dealern, Nutten und Ausgegrenzten. Zwischen die Bordelle reihen sich Büros, Spielhallen und kleine Gewerbebetriebe.
Die Autorin Dea Loher hat den Ort während ihres Brasilien-Aufenthalts kennengelernt. Ihre Erfahrungen hat sie 2012 zu einen Stück verarbeitet, Das zeigt sich weder als Tragödie noch als Drama ist, obwohl es von beiden viel hat. Es ist einfach ein hartes Stück Dokumentationstheater.
Ein Bett wie ein Gefängnis.
Alle Fotos: Thomas Aurin/DT Göttingen
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Jósef Halldórson konnte der Verlockung widerstehen. Sein Bühnenbild zeigt eben keinen Platz. Es ist reduziert und aufgeräumt. Es wirkt wie eine Mischung aus Malewitsch und Dali. Die Reduktion löst die Inszenierung ein wenig aus Zeit und Raum und verlagert das Geschehen ins Allgemeingültige.
Die Lebenslinien der Akteure treffen sich auf der Drehbühne. Je nach Szene rückt diese eine Kulisse in den Vordergrund. Zum Auftakt steht ein Bett im Fokus. Seine massiven Eisenstäbe erinnern an ein Gefängnis. Hier dämmert der Streifenpolizist Mirador dem Tod entgegen. Seine Frau besucht ihn nach langer Zeit und erzählt vom gemeinsamen Sohn, der eines gewaltsamen Todes gestorben ist. Dafür macht sie ihren Mann verantwortlich.
In der Retrospektive erzählt er davon, wie zur Katastrophe kam und wie er seinen Sohn schon verloren hatte, lange bevor er starb. Dabei ist die Erzählung durchaus vielschichtig. Alles hängt mit allem zusammen.Immer wieder kreuzen sich die Wege, zieht das eine das andere nach sich.
Die letzte Chance, um aus der Abwärtsspirale zu entkommen, wäre für Miradors Sohn eine Anstellung bei Vito. Doch der wird seine Fabrik schließen, weil er keine Waffen mehr herstellen möchte, weil er beobachtet hat, wie Mirador mit einer Waffe aus seiner Produktion auf seinen Sohn gezielt hat. Damit werden die beiden zu Verbindungspunkte in der Abfolge der Szenen.
Concha und Aurora. |
Dabei lebt die Inszenierung vom einem irritierenden Widerspruch. Trotz der mehr als schwierigen Lage, in der sich die Akteure befinden, tragen sie eine Gelassenheit zur Schau, anfangs befremdlich wird. Paul Wenning in der Rolle des Streifenpolizisten Mirador trägt seinen Text so lakonisch vor, dass es fast schon ein Provokation ist. Wo andere große Emotionen präsentieren würden, beeindruckt er mit Souveränität dem Schicksal gegenüber. Das lässt er in ausreichenden Kunstpausen wirken.
Dazwischen schimmert immer wieder die Überforderung eines Manns hindurch, der seine Welt nicht ganz begreifen kann oder will. Denn diese Welt funktioniert nicht nach seinen Regeln und damit kann sich Mirador nicht arrangieren. Damit ist Wenning eine umfassende Charakterisierung geglückt.
Auch Vitos Verzweiflung ist anfangs eine stille. Erst in der Sportbar-Szene dreht Christoph Türkay in dieser Rolle auf. Die rasanten Wechsel zwischen zu Tode betrübt und rasende Wut gelingen ihm wunderbar. Umso schöner ist es, als Judith Srößenreuter ihm mit dem Wort "Bin-go-hal-le" erdet und aus dem Elfenbeinturm holt. Nun blitz ein helles Licht der Hoffnung auf. Man muss einfach weitermachen mit dem Mut der Verzweifelten.
Diese Lakonie geht bis an die Grenze des Erträglichen, als Gerd Zinck in der Rolle des Transvestiten Aurora davon erzählt, wie es einst als 12-jähriger Knabe vom Nachbarn vergewaltigt wurde. Wie sein Versuch, diese Tat zum finanziellen Vorteil durch die Cleverness des Täters zu nichte gemacht wird. Das ist schon starker Tobak und Zinck bringt ihn emotionslos aus die Bühne. Dennoch schafft er es, einen Rest an Lebensfreude zu bewahren. Damit ist diese Figur ein kompletter Mensch.
Die stärkste Leistung hinterlässt aber Andrea Strube in der Rolle der Concha, Als Vitos Sekretärin von der Arbeitslosigkeit bedroht und vom Krebs gezeichnet, ist sie immer wieder bemüht, andere zu trösten und ihnen zu einem kleinen Glück zu verhelfen. Strube macht dies ohne große Gesten mit einer Selbstverständlichkeit, die berührt.
Mirador sucht seinen Sohn.
Alle Fotos: Th. Aurin
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Deswegen erzeugt Roman Majewski wohl auch das größte Schweigen als der Mann mit dem Koffer. Dieser Koffer, ein Anzug und ein Handy sind sein ganzer Besitz und die letzten Insignien seiner einst bürgerlichen Existenz. Hektisch strampelnd wie ein Ertrinkender versucht er zurückzufinden in die Berufswelt. Doch das Publikum ahnt, dass ihm das nicht gelingen wird. Er kann sein Unglück nur abmildern, indem er einen anderen Unglücklichen die Schuhe klaut. Der Rest ist Schweigen im Parkett.
Gewalt und Tod kommen nicht auf die Bühne. Diese finden nur in den Texten statt. Somit erlebt das Publikum nicht nur die Verarbeitung dieser Ereignisse. Nein, sie schleichen sich so auch in die Köpfe der Zuhörerinnen und Zuhörer. Śmigiels Inszenierung ist Kopftheater. Damit ist das Publikum durchaus gefordert. Es schließt die Lücken zwischen den Einzelszenen.
Nicht eingehaltene Zukunftsversprechen, sozialer Abstieg und Gewalt sind unbequeme Themen. Dea Loher hat sie in "Das Leben auf der Praça Roosevelt" thematisiert. Aurelius Śmigiel hat eine Interpretation vorgelegt, die deswegen wirkt, weil sie nicht auf Emotion setzt sondern auf Reduktion. Damit entbindet er die Handlungen und Szenen vom Zeit und Ort und gibt eine analytische Ebene. Diese Kopfarbeit macht sie umso beeindruckender.
Material #1: DT Göttingen - Der Spielplan
Material #2: Die Praça Roosevelt - Das Stück
Material #3: Dea Loher - Die Biografie
Material #5: Das Iduna-Zentrum - Die Praça Roosevelt von Göttingen
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