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Montag, 4. November 2024

Eine Inszenierung auf Tratsch-Niveau

 Im DT Göttingen bleibt "Der junge Mann" an der Oberfläche

Zu viel Narrativ, zu wenig Analyse. Die Inszenierung von Jette Büshel leidet an Oberflächlichkeit. Die Figuren werden nicht ausgelotet. Deswegen war die Premiere von "Der junge Mann" am 3. November zwar unterhaltsam, ging aber nicht unter die Haut. Das ist schade für das Ein-Personen-Stück auf der Studio-Bühne.

In der autofiktionalen Erzählung "Der junge Mann" berichtet Annie Ernaux von ihrer zurückliegenden Beziehung zu einem 30 Jahre jüngeren Mann. Das Buch liegt seit dem Frühjahr in deutscher Übersetzung vor und postwenden haben Jette Büshel und Michael Letmathe ein Stück für das DT Göttingen draus gemacht.

Strube bereit zur Berichterstattung.
Alle Fotos: Lenja Kempf/DT GÖ
Der erste Ansatz verpufft gleich. Seit der Ehe von Brigitte Trogneux und Emmanuel Macron haben Beziehungen zwischen älteren Frauen und jungen Männer so gar nix skandalöses mehr an sich. Auch das Duo Klum-Kaulitz hat null Skandal-Faktor.

Das Werk von Annie Ernaux spielt Mitte bis Ende der 90-er Jahre. Da war die Aufregung über solch eine Beziehung noch eine andere. Soziologisch gesehen damit ist es eher ein Historienstück und damit wäre ein Psychogramm das Gebot der Stunde gewesen. Doch die Motivation der Beteiligten an dem einst außergewöhnlichen Treiben und die Konsequenzen schimmern in  der Textflut nur gelegentlich durch.

Auf Augenhöhe

Das Publikum und die Schauspielerin begegnen sich auf Augenhöhe in der Bistro-Atmosphäre des DT-Kellers. Schon der Start ist auf Plauderei angelegt. Andrea Strube trägt Business-Dress und mit dem Textbuch vor sich, wirkt sie so, als wollte sie mal so eben zwischen zwei Crémants einen Geschäftsbericht abgeben.

Sie berichtet aus der Retrospektive, dennoch erfährt das Publikum nicht, wie das erste Treffen zustande kam und von wem die Initiative ausging für die Affäre. Das Wort passt schon, denn es gibt wohl immer noch einen Ehemann und anfangs eine Lebensgefährtin.

Es ist ein wenig die Rede von verliebten Spielchen im hohen Alter und jedem Menge Sex. Soll der Aufreger darin bestehen, dass auch Menschen über 50 noch Geschlechtsverkehr haben? Dreiviertel des Publikums wissen das ohnehin, denn sie haben diese Altersgrenze längst hinter sich gelassen. Das andere Viertel quittiert diese Tatsache mehrfach mit einem Kichern auf Backfisch-Niveau.

Liegt es an den Schmetterlingen im Bauch? Auf jeden Fall ist Andrea Strube als Ich-Erzählerin ständig unterwegs zwischen Bühne und Parkett. Die Grenze zwischen Akteurin und Zuschauern aufzuheben ist ein probates Mittel, aber es wirkt besser, wenn es dosiert eingesetzt wird. Es erschließt sich nicht immer, warum die Schauspielerin nun jetzt schon wieder ihren Platz verlässt. Was macht sie am Tresen. Ahhh, sie holt sich eine Limonade. Die Strandszene wird dreifach durchgespielt und damit künstlich in Länge gezogen, ohne neue Perspektiven zu liefern.

Was möchte die Regisseurin dem Publikum damit sagen? Sex mit 54 Jahren sorgt für ADHS bei Seniorinnen? Da hilft auch der große Schluck aus der Rotweinflasche nicht. Die Autorin teilt durchaus intime Momente mit der Leserschaft und dem Publikum. Doch die Inszenierung kennt keine stillen Augenblicke. Da helfen auch die wenigen Kunstpausen nicht.

Die Geschichte der älteren Frau, die mit einem Mann ins Bett geht, der ihr Sohn sein könnte, ist nach 30 Minuten auserzählt. Spätestens jetzt müsste Analyse kommen und die tieferliegenden Schichten frei gelgelegt werden. Es geht immerhin um Traumata, Vergangenheitsbewältigung, Abhängigkeiten und  Machtgefüge und das was, man heute gern Identität nennt. In diesem Bereich wirkt die Selfmade-Frau als Anachronismus zu den Konzepten der Jetztzeit, die sklavisch an Herkunft, Geschlecht und Hautfarbe hängen

Machtverhältnisse geändert

Nicht der Tratsch ist das Sensationelle am "Jungen Mann", sondern die Tatsache, dass Annie Ernaux offen zugibt, ihn, den Namenlosen, benutzt zu haben. Sie dreht die Machtverhältnisse um. "Alter Mann benutzt junge Frau" kennt man zu Genüge. Hier läuft es eben anders herum. Der Kern der Erzählung liegt im offenen Umgang der Autorin mit ihrem Zweckverhältnis.

Kühle Berechnung statt Altersromantik ist das Thematik von Ernaux und nicht die Schmetterlinge im Bauch. Den Anderen zum Werkzeug der Eigentherapie zu machen, dies ist das Innovative an diesem Bericht aus den 90-er Jahre. Das Publikum muss sich dies aber selbst erarbeiten, wenn es der Tratsch-Ebene entfliehen will.

Da ist nix mit Augenhöhe und nix mit "über sich keine Herren und unter sich keine Sklaven sehen". Ganz im Gegenteil. An seiner ärmlichen Herkunft zelebriert sie noch einmal ihren Aufstieg aus dem Proletariat in die Belle Etage des Literaturbetriebs. Sie erfreut sich an seinen mangelhaften Tischmanieren, um sich die eigene Noblesse zu verdeutlichen. Mit den Ausflug in sein studentisches Milieu verarbeitet sie die Defizite ihrer Jugend, doch seinen Aufstieg aus den Banlieues befördert sie nicht. Es gehört nicht zum Plan der Ich-Erzählerin Klassenschranken zu überwinden, immerhin das wird klar. Es könnte aber deutlicher herausgearbeitet werden, dass solch ein Verhalten eben nicht mehr männliches Privileg ist.

Warum steht Strube am Tresen? Will sie
Getränke holen? 
Alle Fotos: Lenja Kempf/DT GÖ
Die Trennlinie in diesem ungleichen Paar ist nicht das Alter. Es ist der soziale Status. Kommt der Bruch schleichend? Hat der junge Mann seine Schuldigkeit getan und kann gehen? Was motiviert ihn zu diesem Verhältnis, das zumindest einmal als inzestuös bezeichnet wird? Die Dramaturgie gibt keine Antworten und wer es wissen will, muss eben in die Vorlage schauen.

Auch das Licht schafft es nicht, Akzente zu setzen. Der gesamte Raum ist auf Bistro-Beleuchtung geschaltet. Das gibt die Möglichkeit, die Reaktionen des Gegenübers und der Mitseherin zu registrieren. Das ist durchaus besichtigt. denn soziale Kontrolle und die Reaktionen der Gemeinschaft auf solch ein ungleiches Paar sind Bestandteil des Werks.;

Schnelle Bewegungen, raumgreifende Gesten, eine flotte Mimik und verstohlene Blicke, die Mitwisserschaft herstellen wollen. Andrea Strube gibt der Inszenierung die passende Figur. Doch was fehlt, ist das Spiel mit der Stimme, die leisen Töne. Deswegen fällt es schwer Empathie herzustellen. Selbst die Erzählung über die illegale Abtreibung in den 60-er Jahren wirkt wie ein Geschäftsbericht. Trotz aller Betriebsamkeit fehlt der Inszenierung damit die Lebendigkeit.  Wie heißt es so schön am Anfang des Stücks? Mit den Erwartungen ist es so`ne Sache.



   

 

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