Montag, 29. Januar 2024

Theater an der Schmerzgrenze

GRM.Brainfuck im Deutschen Theater fordert das Publikum

Ist es Dokumentationstheater oder dramatische Verdichtung realer Vorgänge? Auf jeden Fall fordert "GRM.Brainfuck" dem Ensemble und dem Publikum im Deutschen Theater Göttingen einiges ab. Die Inszenierung von Niklas Richter ist vor allem eine Kopfsache, die sich unterhalb der Gürtellinie abspielt.  

Rotherham ist der größte Skandal in der skandalträchtigen britischen Nachkriegsgeschichte. Warum man das jahrzehntelange absichtliche Versagen der englischen Behörden in Deutschland kaum wahrgenommen hat, darüber kann man nur spekulieren. Auf jeden Fall erschwert dies das Verständnis dieses Stück enorm.

Sie kommen immer näher, der Schutzzaun
ist gefallen.
Alle Fotos: Thomas Aurin 

Ohne Zweifel steckt hinter dem Handlungsort Rochdale nichts anderes als Rotherham. Hier wie dort und an einigen anderen Orten in Großbritannien waren die Verbrechen an jungen Menschen, vor allem jungen Frauen, nur deswegen möglich, weil der Staat versagt hat. Im Bemühen um Friede, Freude, Eierkuchen hat man die elementaren Rechte von Jugendlichen aus der Unterschicht missachtet und Aufklärung verhindert.

Daraus speist sich die Wut, die diesem Werk und dieser Inszenierung zugrunde liegt. In deutschen Medien ist dies nicht thematisiert worden und deswegen steht die deutsche Mittelschicht wie der Ochs vor Berg, wenn sie im Theater sitzend diese  Opfer wie in einem Panoptikum der Verlierer betrachten darf. Zumindest zu Anfang sind diese gut abgeschirmt durch einen Bauzaun.  

Bei Rochdale kommt aber noch die Komponente Nachbarschaft hinzu Die Kleinstadt ist ein Randgemeinde von Manchester. Der Neoliberalismus ist nix anderes als ein Wiedergänger des Manchester-Liberalismus und das Amalgams aus Raubtierkapitalismus und Behördenversagen erzeugt eine sehr explosive Mischung. Das ist das Credo von Autorin Sibylle Berg und Regisseur Niklas Ritter versucht, es adäquat auf die Bühne zu bringen.

Grundlage ist ein Roman der Wahlschweizerin, der im Jahr 2019 erschienen ist. Das merkt man der Inszenierung an. Diese ist textlastig. Nicht jeder Satz bringt die Aufführung voran. Vieles dient nur dazu, eine bekannte Situation ein ums andere Mal auszuschmücken. Raum zum Schauspielern bietet die Inszenierung erst im Laufe des Abends. Das Publikum muss 45 Minuten Geduld mitbringen. Erst dann darf agitiert werden und auch nur dann, wenn es um sexuelle Gewalt geht.

Das Bühnenbild von Kerstin Narr und Norman Plathe-Narr und Kostüme von Ines Burisch sind eine Mischung aus Punk, New Wave und Rap. Diese Mischung aus 70-er und 80-er Jahre verdeutlicht Elend in der dritten Generation. Der Abstieg von Rochdale, Rotherham und anderen Orten begann mit der Deindustrialisierung in der Thatcher-Ära. Seitdem gibt es kein Entrinnen.

Links oben thront ein Kinderspielzeug, ein großes Windspiel, wie es einst zu Dutzenden die Heimat von Tinky Winky, Dipsy, Laa-Laa und Po geschmückt hat. Doch Teletubby-Land ist abgebrannt und hier auf der Bühne des DT Göttingen wird Klartext gesprochen. Dies passiert im Staccato des klassischen Rap. 

Die Gesichter der Schauspieler und Schauspielerinnen sind unter Masken verborgen. Niemand kann mit Mimik glänzen an diesem Abend. Sind sie damit zurückgeworfen auf die Mittel der antiken griechischen Tragödien oder wurden die vier Protagonisten durch die Regie ein weiteres Mal entmenschlicht?

Masken oder Personen?
Alle Fotos: Thomas Aurin 

Auch mit Gestik darf niemand glänzen. Die sechs Darsteller bewegen sich meist roboterhaft. Sie haben keine Familiennamen. Weil sie keine Familien mehr haben oder weil sie einen Typus darstellen, auch das darf jeder im Publikum für sich entscheiden.

Jede Person wird an diesem Abend mit dem Vorlesen einer imaginären Karteikarte eingeführt. Die Wirkung ist eindeutig. IM Kopfkino geht die Schublade auf, Fall abgelegt, Schublade zu. Doch die Wut der vier Protagonisten richtet sich nicht gegen das System, sondern gegen die Personen, die ihnen des größten Schmerz zugefügt haben. Der Zorn ist privatisiert.

Anfangs ist alles noch weit weg. Auf erhöhter Bühne stehen sechs Mikros, bereit zum Battle der HipHop-Gemeinde und das Ensemble eingesperrt hinter einem Gitterzaun. Oder ist der Zaun eine Schutzmaßnahme für das Publikum, um ihm die wilden Tiere vom Leib zu halten.

Später senkt sich die Bühne auf das gewohnte Niveau. Noch vor der Pause fällt der Schutzzaun, die Beleuchtung lässt die Grenze zwischen Spielfläche und Parkett verschwinden. Nun ist die Zeit des Panoptikums vorbei. Das Publikum kann sich nicht mehr entziehen. Der Umgang mit den Bewohnern des Wohnblocks "Groner Landstraße 9" während der Corona-Zeit zeigt, dass Rochdale und Göttingen gar nicht so weit auseinander liegen. Das macht die Inszenierung von Niklas Ritter deutlich.

Niemand kann das Theater beruhigt verlassen. Es ist ein Stück an der Schmerzgrenze. Aber häufig braucht es den Schmerz, um sich auf der Suche nach Heilung zu machen.




Mit mindestens 1.400 Opfern war Rotherham der größte und bekannteste Fall von Zwangsprostitution und organisierter Misshandlung in Mittelengland in den 90-er und Nullerjahren, bei denen die Behörden trotz Kenntnissen darüber jahrelang untätig blieben. Auch in Rochdale gab es die Fälle in größerer Zahl. Mehr dazu bei Wikipedia.

Sonntag, 21. Januar 2024

Zu viel gewollt - nichts gewonnen

Uraufführung mit gemischten Ergebnis im Deutschen Theater Göttingen

Beim "Traum von der glänzenden Zukunft" muss man genau unterscheiden. Schauspieler top, Inszenierung in Ordnung, aber Stück mit deutlichen Schwächen. Die Vorlage von Carina Sophie Eberleist ein Werk, das alles will, aber nichts gewinnt. Nach 60 Minuten Küchenpsychologie bleibt die Frage: Wer therapiert hier eigentlich wem?

Man muss die Klassiker bemühen. In seiner Ästhetik unterscheidet Kant zwischen nützlich, gut und schön. Nützlich ist, was einem anerkannten Zweck dient. Das gilt für "Der Traum von der glänzenden Zukunft" bestimmt. Mögliche Bedrohungslagen schildert das Stück in Gänze und voller Breite. 

Gut ist nach Kant, was einem moralischen Grundsatz befolgt. Ob der oben geschilderte Zweck moralisch ist, das bedarf einer längeren Debatte. Was die überforderte Vorlage rettet ist die Inszenierung von Lucia Reichard, das Bühnenbild von Bettina Weller und vor allem die schauspielerische Leistungen.

Mädchen, Zukunft und Angst. 
Alle Fotos: DT/Thomas Müller
Gabriel von Berlepsch könnte man ein Telefonbuch vorlegen und er würde es in bemerkenswerter Weise umsetzen. Bei dieser Aufführung schafft er es, nahtlos zwischen den Rollen als Vater Gustav, Lehrer Kühn und die Angst hin- und her. und umzuschalten. Er hat für jede der unterschiedlichen Anforderungen die richtige Antwort in Gestik, Mimik und Rhetorik.

Er verkörpert den überforderten Gatten und Vater ebenso glaubhaft wie den gutmeinenden Pädagogen. Mit dem Staccato-Sprech zum Abendessen verdeutlichen er und Andre Strube eindrucksvoll die prekäre Situation der Familie Namenlos.

Aber zu großen Form läuft er in der Rolle der Angst auf. Meist entspannt und souverän, schafft er es sogar die Angst der Angst vor der Angst umzusetzen. 

Ähnliches gelingt Andrea Strube in der Dreifache Rolle als Mutter, als Freundin Iris und als die Zukunft. Besonders das Umschalten zwischen der desillusionierten Mutter hin zur optimistischen Iris funktioniert wunderbar. Ob es Absicht ist, dass Strube mit der Maske aus dem Kopf nur stückchenhaft zu verstehen ist, gehört zu den Geheimnissen der Inszenierung. 

Diese Vielfalt bleibt Marina Lara Poltmann verwehrt. Sie kann ihr Potenzial nur teilweise ausspielen, weil die Figur der Nemuärt immer man Rande des Nervenzusammenbruchs angelegt ist. Ais auf wenige Ausnahmen ist sie stimmlich am Anschlag, erst zum Schluss sind ihr die ruhigen und vertiefenden Momente vergönnt. Ist es schon ein wenig überraschend, dass sie sich am Ende der Vorstellung ihre Angst überwindet. 

Zu den Höhepunkten der Aufführung gehört ohne Frage der Wettlauf der Angst mit der Protagonistin, in dem sich beide ständig überholen. So viel Heiterkeit mit Tiefsinn wünscht man sich häufiger.    

Die Aufführung beginnt mit einer Ausnahmesituation. Die Familie Namenlos ist gerade umgezogen, überall versperren Kartons den Blick und verwehren den Überblick. Ständig werden alltägliche Utensilien gesucht, die Normalität bleibt verwehrt. Die Ausgangssituation ist klar: Vier Menschen in einer 3-Zimmer-Wohnung. Das spricht für eine soziale Schieflage und dank der Intimität der Studiobühne im dt.2 kann sich das Publikum der latenten Spannung nicht entziehen.

Diesem starken Auftakt folgt eine Irrfahrt durch sämtliche Klischees der Digitalmodernen. Die Zusammenstellung erscheint willkürlich und weckt den Schein des Alles-muss-aufs-Tapet-Schülertheaters. 

Keine echten Typen

Da ist die lebensfrohe Schulfreundin Iris aus gesicherten Verhältnissen, die es immer schafft sich ihren Helikopter-Eltern zu entziehen. Selbst erfolgt nach Schema F. Dem Stück mangelt es einfach an echten Typen oder auch Typinnen. Zu vieles ist vorhersehbar.

Dann folgt die vulgärmarxistische Kritik am Kapitalismus, am ständigen Zwang zum Wachstum mit den Stilmittel des Agit-Prop-Theaters der 1920er Jahre, die Unmenschlichkeit des Fleischverzehrs und der Kreislauf des Mikroplastiks. Die langen Passagen über das menschliche Gehirn dient dem Zweck, diese Bowle der aktuellen Befindlichkeiten mit den Insignien der neuen Gottheit Wissenschaftlichkeit zu würzen.

Stücke, die den Anspruch erheben, Realität abzubilden, laufen meist in eine selbst gestellte Falle. Man überprüft sie anhand der Realität. Da fällt dieses Stück durch. Wer in Zeiten der Selbstausbeutung im Plattformkapitalismus immer noch das Wirtschaftsmodell des Manchester-Liberalismus muss sich die Frage stellen, in welchem Jahrhundert er oder sie lebt, oder ob dieser historische Rückgriff nötig ist, um das eigene Konstrukt besser dastehen zu lassen.

Angst ist nur eins von vielen Gefühlen und ein Prozess der Adoleszenz. Kinder müssen erst lernen, Angst zu haben. Dafür müssen sie aber nicht ins Theater. Liebe, Hoffnung und Faulheit sind weitaus stärkere Motoren, gerade im christlichen Kontext. Also muss man die Frage stellen, ob im diesem Werk jemand die eigenen Beklemmungen auf Heranwachsende projiziert, weil diese sich nicht wehren können.

So gesehen kommt es überraschend, wenn die Protagonistin am Ende ihre Angst überwindet. Es sorgt immerhin für ein versöhnliches Ende
       

Bei allen Verbesserungen durch das Ensemble des DT Göttingens bleibt dennoch die Frage, ob dieses Erstlingswerk nicht besser in der Schublade geblieben wäre. Es ist zu hoffen, dass Carina Sophie Eberle demnächst ein stärkeres Werk vorlegen kann.