Eine Chance für Entdecker: Claire Keegans Werk in Neuauflage
Selten erhält ein Buch von mir die Auszeichnung, in einem Stück durchgelesen zu werden. Claire Keegan hat sich dieses Prädikat mit „Das dritte Licht“ verdient und das völlig zu Recht und der Steidl bekommt von mir ein Lob dafür, dieses Buch neu aufgelegt zu haben.
Schon bei der Erstveröffentlichung unter dem Originaltitel „Foster“ überschlug sich 2009 die englischsprachige Presse vor Begeisterung. The Times zählt das Werk zu den 50 wichtigsten Romanen des 21. Jahrhunderts. Zusätzlich gab es 2009 noch den Davy Byrnes Irish Writing Award.
Im Jahr 2013 erschien die deutsche Erstauflage, nun 10 Jahre später immerhin schon die fünfte Auflage in einer Neuübersetzung. Diese war notwendig geworden, nachdem die Autorin 2022 Änderungen vorgenommen. Es eröffnet aber die Gelegenheit, eins der wichtigsten Werke der irischen Gegenwartsliteratur zu entdecken oder wieder zu entdecken.
Aber Zahlen geben den Zauber dieses Buches nur unzureichend wieder. Hier stimmt einfach alles. In „Das dritte Licht“ treffen erzählerisches Talent, eigenständiger Ausdruck und eine anrührende Geschichte aufeinander.
Am Ende bleibt die Möglichkeit eines Happy Ends und ein gutes Gefühl. Das Wohlbefinden der Ich-Erzählerin hat sich auf die Leserschaft übertragen. Mehr geht wirklich nicht. Mit dieser Erzählung und ihrer Zauberkraft hat Claire Keegan den Olymp der Gegenwartsliteratur erklommen.
Dabei sind die Bedingungen denkbar schlecht. Die Startpunkte sind Armut und emotionale Verwahrlosung. Erzählt wird die Geschichte eines Mädchens, das einen Sommer lang zum entfernten Verwandten abgeschoben wird, weil die Mutter ein weiteres Kind erwartet.
Das wievielte Kind? Das erfahren die Leser nicht, weil es zweitrangig ist. Denn angesichts der Kinderschar ist die Familie überlastet, das ist entscheidend. Das Geld ist knapp und das bisschen, was da ist, verliert der Vater beim Glücksspiel.Die finanzielle Verarmung geht einher mit einer emotionalen Verwahrlosung. Die prekären Verhältnisse lassen keine tiefgehende Bindung zwischen Eltern und Kinder zu.
Größer könnte der Kontrast zur Gastfamilie Kinsella nicht sein. Hier kümmert man sich umeinander und verdeutlicht die Zuneigung in Worten und Taten. Diese Kontraste verdeutlicht Keegan mit kalten Bildern, Erinnerungen an Niederlagen einerseits und Schilderungen voller Wärme und Sonne auf der anderen Seite.
Dass das Versprechen, keine Geheimnisse voreinander zu haben, nicht so ganz der Wahrheit entspricht, überrascht nicht. Sonst wäre die Erzählung schon nach 20 Seiten zu Ende, aber das ist sie zum Glück nicht.
Das Mädchen hat sicherlich einen Namen. Den erfahren die Leser aber nicht. Wie alt ist sie? Welche Farbe haben ihre Haare? Ist sie schlank oder füllig? Hat sie noch Milchzähne oder sind diese bereits ausgefallen? Aber sie geht schon zur Schule.
Die persönlichsten Dinge erfahren die Leser nicht, weil die Protagonistin beispielhaft für tausende junge Frauen aus ärmlichen Verhältnissen steht. Überhaupt geht Keegan recht sparsam mit Eigennamen um. Erst im Laufe der Erzählung beschenkt der Ziehvater die Protagonistin mit einem Kosenamen. Er handelt wie einst Gott in der Schöpfungsgeschichte. Erst durch die Benennung wird sie zur eigenständigen Person.
Auch die Verortung in der Zeit ist schwierig. Die Marken „Eintritt in die EWG“ und „Hungerstreik“ lassen auf die frühen 1980eer Jahre schließen. Auch dies ist zweitrangig, denn Claire Keegan hat ein Werk geschaffen, dass der Zeit widersteht. Das Thema ist nicht gebunden an Raum und Zeit gebunden. Es verhandelt Dinge, die seit Menschengedenken auf der Tagesordnung stehen: Der Umgang miteinander und das Finden einer emotionalen Heimat.
All diese Abstrakta kontert die Autorin mit einer sehr persönlichen Perspektive. Das macht den Zauber dieser Erzählung aus. Wie ein Wunder bleibt sie dennoch sachlich in der Sprache. Sie verzichtet auf Pathos und Schwülstigkeit. Es ist kein Wort zu viel und keins zu wenig.
Damit legt Keegan dieses Mädchen dem Publikum so ans Herz. Es ist eine Emotionalität, die auf Zuckerguss verzichten kann, weil sie auf dem Menschenrecht "Zuneigung" basiert, Die einzigen Allegorie, die sich die Autorin erlaubt, sind der Brunnen, der wohl nie versiegt, und eben das dritte Licht am Strand las Zeichen der Vollkommenheit. Das macht die Entwicklung der Protagonisten für die Leser so nachvollziehbar.
Es sind vor allem kurze und knappe Schilderungen, meist nur Andeutungen. Das lässt den Lesern den Raum, sich selbst in die Geschehnisse, in die Landschaft hinzudenken. Damit ist das offene Ende nur konsequent. Jeder darf sich selbst denken, wen die Ich-Erzählerin am Ende mit dem Ehrentitel „Daddy“ belohnt.
"Das Dritte Licht" bei Steidl.
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