Mittwoch, 29. August 2018

Musik vom King of Romantic

Kammerorchester der Kreismusikschule spielt viel Grieg

Der Anfang war stotternd, doch dann konnte das Kammerorchester der Kreismusikschule Goslar beim Internationalen Musikfest durchaus überzeugen. Das Konzert in der Schlosserei  war ein stimmiger Auftakt zum Musiktag im Bergwerksmuseum Rammelsberg.

Unter dem Titel "In der Halle des Bergkönigs" wwar viel Musik von Grieg angekündigt worden. Doch zuerst ging es weiter zurück in die ganz Alte Musik. Den Auftakt machte eine Fanfare aus dem 16. Jahrhundert eines unbekannten Komponisten, die Edward Jones mit wnderen Werken zu einer mittelalterlichen Suite zusammengefasst hat.

Warten auf den Bergkönig.
Alle Fotos: Kügler
Ganz ohne Blech auf der Bühne schaffte das Kammerorchester dennoch einen angemessenen feierliche ton, auch wenn der letzte Druck fehlt. gleiches gilt für den anschließenden Tanz Passepied.

Die abschließende "Schottische Rauferei" setzt die erste Akzente. Die Stricher schaffen es, diesen typischen spitzen Ton der keltischen Fidel auf die Bühne zu bringen. Im Wechselspiel mit den konventionell intonierenden Celli baut sich ein Spannungsbogen mit einem feinen Klangbild auf. Der Wechsel von Staccato und Pizzicato schafft im abschließenden "The Battle" eine lautmalerische Glanzleistung.

Den Hauptteil leitet Orchesterchefin Anette Zell mit einem Bericht über Griegs Skepsis gegenüber Ibsens "Peer Gynt" ein. Das es sein berühmtestes Werk werden sollte, ist eine Ironie der Musikgeschichte. Das Kammerorchester setzt die atmosphärische Dichte gekonnt um.

"Die Morgenstimmung" baut sich langsam mit zurückhaltenden Streichern auf. Geiogen und Bratschen arbeiten sich vom Flüstern zum Schwelgen vor. Dann setzt die Pauke den Wendepunkt und die Streicher schwellen wieder ab. Sie ziehen feien Melodielinien, die im Kopfkino an einem sonnigen Morgen wie Nebelschwaden über einen See dahinziehen. Das ist knapp vor Werbe-Ästhetik, aber eben nur knapp.

Eine Bühne wie ein Boxring.
Foto: Kügler
Das Kammerorchester kann auch anders und setzt mit dem Hochzeitsfest den Kontrapunkt. Der fulminante Auftakt im tutti löst alle Schwärmereien in Sekundenbruchteilen auf. Die Celli legen den Teppich, auf dem dann die Violinen ihren Hochzeitstanz vollführen. Das Zusammenspiel klappt fabelhaft. Punktgenau leitet dann wieder die Pauke die Wende ein.

Das Pizzicato der Celli und des Basses eröffnen die Halle des Bergkönigs. Dann melden sich die Violinen. Ganz behutsam lässt Anett Zell Volumen und Tempo ansteigen. Strophe für Strophe wird aus dem Largo allmählich ein Prestissimo. Dann meldet sich die Pauke deutlich zu Wort. Der Bergkönig ist da doch das Publikum ist gut vorbereitet.

Nach so viel Dramatik gibt es Entspannung mit "Solveigs Lied". Wie schon in der "Morgenstimmung" kann das Kammerorchester aus dem Vollen schöpfen und träumerisch dahin schwelgen. Die Harmonie im Ensemble wird zur Harmonie der Zuhörer. Auch das hier klingt wie knapp vor Werbung, aber sei's drum. An einem Sonntagvormittag ist das erlaubt.

Ungewöhnliche Orte ergeben ungewöhnliche
Perspektiven. 
Die "Simple Symphony" ist einer eher untypisches Werk für Benjamin Britten. Hier lässt er seinen neoromantischen Gelüsten freien Lauf und das Kammerorchester setzt dies gekonnt um. Es kann in der "Sentimental Sarabande" seinen Trumpf "volles Klangbild" ausspielen und ndie Wendung im Stück problemlos bewältigen, bevor die Sarabande im Wechselspiel von Violinen und Celli ausläuft.

Atmosphäre ist das eine, Technik das andere. Das "Frolicsome Finale" stellt in dieser Matinee sicher die höchsten Ansprüche an die Musiker. von einem nicht zu überhörenden Beethooven-Zitat geht es gleich in ein Wechselspiel von Staccato und Pizzicato, das sich im Tempo immer steigert. Doch das Kammerorchester lässt die Stimmung des ausgelassenen Finals auf das Ajuditorium in der Schlosserei überspringen. Der Lohn ist tosender Beifall.






Material #1: Das Internationale Musikfest Goslar - Die Website
Material #2: Das Kammerorchester Goslar - Die Website

Material #3: Edvard Grieg - Die Biographie
Material #4: Die Peer Gynt-Suite - Das Werk

Material #5: Benjamin Britten - die Biographie
Material #6: Die Simple Symphony - das Werk








Montag, 27. August 2018

Reise an den Sehnsuchtsort

"Bandoneon Glück auf" mit Christian Gerber und Sabrina Ascacibar

Tango in der Kraftzentrale des Industriedenkmal Rammelsberg. Kann das funktionieren? Ja, das kann es und zwar wunderbar. Das zeigte die Premiere mit Sabrina Ascacibar, Christian Gerber und Gerd Bauder am Sonntag.

Der Reflex funktioniert bei den meisten: Das Bandoneon ist im argentinischen Tango zu Hause. Doch geboren wurde es in Deutschland und war lange Zeit das Instrument der Bergarbeiter im Ruhrgebiet und im Erzgebirge. Erst mit den Auswanderern fand es seinen Weg nach Südamerika.

Diese Reise nachzuvollziehen, dass war der Anspruch von Ascacibar und Gerber. Dabei spielte die Richtung nicht so sehr die Rolle. Es ging hin und her zwischen den Kontinenten und es ging nicht nur nach Tango-Land. Sehnsucht, Freud und Leid und ihre musikalische Verarbeitung sind die Konstanten in diesem Programm.

Sabrina Ascacibar kann nicht nur Gesang
sondern auch Gitarre.    Fotos: Kügler
Instrumentenbauer, Seemänner, Auswanderinnen Exilanten, Sabrina Ascacibar liefert mit kleinen Geschichten zwischen den Stücken die Klammern. Lebendig und emotional statt kopflastig  Die Geschichte eines Instrumentes bekommt son nicht nur eine Route sondern auch dutzende Gesichter.

Den Anfang machen Ascacibar und Bauder. Zu Bass und Gitarre singt sie einen Tango wie man ihn erwartet, mit reichlich Leidenschaft in der Stimme in Hochlage. "Caminito" ist ein Stück über die kleinen Abwege im Leben.

Doch wo ist das Bandoneon? Auf jeden Fall nicht auf der improvisierten Bühne. Doch schon nach der ersten Strophe mischt es sich ein und zwar von der Empore. Angesichts des starken Halls unter der großen Kuppel und der spitzen Akustik in der Kraftzentrale war dies ein Risiko. Aber das Kalkül geht voll auf. Das kleine Instrument füllt den riesigen Raum und seine prägnanten Töne schwappen wie eine Woge über das Auditorium.

Gleich mehrfach treten an diesem Nachmittag Musik und Architektur in einen Dialog. Die Töne wird von den Mauer reflektiert, die Instrumente treten in ein Zwiegespräch mit sich selbst. Das Publikum ist ganz von Klang umgeben. Ascacibar, Bauder und Gerber wissen ein vermeintliches Manko in ein einmaliges Klangerlebnis zu verwandeln. Wenn Staunen hörbar wäre, wäre es an dieser Stelle nicht zu überhören.

Dann grummelt der Bass und das Bandoneon gibt langgezogene Töne von sich. Langsam entpuppt sich eine Melodie: Glück auf, der Steiger kommt. Mit hypnotischen Sprechgesang sagt Sabrina Ascacibar die erste Strophe auf. Dann zupft Bauder einen Rhythmus und das Publikum summt mit.

Das ist keine Anbiederung an ein montan-geschwängertes Auditorium sondern eine ehrliche Aufbereitung traditionellen Liedguts ganz ohne falsche Romantik. Die reduzierte Präsentation macht deutlich, was die Folklore häufig übertünscht: Arbeit im Berg war anstrengend und durchaus mit Leid und Not verbunden. Mit dieser Form der Erinnerungskultur hat das Trio von hier an das Publikum auf seiner Seite. Trotz der großen Halle wird es eine sehr intime Veranstaltung.

Emotionen sind das Thema des Abends und die sind auch ohne Sprachkenntnisse vermittelbar. Da macht es nichts aus, dass Sabrina Ascacibar mehrfach spanisch singt, den Song von Vinicius de Moraes eben portugiesisch. Das Publikum fühlt mit, vollzieht nach und versteht, weil es verstehen will. Das geht mit Tange ebenso gut wie mit Bossanova, Blues oder einem Chanson. Die heilende Kraft der Musik ist eben universell.

Sabrina Ascacibar sagt es: Manchmal gibt es nichts schöneres als den unerfüllten Träumen nachzuhängen, zumindest nichts schöneres an einem Sonntagnachmittag. Es geht auch um die kleinen Lücken des Glücks in einem mühsamen Dasein.

Christian Gerber kann mit dem Bandoneon
zaubern. Foto: Kügler
Das Spiel mit der Akustik demonstriert Bauder in seinem Solo. Einzelne Saiten werden angezupft und zusammen mit dem Bassisten wartet das Publikum auf die Wiederkehr der Töne und geht in der Musik auf. Bauder greift die Töne auf und formt dann einen Rhythmus daraus und den musikalischen Ball an Gerber weiterzureichen.

Er zieht die Klänge des Bandoneons in die Unendlichkeit. Sie sind noch nicht verklungen als sie schon widerhallen. Das gleicht einem Loop-Effekt ganz ohne Elektrik oder Elektronik. In der analogen Meditation geht die Welt offline. Gerber ist ein Zauberer und mit dem Bandoneon lässt er die Zeit still stehen.

Deswegen singen alle mit, als das Bergarbeiterliedgut "Es ist Feierabend" auf dem Programm steht. Das hat nichts mit Bierzelt zu tun. Die reduzierte Vortragsweise steigert die Innerlichkeit und das Band zwischen Vortragenden und Mitsingenden wächst auf Deuser-Band-Qualität an.

Mit "Bandoneon Glück auf" kehrte das Bandoneon an seine Geburtsstätte zurück und eine Heimkehr ist immer anrührend. Das lässt auch die Künstler nicht kalt und deswegen fällt das Schlusswort von Sabrina Ascacibar ehrlich und emotional aus.

Doch der Gäsnehaut.-Moment kommt erst nach dem Schluss. Als Zugabe gibt es "La Paloma" von Sebastián de Yradier mit dem Originaltext. Diese Habanera gilt als weltweit das Lied mit den meisten Cover-Version. Kein anders Stück wurde häufig in Schellack, Vinyl oder CD geritzt, gepresst oder gebrannt.

Den vielen Duplikaten setzen Ascacibar, Bauder und Gerber eine eigene Kreation entgegen. die sparsame und Instrumentierung wird durch den klaren und gefühlvollen Gesang kontrastiert. In der höchsten Sehnsucht nach der verflossenen Liebe steigert sich Sabrina Ascacibar sogar in Koloraturen. Diese erklimmen die hohe Kuppel der Kraftzentrale und rieseln  auf das Publikum nieder. Der Genuss wird durch die Idee getrübt, dass es hier nie wieder so schön sein wird. Es sind die einmaligen Erlebnisse, die die Lücken voller Glück in einem mühsamen Alltag schaffen.

Manchmal sind die spontanen Einfälle die besten. Das gilt für dieses Ereignis ganz bestimmt. Bei seinem Gastspiel im letzten Jahr äußerte Christian Gerber die Idee, mal ein Konzert in der Kraftzentrale zu geben, in deren Mittelpunkt das Bandoneon steht. Wenn einer der besten Instrumentalisten solch eine Idee hat, dann darf man sie auch ruhig umsetzen. Vielleicht ist Christian Gerber gestern eine weiter Idee gekommen. Zu hoffen ist es allemal.






Material #1: Das Internationale Musikfest Goslar - Die Website


Material #2: Sabrina Ascacibar - Die Website
Material #3: Sabrina Ascacibar bei Facebook
Material #4: Sabrina Ascacibar - Die Biografie

Material #5: Christian Gerber - Die Website
Material #6: Christian Gerber bei Facebook
Material #7: Christian Gerber - die Biografie




Samstag, 25. August 2018

Sehr persönlich und fast schon lyrisch

Cloud 6 zeigt sich vielfältig auf dem neuen Album

Spielerisch und leicht. Blues hat nicht immer was mit alten Männer, die über eine verflossene Liebe jammern. Es geht auch frisch und leicht. Das beweist Cloud 6 mit dem neuen Album "Leaving Home".

Blues sei irgendwo zwischen Jazz, Swing, Rockabilly zu Hase, kalauerte mal Michael Arlt. Es ist ja wohl eher so, dass der Blues der Vater all dieser und noch viel mehr ist. Sei's drum. Auf jedem Fall bewgen sich die vier Musiker bei "Leaving Home" genau in diesem Bermudadreieck.

Diese Vielfalt ist nicht der Orientierungslosigkeit geschuldet sondern dem tieferen Verständnis einer Musik, die auf Dogmen verzichtet. 11 Songs haben sie in diesem Album zusammengefügt und zeigen damit eine Vielfalt, die bei Newcomern überrascht.

Das Tomtom-Gewummer beginnt, dann setzt die prägnante Stimme von Kim Shastri ein, dazu eine geslappte Gitarre ohne Effekte. Der Start ist rau und ungekünstelt und klingt ein wenig nach Jerry Lee Lewis. Es geht ja auch um animalische Angelegenheit. Die Background-Vocals halten das Tempo hoch bis Valentin Vollmer zeigen darf, dass ein Gitarren-Solo im Blues flott vor sich gehen kann. Auf jeden Fall klingt es stark nach tolle und Pomade.

Kim Shastri bedient bei Cloud 6 die Tasten und das
Mikrofon.        Foto: Kügler
Stilwechsel, "Run Baby Run" bewegt sich rückwärts und swingt wunderbar wie einst Cab Calloway. Mitschnippen lässt sich nicht mehr unterdrücken. Auch hier setzt der satte Chor ein und bereitet den Weg für das Piano-Solo.  Bei  "I still love you all" swingt es späer noch mal genauso. Das macht einfach gute Laune oder eben "Bei mir biste scheen", das Zitat ist nicht zu überhören.

Ganz reduziert kommt "Leaving Home" daher. Die Gitarre und der Bass legen die Basis, über der Shastri am Piano improvisiert. Auf der Oscar-Petterson-Skala gibt das ja schon mal 7 Punkte. Ganz ruhig und relaxt macht sich jeder auf den Weg und zum Schluss trifft man sich wieder.

Es ist wohl der persönlichste Song auf diesem Album. Er erzählt vom Verlassen und Wiederkommen und gibt an dieser Stelle die weitere Richtung vor. Überhaupt ist es ein Werk, das viel von seinen Machern und ihren Vorlieben erzählt. Da kann man auch verzeihen, dass "Leaving Home" einige Parallelen zu John Sebastians "Welcome Home" aufweist. Vielleicht sollte man es als musikalisches Vorspiel verstehen. Man muss ja erst mal was verlassen, um wiederzukommen. Nicht wahr?

Von wegen Jazz, Swing und Rockabilly. In "I got a Girl" steckt viel Mambo drin und wieder ein entspanntes Soll von Vollmer. Zusammen mit der Harb ergibt das passenden Song für eine endlose Sommernacht.

Genug gechillt, mit "Ilona" wird es wieder rau und ungezüngelt. Jetzt geht Cloud 6 ganz ungehemmt mit Zitaten und singt vom "Great Ball of Fire". Referenzen müssen eben doch sein. Nun legt Vollmer auch deutlich mehr Tempo in sein Solo, während Shastri die rechte Ende seines Pianos strapaziert.

Und dann ist es doch da, das Männer-Gejammer über die leere Kassen, die leeren Flaschen und das Girl, das ist gone in the morning: "Going Down" erfüllt alle Kriterien eines Chicago Blues. Doch die straighte Gitarre und die toughe Rhythm Section bewahrt den Song vor dem Abkippen in die Weinerlichkeit. Das klappt bei "Red Wine" nicht ganz so gut.Das Gebrummel in der Tom-Waits-Stimmlage wirkt ein wenig aufgesetzt.

Valentin Vollmer setzt viele Akzente. 
Doch es geht noch persönlicher als "Leaving Home". "Nothing takes the place of you" erzählt davon, was bleibt wenn alles vorbei ist. Shastris Tenor geht ins Nasale, ein bissche Snare-Darum dazu und ein Rhodes, das jault wie ein Coyote in der Vollmondnacht. Kitschig? Nee, herrlich.  Da hat das anschließende "Mary" feine Grenze wohl schon überschritten.

Eine Blues-Scheibe, die mit Kloß im Hals endet. Doch Cloud 6 schaffen das. Nur Stimme, E-Piano, manchmal schimmert die Hammond durch und auch das Schlagzeug meldet sich gelegentlich, dann übernimmt die Gitarre die Melodie. "I will be there" ist fein konstruiert, ehrlich, ein anrührender Schluss und ein Versprechen auf mehr.

Sind Blues und Poesie vereinbar? Doch, Leaving Home zeichnet sich eine eigene Lyrik aus. Dieses Album kann man auch mal an einem regnerischen Tag auf der Fensterbank hörenund sich auf Wolke Nummer 6 träumen. Langweilig wird es nicht, weil die vier Musiker immer noch eine Überraschung parat haben in ihrer erstaunlichen Vielfalt.







Material #1: Cloud 6 - Die offizielle Website
Material #2: Cloud 6 - Bei Facebook
Material #3: Cloud 6 - Bei Instagramm



Freitag, 24. August 2018

Lieder mit Krokodilstränen


Ein Besuch in der Bar zum Krokodil musste sein

Was aus den ersten Blick wie eine amüsante Revue von Evergreens und Gassenhauer erscheint, entpuppt sich als eingängige Zusammenfassung von rasanten gesellschaftlichen Umbrüchen. Auf jeden Fall können Christian Doll und Heiko Lippmann mit dieser Form eines musikalischen Dokumentationstheaters überzeugen

Der erste Weltkrieg ist vorbei und Deutschland gehört zu den Verlierer. Das alte Morsche ist zerbrochen und der Kaiser hat sich nach Holland abgesetzt. Regisseur Ulf Dietrich gelingt es, diesen Zustand mit wenigen Mitteln deutlich.

Es sind unruhige und ungewisse Zeiten und hektisch patrouillieren die verbliebenen Ordnungshüter vor dem Bahnhof. Klara ist auf der Suche nach ihrem Mann, der aus dem Felde zurückkehren soll. Die Pickelhauben vertreiben sie ein ums andere Mal.

Während Mario Gremlich als Unternehmer Wilhelm darüber klagen darf, dass mit dem Krieg nun auch die guten Geschäfte vorbei sind, schwenkte ein Bolschewist eine rote Fahne und wird von der Polizei gejagt und kehrt doch zurück.

Der Kampf der Platzhirsche hat Slapstick-Qualitäten.
Foto: Freilichtspiele Hall
Es wirkt wie ein Setzkasten der Revolution, den Dietrich hier entwirft. Die Treppe als Bühne in der Vertikalen erweist sich als Glücksfall. Kleine und große Taten können nebeneinander und miteinander und gegeneinander ablaufen, fast wie  im richtigen Leben. Es ist ein wahres Panoptikum, das sich auf einer horizontalen Bühne nicht in dieser überschaubaren Form entfalten. Dietrich weist die Besonderheiten in Hall bestens und gewinnbringend zu nutzen.

Doch, doch, die 8 Akteure haben durchaus Namen, aber die kommen nicht zur Sprache. Sie vertreten eben Idealtypen, ohne dabei schematisch zu agieren. Das muss man schon mal hinbekommen.

Mario Gremlich spielt den Unternehmer, der die alten Eliten vertritt, die weitestgehend unbeschadet durch den Krieg und die Nachkriegszeit kommen. Große Klappe und breite Brust, Gremlich scheint auf zwielichtige Typen spezialisiert. Es gelingt ihm aber auch, dem Wilhelm heitere, fast schon satirische Seiten abzugewinnen.

Rob Pitcher ist als Hans der Gegenentwurf. Dem Tenor gelingt hier vielleicht die beste schauspielerische Leistung. Als Kriegsversehrter muss Hans sich als Barkeeper durchschlagen. Sein Leben wurde umgekrempelt und entwertet. Ob seine Klara den Versuchungen immer widerstehen kann, bleibt unklar. Schon früh tönt der Enttäuschte deutschnational und nationalsozialistisch.

Pitcher gelingt es, diesen Werdegang mit wenigen Worten deutlich zu machen. Die stärkste Leistung ist sicherlich der Boxkampf mit Nico Went als Heinrich. Zwei Platzhirsche treffen hier aufeinander und benehmen sich wie Clowns. Da passt es, dass sich der Kampf in einem Slapstick-Fight wie bei Buster Keaton auflöst. Dietrich setzt hier mit Zeitlupen und Hghspeed auf Elemente des damals aufregenden Mdeium Film. Das Ensemble hat sichtbaren Spaß daran und das Publikum hat den größten Gewinn. Es gibt reichlich Szenenapplaus.

Wie sehr sich der Regisseur und die Autoren in den Geist der Zeit eingearbeitet haben, zeigt eben auch diese Szenen. Schließlich war Boxen als Symbol über den Überlebenskampf der Sport der 20er Jahre. Sogar Bert Brecht hat sich zu mehreren Lobgesängen hinreichen lassen.

Aber auch das Bühnenbild von Dietrich Teßmann trägt seinen Teil zur Rasanz dieser Inszenierung bei. Aus dem Bahnsteig wir mit wenigen Griffen eine Bar, die sich zum Boxring wandelt und dann als Schiff endet. Das passt.

Jasmin Eberl ist der blonde Engel
und Gremlich liegt zu Füssen. 
Überhaupt die Versuchungen. Das Tief des verlorenen Kriegs wird mit exzessiven Leben verarbeitet. "In der Bar zum Krkodil" lässt diese Beschleunigung wieder Fahrt aufnehmen und die Arrangements treiben die Handlung voran. Doll und Lippmann verlassen sich bei der Beschallung fast ausschließlich auf zeitgemäßes Material. Da gibt es viel Friedrich Hollaender und Zeitgenossen. Auch wenn die Inszenierung durchaus politisch ist, tut der Verzicht auf Brecht, Weil und Eissler durchaus gut. Diese Inszenierung traut dem Publikum genug Beobachtungsgabe zu, also kann man Brachialliteratur verzichten.

Der Exzess war auch eine Form der sexuellen Befreiung. Die Inszenierung wirkt manchmal wie ein Gemälde von George Grosz und mancher Zuschauer wirkt ein wenig verstört, wenn sexuelle Vielfalt so offen thematisiert wird. Das erspart Dietrich dem Publikum aber nicht, es geht ja auch um Dokumentationn und Sex in offener und verklemmter Form prägte das Kulturleben der 20er Jahre. Dabei verdient Jasmin als freizügige und laszive mindestens 8 Punkte auf der Blauer-Engel-Skale 

Kann man die Geschichte einer Epoche nur in Lieder erzählen. Ja, das geht zumindest hier. Niederlage, Rausch, Hyperinflation, Goldene Zwanziger, Aufstieg der Nazis und die vermeintliche Machtergreifung. Mit Musik lässt diese Inszenierung diese Zeit ohne falsche Romantik vorüberziehen, als es dann 1933 bombastisch übertönt.

Dan machen die Autoren noch etwas deutlich, was nur wenigen bewusst ist. Mit der äußeren und inneren Emigration zog die Sehnsucht in deutsche Liederbücher ein. Die Situationsbeschreibung wurde durch Fernweh-Gesänge ersetzt. Lobenswert wie diese Darstellung ist, gerät der Sehnsuchtsteil zu lang und vermittelt einen schmusigen Schluss zu einer Gesichte, die gar nicht gut ausgegangen ist.






Material #1: Die Freilichtspiele Schwäbisch Hall - Offizielle Website
Material #2: Die Bar zum Krokodil - Das Stück



Donnerstag, 9. August 2018

Der Käpt'n ist erst am Anfang der Reise

Max Prosa debütiert mit einer Performance beim Theaternaturfestival

Ein Festival der darstellenden Künste zu sein, das ist der Anspruch von Theaternatur auf der Waldbühne in Benneckenstein. Deswegen gibt es auch Workshops, Konzerte und Kino und eben auch ein Performance. Die hier ist von Max Prosa, heißt "Die Reise des lausigen Kapitäns" und kommt noch nicht so recht von der Stelle. Mehr als "Leinen los" ist nicht drin.

Max Prosa wird unter dem Label Singer-Songwirter geführt und ist er der zahlreichen Vertreter der neuen deutschen Innerlichkeit. Nicht umsonst heißt sein aktuelles Projekt "Im Stillen" und versammelt Lieder, Lyrik und Erzählungen in einem Band und dies ist auch die Vorlage für die Performance "Die Reise des lausigen Kapitäns". Bei der Uraufführung in Benneckenstein ist ihr recht schnell der Wind ausgegangen.

Der lausige Kapitän ist Ex-Student und einst wollte er zu Reisen jenseits des Horizonts aufbrechen. Doch er ist nie aus der Fußgängerzone herausgekommen und verdient dort sich seinen Lebensunterhalt als Straßenmusiker. Per Zufall trifft er auf zwei alte Weggefährten, die die Reise schon frühzeitig abgebrochen haben und sich nun wieder im konventionellen Fahrwasser befinden.

Ein Abend voller Selbstbetrachtung.
Foto: Kügler
Das ist der Ausgangspunkt und von diesem hält der lausige Kapitän Rückschau auf sein Leben. Auf der LED-Wand tauchen die Geister, die er rief, Stück für Stück auf. Mit Musik und Texten arbeitet sich Max Prosa nun daran ab.

Es ist Lyrik vom allerfeinsten. Jedes Wort passt, nichts ist zuviel und die Bilder, die er mit Sprache mal, sind eingängig. Das Publikum ist in wenigen Augenblicken in Reiselust. Das ist wohl der Zauber der Poesie.

Musikalisch ist es leichte Reisekost, reduziert auf Stimme, Gitarre und E-Piano.  Der Dialog Sänger - E-Piano mit der Ex-Liebe Maria gehört sicherlich zu den intimsten Momenten. Der Tanz mit dem Maria-Tuch lässt die Zeit still stehen. Doch das trägt nicht ein ganzes Abendprogramm. Was im intimen Club funktionieren mag, das läuft auf der großen Bühne ins Leere.

Es erinnert sehr an Jacques in seinen depressiven Phasen, wie die Long-Version von "Ne me quitte pas". Leider geht Max Prosa die Energie des legendären Belgiers völlig ab. Er stellt Fragen, zeigt aber keine Möglichkeiten auf. Es scheint, als ob die Generation Klettverschluss kaum der Pubertät entronnen schon in der Midlife-Krise angekommen ist.

So ehrlich ist Max Prosa dann doch. Hier wir kein Aussteigertum verherrlicht. Er hinterfragt die falsche Romantik durchaus. Während die Kumpels im seichten Fahrwasser vor sich hindümpeln scheint der lausige Käpt'n in die Sackgasse geraten zu sein.

Was eine poetische Betrachtung zum Thema "Kein richtiges Leben im Falschen" werden könnte, scheitert am spröden Spiel der drei Akteure. Was die Aussprache und die Varianz der Stimme anbelangt, da muss der lausige Kapitän aber noch mal ordentlich nachsteuern. Von Anfang bis Ende befindet er sich in ein und derselben Tonlage.

So bleibt die Gewissheit, an Bord einer Uraufführung gewsen zu sein und und einem Experiment beigewohnt zu haben. Dennoch sei dem lausigen Kapitän für die weiteren Fahrten immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel gewünscht. 






Material #1: Theaternatur - Das Festival


Material #2: Max Prosa - Die offizielle Website
Material #2a: Max Prosa - Bei Facebook
Material #2b: Die Biografie - Max Prosa bei wikipedia

Montag, 6. August 2018

Alles voller Magie


Shakespeares Sturm in einer Inszenierung nicht von dieser Welt
  

Sprechtheater, Musik und Videoanimationen, es ist ein Theaterstück an der Grenze zur Performance. Mit seiner Inszenierung von Shakespeares Sturm überzeugt Janek Liebetruth zum Start des Theaternaturfestivals. Inhalt und Raum verschmelzen zu einer Einheit.

Das Stück startet fulminant. Aus den Lautsprecher singt Kai Wingenfelder davon, dass es nicht die Zeit, sich Fragen zu stellen. Auf der LED-Wand brennt ein Feuerwerk ab und ein Sturm fegt über die schwarze, verspiegelte Spielfläche. Vom Rand tritt Angelika Böttiger in das Auge des Sturm. Sie ist die Zauberin Prospera und die Herrin der sturmumtosten Insel mit Rockstar-Gehabe.

Schon vor zwei Jahren in seinen Räubern hat Regisseur Janek Liebetruth eine tragende Rolle das Geschlecht wechseln lassen. Miranda darf aber Tochter bleiben, so will Liebetruth den  Generationskonflikt und den demographischen Konflikt als Überthema des diesjährigen Festivals hervorheben. Schließlich gehe es ja auch um Macht über die Nächsten.

Angelika Böttiger ist ganz die rachelüsterne Herrscherin, steif in Gestik und Mimik und knapp im Befehlston. Erst vor dem finalen Schlag gegen den verhassten Bruder Antonio darf sie herunterkommen von hohen Ross und vom Proklamations- in den Sprechmodus wechseln. Es deutet sich ein Prozess an. Aus Rache wird Güte und damit ist es nicht verwunderlich, dass auch hier alles zum Schluss in Harmonie endet. Katja Göhler als Miranda bleibt auf die Rolle der folgsamen Tochter reduziert und damit nicht mehr als Beiwerk.

Das Personal haben Janek Liebetruth und Lena Fritschle deutlich reduziert. Zwar sind nur noch sieben Figuren auf der Bühne zu finden, doch für das Stück bedeutet dies keine Einbuße. Ganz im Gegenteil, die Straffung bedeutet Konzentration.

Dem stehen viele Einfälle gegenüber, die erst überraschen und dann überzeugen. Dazu gehört bestimmt das Trimmrad als Symbol für sklavenhaftes Schuften. Überall sind Andeutungen versteckt.  Im Minutentakt gibt es in dieser Inszenierung etwas zu entdecken, manchmal im Kleine und Verborgenen, manchmal in der großen Geste.

Im diesem Ensemble von sieben gleichwertigen Darstellern nimmt Vincent Göhre dennoch eine Sonderrolle ein. Als Windgeist Ariel sorgt er für die komödiantischen Augenblick. Vor allem beherrscht er die kleinen Tricks bewundernswert. Wo andere auf viele Worte und raumgreifende Gesten setzen, brilliert er mit Mimenspiel und beiläufigen Handgreiflichkeiten. Seine Geringschätzung für den urinierenden Antonio braucht keine Worte, Blicke reichen.  Kaum zu Glauben, dass der junge Mann gerade mal Mitte zwanzig ist. Somit ist von Vincent Göhre noch viel zu erwarten.

Prospera hat den Geist, den sie rief, gut im Griff.
Fest verankert im dramatischen Fach ist Gerrit Neuhaus als Königssohn Fernando. Wie Böttiger auch eine Stammkraft beim Theaternaturfestival zeigt jetzt Neuhaus mit dem liebestrunkenen Prinzen mal eine neue Seite seiner Darstellungskunst. Auch die ist sehenswert. Aber vor allem sein suchender Blick und sein ratloser Körper beim Landen auf dem unbekannten Eiland bleiben in Erinnerung.

Die undankbarste Rolle hat ohne Frage Lena Stamm als Monstrum Caliban. Der Geschlechterwechsel beim Nachwuchs der Hexe Sycorax gibt zumindest die Möglichkeit eine zusätzliche Liebesgeschichte mit dem Mundschenk Stephano zu inszenieren und zu zeigen, dass die Liebe auch aus Monstern empfindsame Wesen. Aber es ist vor allem die großartige Stimme, mit der Lena Stamm überzeugen kann. Ihr "Like a prayer" hat Gänsehautfaktor.

Über der Einsatz von Pop-Songs. Das ist nicht Beiwerk oder Stimmungsmache. Die Musik wird zum Träger der Handlung und beschert dem allwissenden und ahnenden Publikum durchaus heitere Momente.

Nun hat Shakespeares Werk schon mehr als 4000 Jahre auf dem Buckel. Wie transportiert man das Treiben um Rache und Vergebung in die Gegenwart? Der Einsatz der Musik ist ein Mittel, aber  Liebetruth und Fritschle setzen auf die Sprache. Prospera verbleibt als erhabenes Monumentum ewigen Menschheitstriebe durchweg im Shakespearischen Original, doch alle anderen Figuren dürfen auch mal in die Jetzt-Sprache wechseln. Je weiter unten im Ranking, desto öfter sogar. Antonio und Stephano dürfen sogar ins Managersprech wechseln.

Die Botschaft? Die Sanierer und Abservierer des 17. Jahrhunderts unterscheiden sich nicht von denen des 21. Jahrhunderts. Noch nicht einmal die Kostümierung unterscheidet sie. Dieser Strum ist alles andere als ein Historienspiel und die einfallsreich und überraschende Ausstattung von Leah Lichtwitz bewahrt diese Inszenierung ganz bestimmt davor.

Der Prinz ist auf der Suche.
Alle Fotos: Kügler
Ein Prinz im Blümchen-Sakko und ein amtierender Herzog gekleidet wie ein Vorstadtzuhälter. Lichtwitz hat Mut bewiesen und dieser Mut zahlt sich für alle Beteiligten aus.

Ach ja, dann sind da ja noch die Bühne und das Bühnenbild. Eine schwarze, verspiegelte Spielfläche, gesäumt von fünf LED-Wänden und Spiegeln. Auf dem ersten Blick wirkt es wie ein Raumschiff, ein technisierter Fremdkörper inmitten des Waldes. Damit erfüllt es alle Kriterien eines Schauspielverhinderungsbühnenbildes.

Doch Daniel Unger ist hier Großartiges gelungen. Das Bühnenbild ist weder Beiwerk und reine Kulisse, noch Monstrum im Hintergrund. Es ist aktiver Teil der Inszenierung. Die Animationen geben den Ort an, zeigt Fenster und Türen, wenn Prosperas Heim die Spielstätte ist oder zeigt grüne Wildnis wenn Antonio und Stephano durch die Gegend irrlichtern. Vor allem aber zeigt es das, was auf einer Bühne mit konventionellen Mittel nicht machbar ist, die Zauberkraft der Prospera.

Aber es wirkt auch auf der Meta-Ebene, dieses Raumschiff. Mitten im Wald gelandet,  trennt es diesen Ort vom Rest der Welt, gibt ihm eine ganz besondere Magie. Die Waldbühne wird selbst zur Insel und das Publikum zu unsichtbaren Zuschauern beim Treiben der Herrscherin Prospera. Nach 400 Jahren Suche ist klar: Prosperos Insel liegt auf 51° 6' Nord und 10° 7' Ost.







Material #1: Das Theaternaturfestival - Die Website
Material #1a: Der Sturm - die Inszenierung

Material #2: William Shakespeare - Die Biografie
Material #2a: Der Sturm - das Stück

Ein Konzert, das nie enden dürfte

PKOW und Liv Migdal spielen in Benneckenstein die 8 Jahreszeiten

Persönliche Erklärung:

Da fährt man in die Berge, um eines seiner Lieblingsstücke zu hören und dann kommt man zurück und hat ein ganz anderes neues Lieblingsstück. Herrlich.

Vorspann:

Gegensätze und Gemeinsamkeiten, Referenz und Differenz in einem Konzert. Das war die 8 Jahreszeiten des Philharmonischen Kammerorchester Wernigerode und Stargast Liv Migdal beim Theaternaturfestival. Das Konzert auf der Waldbühne in Benneckenstein war eins von denen, die nie enden dürften oder zumindest doppelt so lang sein müssten.


Kleine Besetzung in ungewohnter Sitzordnung.
Alle Fotos: Kügler
Vivaldis Zyklus "Vier Jahreszeiten" gehört zum kollektiven Gedächtnis der Menschheit. Es soll keine Werk geben, das so oft eingespielt wurde, wie das Werk des Venezianers. Mit den Mittel der Barockmusik ist es ein ganzjährige Klimabeschreibung und dies macht es so eingängig, das das Publikum regelmäßig wetterfühlig wird.  Mit einer zyklischen Themenentwicklung ist das Paradebeispiel für die Tonsetzerei des  18. Jahrhunderts.

Also, was könnte man dem noch hinzufügen, was noch nicht gespielt wurde? Das Streicherensemble des Philharmonischen Kammerorchester schafft es dennoch. 18 Streicher und ein Cembalo: Sein Vivaldi ist schon in der Besetzung reduziert.

Wo die meisten Einspielungen auf Überwältigung bauen, setzen die Nordharzer auf Zurückhaltung. Der Auftakt im tutti klingt ungewohnt disharmonisch und ist wohl nicht als ein Verweis aus das zweite Stück des Abend. Dann übernimmt Alexey Naumenko als Solist und führt einen feinen Bogen.

Ein zarter, ein fast lyrischer Vivaldi entwickelt sich hier jetzt. Das hat wenig mit barocker Pracht zu tun, sondern erinnert schon an die Innerlichkeit romantischer Werke. Ob nun im Solo oder im tutti, alle Musiker scheinen die Töne zu streicheln, zu liebkosen und zu wiegen.

Trotzdem gibt es einen Rückgriff auf die barocke Praxis. Kein Dirigent versperrt in diesem Teil den Blick auf das Orchester. Naumenko agiert nur als Primus inter Pares, später kommen auch andere zu solistischen Ehren.

Im Allegro des ersten Satzes entwickeln der Solist, Krzysztof Baranowski und Nicolae Bogdan Ionita einen Dialog über drei Banden. Mit leichter Hand werfen sie sich das allgegenärtige Thema zu, entwickeln es weiter und geben es dann zurück an das Orchester. In solchen Momenten scheint die Zeit still zu stehen.

Naumenko kann auch anders. Die berühmte Gewitterpassage im zweiten Satz spielt er im stürmischen Tempo, dass dem Ensemble und dem Publikum die Noten nur so um die Ohren fliegen. Schwupp ist das Gewitter vorbei und wie in Natura verläuft alles zwei Gänge langsamer und leiser. Der Solist verzögert sein Spiel so sehr, dass das Raum-Zeit-Kontinuum fast gefährdet ist. Seine Synkopen erreichen die Länge eines Gitarrensolos von Peter Frampton. Fernab der Welt kann man sich in diesen See von Tönen versenken.

Im dritten Satz darf das Cembalo aus dem langen Schatten der Streicher treten.  Filigran, leicht und leise bleibt auch hier das Motto. Auch Hartmut Ruß am Cello tritt nun ins Licht. Das Cembalo übergibt an den Cellisten und der entwickelt eine einen Dialog mit der Solo-Violine.

Der Winter friert alles ein. Im vierten Satz ist die Experimentierfreude beendet. Das PKOW kehrt in die Fahrrinne der üblichen Rezeption zurück.

Piazolla ist das schwere Schicksal allumfassender Popularität erspart geblieben. Seine "Jahreszeiten in Buenos Aires" ist mit dem Makel "Expertenwissen" behaftet. Trotzdem drängen sich gleich zwei Fragen auf: Piazzolla ohne Bandoneon und Tango nur mit Streicher, kann das gut gehen?

Zumindest an diesem Abend auf der Waldbühne in Benneckenstein macht es das. Diese liegt natürlich am Stargast. Liv Migdal gehört zu den aufstrebenden Sternen am Himmel voller Geigen Trotz ihrer Jugendlichkeit hat Migdal schon eine Reihe von nationalen und internationalen Ehrungen erfahren. Zierlich an Gestalt beherrscht sie die Bühne schon vom ersten Augenblick an.

Aber erst einmal ist das Orchester am Zug. Hunderte von Hummeln lässt es durch den argentinischen Frühling summen. Fast meint man, ihnen beim Sprung von Blüte zu Blüte zusehen zu können. Dann erst setzt Migdal ein mit einem Streich über das volle Brett ein. Dann fügt ich die Solistin in das Treiben des Orchester ein.

Liv Migdal verzaubert das Publikum.
Alle Fotos: tok
Hier wird die Klasse der 30-Jährigen sofort deutlich. Piazzzolla hat es seinen Epigongen nicht einfach gemacht. Dieses Werk ist voll mit lautmalerische Passagen. Er hat die besagten Hummel um sich versammelt, manchmal knarrt eine alte Tür im Wind und im Gewitter knallt ein Fenster. Damit sind die Estaciones ein eine wirkliche Herausforderung und Migdal stürzt sich da gern hinein. Aber in Sekundenbruchteilen und ohne Übergang findet sie sofort wieder in den Strom der Melodie. Dies verlangt nicht nur Empathie mit dem Werk, sondern erst einmal technische Fähigkeiten auf höchstem Niveau

Fünf, sechs, sieben Mal springt Liv Migdal über diese großen Klippen und landet jedesmal butterweich im musikalischen Rio Plate. Das versöhnt das Publikum mit den ungewohnten Klängen. Es ist ein dieser selten Momente, in dem Auditorium und Bühnenpersonal unsichtbar verbunden seinen.

Mit ihrer Begeisterung reißt Migdal das gesamte Ensemble mit. EBen noch zurückhaltend und Venezianisch kühl entfesseln die 18 Streicher nun einen wahren Rhythmus-Sturm. Tango mit Bogen geht doch. Aus dem innerlichen und reduzierten Abend wird eine hochemotionales Event. Auch wenn Piazzolla einige Referenzen an Vivaldi verwendet hat, der Unterschied ist das belebende Element.

Also wird schon nach fünf Minuten klar, dass dieses Konzert einfach viel zu kurz sein wird. Dennoch fügen sich die Zuhörer in ihre schweres Schicksal und quittieren jeden der vier Sätze mit Applaus aus der Kategorie Pop-Art. Die Solistin fühlt sich geschmeichelt, gibt das Lob zurück und verstärkt damit das temporäre Band zwischen den vor und denen auf der Bühne noch einmal.

Was bleibt, ist die Erinnerung an einen einmaligen Abend.







  



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