Mit der gefeierten Inszenierung von Dea Lohers "Am Schwarzen See" in der Spielzeit 2012/13 hat Wojtek Klemm die Messlatte für künftige Gastspiele am DT sehr hoch gelegt. Mit der dazugehörigen Erwartungshaltung ging das Göttinger Publikum an den "Fall der Götter". Nach zwei Stunden Machtergreifung mit 180 beats per minute fiel das Votum des Publikums wohlwollend positiv aus.
Grundlage des Dramas ist Viscontis Film "Die Verdammten" aus dem Jahre 1969. Er erzählt von den Verquickungen einer deutschen Industriellenfamilie mit dem aufstrebenden Nationalsozialisten. Am Anfang steht die Geburtstagsfeier des Patriachen Joachim von Essenbeck, auf der er die eigene Nachfolge regelt. An Ende stehen Mord und Untergang, dazwischen macht die Meldung vom Brand des Reichstags deutlich, dass die Nationalsozialisten nicht gewillt sind, sich aufhalten zu lassen. Johan Simons und Tom Blokdijk lieferten die Bühnenadaption.
Die Festgesellschaft versammelt sich zum letzten Abendmahl. Fotos: DT Göttingen |
"Das höchste Gut des Menschen ist die Pflicht" ist als Glaubensbekenntnis des preußischen Wilhelminismus allgegenwärtig. Dieser preußische Geist gehört bereits der Vergangenheit an. Es sind neue Zeiten angebrochen.
Zentrale Objekte sind Tische, Tische immer wieder Tische. Erst wird sich die Festgesellschaft zum letzten Abendmahl niederlassen, der sitz mit an der Tafel. Da Vincis Gemälde gehört zum kollektiven Gedächtnis. Als die Fassade der Familie zerbröselt, kommt alles auf den Tisch, wird auf den Tisch gehauen, es wird auf dem Tisch getanzt, letztendlich wird reiner Tisch gemacht, werden die Tische zur Schlachtbank. Eine schöne Assoziationskette, die sich durch die Göttinger Aufführung zieht.
Bestimmendes Mittel des Films ist der Schnitt, die klare Trennung der Szenen und der Akteure voneinander oder die die Überblendung, der Übergang. Aber wie bringt man das auf die Bühne? Der Chor der Nornen, streng in schwarz gekleidet, mit einem Hauch SM, liest die Regieanweisungen, gibt den Überblick, trägt, das vor, was nicht auf der Bühne zu sehen ist. Was nicht zu sehen ist, den Rest, der zwischen den Bildern liegt, dies muss der Kopf des Zuschauers ergänzen, muss also mitdenken. Doch je mehr sich die Ereignisse zuspitzen, desto seltener muss das Publikum diese Zuarbeit leisten. "Der Fall der Götter" wird im Verlauf des Stücks nicht nur rasanter, sondern auch direkter in Sprache und Bild.
Meinolf Steiner tanzt als Martin von Essbeck die Apokalypse. Foto: DT Göttinen |
Patriarch Joachim von Essenbeck ist vom alten Schlag, ganz im Sinne des Hegelschen Idealismus ist er vom Weltgeist beseelt. Rückwärts gewandt entgleitet ihm die Kontrolle zusehends. Er versteht die neue Zeit nicht und ist somit das erste Opfer. Dies versteht Meinolf Steiner klar herauszuarbeiten.
Martin von Essenbeck ist der Gegenpol: wertfrei, orientierungslos und spaßbetont, mit ödipalen Komplexen belastet und pädophil, wird er erst zum Instrument der Intrigen am Hofe der von Essenbeck, bis er selbst zum Täter wird. Der Gipfel ist die Vergewaltigung der eigenen Mutter. Dies ist sicherlich eine Szene, die sich ins Gedächtnis brennt und Steiner stellt die Entwicklung vom Getriebenen zum Treiben folgerichtig dar. Er ist ein Prometheus der widerwärtigen Art.
Die dritte Figur im Repertoire ist Friedrich Bruckmann, ein Ehrgeizling, Emporkömmling, Intrigant der die Gunst der Stunde nutzen will und nutzen wird, um es ganz auf den Gipfel zu schaffen und anschließend im tiefen Fall in der Hölle zu landen. La caduta degli dei, eben der Fall der Götter, tragisch im Sinne der Griechen. Bruckmann bleibt als Figur ein wenig blass. Er ist kein Akteur und seine Motivation ist rätselhaft. Doch Steiner Doppelauftritt als Mörder Bruckmann und als Opfer Joachim von Essenbeck zugleich, als Schütze und als Getroffener zugleich, tonlos, wortkarg, im Stummfilm-Modus, mit ausgefeilter Mimik, mit ausgefeilter Körpersprache, das ist beeindruckend und ganz einfach großes Theater.
Für Andreas Jeßling gibt es zwei ebenso widersprüchliche Rollen. Da ist Konstantin von Essenbeck, jüngerer Sohn des Patriarchen, der sich zurückgesetzt fühlt hinter seinen Bruder, der im Weltkrieg starb und als Held verehrt wird. Konstantin will sich mit allen Mitteln besorgen, was ihm zusteht. Die Kränkung steht ih ins Gesicht geschrieben, der krankhafte Ehrgeiz quillt ihm aus allen Knopflöchern. Genau das vermittelt Jeßling und dies macht ihm ihm zu einem starken Pol im Spiel. Auf der anderen Seite ist er Herbert Thalmann, der liberale Neffe des Seniorchefs, der erste Verlierer, gehetzt von der erste bis zur letzten Minute. Dessen Ratlosigkeit, dessen Hilflosigkeit kann Andreas Jeßling vermitteln.
Ödipus Martin von Essenbeck opfert seine Mutter den neuen Göttern. Foto: DT Göttingen |
Eins fällt gleich ins Ohr, der hämmernde Klang des Industrial-Sounds. Es scheint, als hätten Gabi Delgado-Lopéz und Robert Görl Pate gestanden bei Micha Kaplan. Die 180 beats per minute unterstreichen die Atemlosigkeit der Inszenierung, sind der passende Soundtrack zur Höllenfahrt. Er verdichtet die Atmosphäre der Atemlosigkeit bis an die Schmerzgrenze. Der Klang im Stile der legendären DAF ergänzen sich kongenial mit dem gestrengen und zackigen Outfit der Gouvernanten, der Dienerinnen mit SM-Appeal. Es werden die operettenhaften Elemente der Vorlage in einem zweiten Schritt entfernt.
Die Schwäche liegt in einer anderen Nähe zum Film. Das Drama bleibt den sexualtherapeutischen Erklärungsmustern Viscontis von Unterdrückung und Sublimation verhaftet. Aber das Wechselspiel von Sex und Macht ist eben ein vielschichtiges. Und die Tragödie bleibt der Historie verhaftet. Der zarte Versuch, mit Texten der Neuen Deutschen Welle, einen Bogen in die Gegenwart zu schlagen, versickert ungehört.
Am Ende der zwei Stunden ist das Publikum zufrieden. Ich hoffe, es ist aus theatralischen Gründen zufrieden.
Der Spielplan
Das Stück
Am Schwarzen See
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