TfN-MusicalCompany wagt sich an "Fast normal"
Hingehen, anschauen und zuhören und zwar unbedingt. Dieses Stück ist hinreißend, atemberaubend, rührt das Herz und geht an die Nieren. Craig Simmons hat "Fast normal" von Tom Kitt und Brian Yorkey als rasante Achterbahnfahrt durch die Höhen und Tiefen und durch die manischen und depressiven Phasen einer bipolaren Störung inszeniert. Das Kammermusical verzichtet auf eine große Besetzung und große Szenen, sondern überzeugt mit Charakterstudien und eindringlichen Szenen. Am Schluss bleibt die Katastrophe aus, ein Happy End gibt es auch nicht, aber die Hoffnung bleibt.
Alle zusammen singen das Loblied auf die Psychopharmaka. Fotos: TfN/Hartmann |
Caroline Zins überzeugt als Natalie Goodman, die auf die Lieblosigkeit der Mutter und die Hilflosigkeit des Vaters erst Überehrgeiz und anschließend mit Trotz reagiert. Der starke Pol in dieser Inszenierung ist Jonas Hein als Gabe Goodman, als das Phantom des Musicals. Denn Gabe Goodman ist tot. Er starb im Alter von acht Monaten und nur in der Wahnwelt seiner Mutter wurde er zum Teenager.
Das Baby wurde nicht Opfer eines Unfall, es verstarb nicht wegen elterlichen Fehlverhaltens. Es wurde Opfer einer ärztlichen Fehldiagnose, eines sogenannte Kunstfehler.
Wenn ein Kind vor den Eltern stirbt, dann ist nicht nur eine göttliche Ordnung gestört, dann wird auch das Leben der Überlebenden in Unordnung gebracht. Aber nicht die Schuldfrage belastet das Leben der Familie Goodman, sondern die Unfähigkeit mit dem Verlust umzugehen.
Gabe ist das allgegenwärtige Phantom des Musicals. |
Und dann ist da die Angst vor den Entscheidungen. So weiter machen geht, das geht nicht. Alle Behandlungen haben nicht das gewünschte Ergebnis gebracht. Das Gespenst der Vergangenheit ist immer noch da. Aber es ist auch die Frag erlaubt: Was ist normal? Wer setzt die Norm? Wer trägt die Erwartungen an die Protagonisten und ans Publikum heran?
Mit Elektokrampftherapie als ultima ratio droht Diana das Schicksal von Randall Patrick McMurphy in "Einer flog über das Kuckucksnest". Doch die Kontrolle über ihr Leben hat sie schon vor langer Zeit verloren. Aber an welchem Punkt eigentlich? All dies liegt im Spiel von Caroline Kiesewetter.
Je länger das Musical dauert, desto mehr wird Natalie zum Gegenpol. Schuldlos als Spätgeborene leidet sie mehr als alle anderen unter der Krankheit der Mutter. Sie hindert den Teenager daran, eine Beziehung zu Gleichaltrigen aufzubauen. Die Aufmerksamkeit der Eltern versucht sie mit schulischen Höchstleistungen zu erzwingen, doch vergebens. Das Leben der Familie Goodman dreht sich um die Mutter und den toten Bruder. Da ist nicht genug Platz und keine Aufmerksamkeit mehr fuer einen pubertierenden Teenager. Da ist niemand der sie an die Hand nimmt bei ihrer Suche nach ihrem Weg in das Leben. Da ist die g;ttliche Ordnun wieder ges;rt und Dan und Diana scheitern als Eltern.
Natalie antwortet mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung. Diesen Hilflosigkeit, aber auch den Trotz und Zorn zeigt Carolin Zins vollständig und in beeindruckender Weise.
Auch diese Therapie zeigt nicht die gewünschte Wirkung. |
Unterstütz wird die atemlose Suche nach Ausweg und Analyse durch das großartige Bühnenbild von Steffen Lebjedzinkski. Die Drehbühne, ständig in Bewegung und in Form einer verdrehten Rampe, erlaubt zum einen den schnellen Wechsel der Szenen und der Ort. Sie ist mal Haus, Praxis oder Schule, mal Hintergrund und mal Podium für das große Solo. Aber sie ist auch eins: Das Hamsterrad. Je mehr sich die Akteure abstrampeln, desto schneller scheint es sich Richtung Abgrund zu drehen. Erst als die Inszenierung nach der Pause in ruhigeres Fahrwasser kommt, dreht sich auch dieses Hamsterrad immer langsamer. So lange, bis Diana Goodman selbst in sich ruht. Der Flug überdas Kuckucksnest bleibt ihr erspart, aber Besserung gibt es erst, als sie die Verbindungen in die Vergangenheit kappt. Damit ist sie ihrem Gatten zum Schluss den entscheidenden Schritt voraus. Dieser verliert den Vater-Sohn-Konflikt nicht nur, weil sein Widerpart inexistent ist. Zum Schluss ist es Dan, der nicht über den Schatten der Vergangenheit springen kann. Mit dieser Hilflosigkeit bietet Alexander Prosek auch Identifikationsmöglichkeiten. Damit bindet er das Publikum an das Stück.
Neben den Sängern und dem Bühnenbild ist das Licht der achte Akteure. Es taucht einzelne Szenen in optische Watte, es setzt Solisten in Szene, es erhellt, aber es verdunkelt auch. Vieles bleibt unsichtbar. Während der Vordergrund in gleißendes Licht getaucht ist, verschwindet das Bühnenhaus im Dunkel, Licht wird zu purer Symbolik. Damit eröffnet Simmons in seiner Inszenierung eine fünfte Dimension.
Als Schlusschor bleibt eine Referenz an die Mutter als Rock-Musical. Es klingt verdächtig nach "Over at the Frankenstein Place" aus der Rocky Horror Picture Show. Tröstlich zu wissen, das selbst dort immer ein Licht brennt.
Sicherlich kann man vom Besuch eines Musicals genauso wenig therapiert werden, wie man vom Lesen einer Speisekarte satt wird. aber die Empfehlung lautet trotzdem: Hingehen, anschauen und zuhören und zwar unbedingt. Und dann eine eigene Meinung bilden.
Das Theater für Niedersachsen
Das Musical in der Selbstdarstellung
Die Galerie
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