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Sonntag, 3. November 2024

Loh-Orchester nutzt die zweite Chance

 Ballett Compagnie macht einen Riesenschritt

Mit "Friedrich" und "Le Sacre du Printemps" machen Ivan Alboresi und sein Ensemble einen weiteren großen Schritt in der Entwicklung. Der Doppelabend zeigt nicht nur den State of Art im Tanztheater, sondern gibt auch die Richtung für die Zukunft vor. Das Loh-Orchester nutzt die Zweitaufführung für die Wiedergutmachung.

Nach der Premiere sah sich das Orchester unter der Leitung von Julian Gaudiano harscher Kritik ausgesetzt. TA-Rezensent Wolfgang Hirsch schrieb in seiner Besprechung sogar von unprofessionellem Verhalten und brachte damit Intendant Daniel Klajner auf die Zinne und das Orchester in Erklärungsnöte. 

Noch ist das Individuum oben. 
Alle Fotos: Ida Zenna/TNLos

Die Kritik hat geholfen. Bei der Zweitaufführung zeigte sich das Orchester von seiner glänzenden Seite. Der Klang war strukturiert und filigran. Jede Gruppe war deutlich zu erkennen und gerade die zuvor abgewatschten Streicher konnten überzeugten. Als Beleg diente das Pizzicato im 2. Satz von Beethovens 4. Sinfonie. 

Nur bei der Lautstärke gibt es noch Optimierungspotential. 3 dB weniger wären mehr, das gilt vor allem für den zweiten Teil des Abends, als sich die Paravents öffnen und sich das Orchester mit voller Kraft in den Vordergrund drängt. 

Hauptsache Ballett

Mit seiner Choreographie "Friedrich" macht Ivan Alboresi das, was er am besten kann, nämlich Grenzen verschieben. Dabei ist die Ausgangssituation nicht einfach. Zwar liegen Ludwig van Beethoven (1770) und Caspar David Friedrich (1774) nur wenige Jahre auseinander. Aber sind sie deswegen Zeitgenossen? Der Komponist gilt als Vollender der Klassik, der Maler als Wegbereiter der Romantik. Der Mann aus Bonn als Hohepriester klanglicher Urgewalt, der Mann aus Greifswald als schönheitstrunken entrückt.

Alboresi und Gaudiano lösen den Widerspruch, indem sie auf Beethovens ein wenig vergessene 4. Sinfonie setzen. Zu Beethovens Lebzeiten war es sein populärstes Werk wegen seiner gelegentlichen romantischen Anklänge. Betonung liegt auf gelegentlich.

Das war es dann auch schon mit Romantik. Die Bühne und die Kostüme von Yoko Seyama verzichten auf Rüsche und Tütü. Die Kleidung wirkt Arbeitskleidung in karstweiß, die gelegentlich mit schwarzen Accessoires ergänzt wird. Das Bühnenbild ist einfach. Nur eine Projektionsfläche grenzt die Tanzfläche gegen die Hinterbühne ab.

Dazu kommt das Licht, das mehr verbirgt als zeigt. So korrespondiert das optische Konzept durchaus mit den häufig nebulösen Bildern, die hier vorgestellt werden. 

Starre Bewegung

Temporäre Bewegung zur Musik ist das Mittel des Balletts. Malerei ist auf alle Zeiten starr. Wie bringt man dies in Einklang? Alboresi wagt die Melange zwischen Erzählballett und Ausdruckstanz. Es ist wie ein Besuch im Atelier, ein getanztes work in progress. Erst darf das Publikum an der möglichen Gefühlswelt des Malers teilhaben, dann tauchen die Figuren auf, die als lebende Bilder den Abschluss jedes Satzes bilden werden. Das Konzept ist einleuchtend und es entwickelt sich Vorfreude auf das fertige Bild. 

Die Choreographie ist modern dance durch und durch. Der Verzicht auf klassisches Ballett, die Absenz von Spitze und Arabesque, transportiert die Choreographie in die Gegenwart. Friedrich gilt mit der Entwicklung der Perspektive als Entdecker des bürgerlichen Individuums in der Malerei des 19. Jahrhunderts und Alboresi und sein Publikum begeben sich auf diese Spur. Bisher lag die Stärke des Nordhäuser Ballettdirektors im organischen Ganzen, im wogenden Ensemble, das ein Gesamtwerk abgibt. Nun lässt er lauter Einzeltänzer auftreten, lauter Individuen, die erst in der Summe, also kurz vor dem Ende des jeweiligen Satzes ein Gesamtbild abgeben.

Die raumgreifenden Bewegungen bisheriger Inszenierungen werden eingedampft und die Gruppenszenen auf ein Minimum gebracht. Der Pas de deux im zweiten Satz ist Bewegung gewordene Innerlichkeit. Damit erweitert Alboresi seine Sprache und das Publikum profitiert davon. Fast zwangsläufig  muss die Uraufführung mit dem Wanderer über dem Nebelmeer, dem Sinnbild der schönheitstrunkenen Innerlichkeit deutscher Romantik enden. Das dynamische Solo von Thomas Tardieu bewahrt das Publikum zum Glück vor zu viel Sentimentalität.

Schluss mit Romantik

Der Expressionismus beendete die Phase der künstlichen Innigkeit in Malerei und Musik und damit entspricht Strawinskys "Le Sacre du Printemps" als zweite Choreographie an diesem Doppelabend einer gewissen Logik. In seiner Erzählweise kehrt der Ballettdirektor wieder zu seinen gewohnten Mitteln und Themen zurück. Das Ensemble als wogender Organismus auf der Bühne im Streit mit der Solistin. Denn das Thema ist das Individuum, das Kollektiv und der Konflikt.

Ungeschliffen und archaisch, Strawinsky verstand seine Musik schon als Affront gegen das Artifizielle, das Gekünstelte des Fin de Siècle und der Jahrhundertwende. Dennoch ist die Alboresis Choreographie ein Kommentar zur Jetztzeit. Die Digitalmoderne ist genauso gekünstelt wie das verlängerte 19. Jahrhundert. Es heißt bloß nicht artifiziell sondern virtuell. Egal auf welchem Ende des Hufeisens man sich befindet, Mythen und gefühlte Wahrheiten haben die Realität längst verdrängt.

Dazu steht das die Eigenständigkeit des Individuums immer stärker unter Druck. Den ersten Ansatz verdeutlicht das Bühnenbild von Yoko Seyama. Die Reihen farbiger LED-Leuchten erinnern an die Requisiten-Computer der katastrophenfilme aus den 80-er und 90-er Jahren. These Nummer gewinnt im Opfer menschliche Gestalt.

Es ist eine Ringerzählung. Sie beginnt mit dem Auftauchen des mystischen Lichts und sie endet mit dem Verschwinden diese Leuchtkörpers. Dazwischen liegen viele lebende Bilder, die jene Konflikte zwischen dem Archaischen und dem Artifiziellen, zwischen Individuum und Kollektiv mit den Mitteln des Modern Dance augenscheinlich machen. 

Die Reduktion des Balletts lassen diese Trennlinien deutlich werden, weil es sich auf das Wesentliche konzentriert. Die Spannung zwischen dem Ursprünglichen und dem Gekünstelten setzt Alboresi in den Massenszenen immer wieder gefällige und einleuchtend um. Damit bietet der Doppelabend  "Friedrich" und "Le Sacre du Printemps" nicht nur einen ästhetischen Kosmos zum Thema Individuum, sondern er zeigt auch, dass Nordhausens Ballettdirektor und  seine Compagnie wieder auf dem Weg zu neuen Formen und Ausdrucksweisen sind. Man darfg gespannt bleiben, wo die Reise noch hinführen wird.

Die Termine

Die nächsten Aufführungen im Theater Nordhausen finden am 15. und 24 November und am 1. Dezember jeweils um 19.30 Uhr statt.  Ab Januar gibt das Ballett mehrere Gastspiel in Rudolstadt, dann aber ohne Orchester. 





  

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