Montag, 3. Juli 2023

Acht Sichten auf die Welt

Ausstellung mit acht Fotografen im Kunsthaus Meyenburg

Meine Damen und Herren, Sie sind ausreichend gewarnt. Ich bin als Kulturphilosoph angekündigt worden und Sie müssen damit rechnen, dass nun einige ausschweifende und abschweifende Worte zu den hier vertretenen Werken und Künstlern folgen.

Dabei sollten Sie aber nicht alles für bare Münze nehmen und auf die Goldwaage legen. Es ist bestimmt nicht der Weisheit letzter Schluss. Verstehen Sie meine Worte eher als Anmerkungen. Ich möchte Sie zum Nachdenken anregen und dazu, nach meinen Ausführungen ins Gespräch zu kommen, ihre Meinung zu äußern und sich rege auszutauschen. Das haben wir bitter nötig nach drei Jahren des sozialen Stillstands.



Zum Thema

Aber kommen wir zum Thema. Journalisten und Fotografen haben eins gemeinsam. Ständig werden sie mit der Aussage konfrontiert „Das kann ich auch und das kann ich viel besser als du“. Dass solch eine These bezogen auf Fotografen nicht zu halten ist, dass werden Sie im Anschluss an meine Einleitung feststellen. Mit den Journalisten, da werden Sie noch bis zur nächsten Ausgabe der TA warten müssen. Oder auf den Bericht bei radio enno.

Wort und Bild

Überhaupt scheinen Fotografie und Reportage ein Begriffspaar, dass für viele Betrachter immer noch unlösbar miteinander verknüpft ist. Es sind zwei Zugänge zu dieser einen Welt, die verstanden werden will.

Aber sind es wirklich die zwei Seiten der Medaille „Weltverständnis“? Schließlich beweist doch schon der Begriff „Fotoreportage“, dass die Künstler ganz gut ohne die Schreiberlinge auskommen. Es gilt die alte Weisheit: 

„Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.“

Dennoch konnte sich die Foto-Branche nur sehr langsam aus dem Gefängnis der Realität lösen. Gerade in der DDR galt bis in die 80er Jahre in der Ausbildung und in der täglichen Arbeit der Fotografinnen und Fotografen das Dogma der Dokumentation. Im Gegenzug durfte nicht alles dokumentiert werden, was man gern dokumentiert hätte und gezeigt werden schon gar nicht. Was dies für einzelne Künstler und Künstlerinnen bedeutete, dazu können Sie gleich den einen oder anderen anwesenden Fotografen befragen.

Auf das Verhältnis zwischen Fotografie und Reportage möchte ich an anderer Stelle noch einmal zurückkommen

Bild und Bilder

Ohne Frage müssen die bildenden Künstler und Künstlerinnen den Pionieren der Fotografie immer noch dankbar sein. Denn die einen haben den anderen die Aufgabe abgenommen, das abzubilden, was man leichtfertig als Realität bezeichnet.

Erst seit 1929 gilt Fotografie als eigenständige Kunstform, als die ersten Aufnahmen in das neue Museum of Modern Art genommen wurden. Diese Anerkennung ist vor allem das Verdienst des Gründungsdirektors Alfred Barr. Dieser griff nicht nur auf die Vorarbeiten von Alfred Stieglitz und Edward Steichen zurück, die schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts Fotografien in Galerien gebracht hatten. Aber erst Barr erkannte die Fotografie im Kontext einer neuen ganzheitlichen Sichtweise.

Heute würde man ihn als gut vernetzt bezeichnen, seinerzeit war er ein Globetrotter in Sachen Kunst. Bei Besuchen und in der Auseinandersetzung mit dem Bauhaus und anderen Institutionen in Deutschland entwickelte er ein zeitgemäßes Kunstverständnis, in dem die Fotografie fortan einen festen Platz hat.

Seitdem sind 94 Jahre vergangen, die Welt hat sich radikal verändert und vor allem die Fotografie hat sich gewandelt. Sie ist nicht nur bunt geworden, sondern auch bunter. Die Dokumentationen des Alltags von Alfred Stieglitz wurden ergänzt mit tausenden Themen. Einige dieser Themen und Techniken sehen Sie hier in dieser Ausstellung.

Ich gebe Ihnen gleich mal ein aktuelles Kriterium an die Hand: Ist es Schwarz-weiß, dann muss es Kunst sein. Farbe kann jeder. Nicht wahr?

Die Fotografen des 19. Jahrhunderts waren in aller Regel auch Maler, die das neue Medium zur Umsetzung ihrer künstlerischen Ideen und für neue Darstellungsformen nutzen wollten. Zwar wurden viele Portraitmaler mit dem Siegeszug der Fotografie arbeitslos. Aber sie hatten nun genug Kapazitäten, sich mit dem Pinsel auf die Suche nach neuen Ausdrucksformen zu begeben. Der erste, der diesen Vorteil nutzte, war Pablo Picasso. Zeit seines Lebens machte er Portraitfotos zur Vorlage für seine Gemälde und Collagen. Gerhard Richter verwendet heute noch die Fotografie bei der Konzeption seiner Werke.

David Hockney versuchte in den 70-er Jahren das Verhältnis von Malerei und Fotografie neu zu definieren. Ausgiebig widmete er sich dem Fotorealismus. Mit dieser Spielart der bildenden Kunst schienen einige Künstler vor etwa 50 Jahren das Supremat der Fotografie akzeptiert zu haben. Es gab sicherlich triftige Gründe, warum der Fotorealismus in der DDR auf nur wenig Begeisterung traf.

Wer das Thema „Fotografie und Bildende Kunst“ vertiefen möchte, hat noch bis zum 28. Januar Zeit, sich in der Tate Modern Art Gallery in London die Ausstellung „Capturing the moment“ anzuschauen. Wer sehenden Auges durch diese Ausstellung hier geht, der muss aber gar nicht auf die Insel und kann zuhause bleiben.

Nordhausen schlägt London. Meine Damen und Herren, seien Sie ehrlich, das haben Sie nie zu träumen gewagt und nun ist es doch Wahrheit geworden. Allein dafür gebühren der Kuratorin Susanne Hinsching, ihrem Team und den Künstlern ausreichend Applaus.

Die Technik

Der schnöde Fachbegriff bezeichnet Fotografie als bildgebendes Verfahren. Dabei steckt viel mehr Poesie in diesem Wort, eine Poesie, die uns ein Lächeln auf die Lippen zaubern kann. Immerhin kann man „fotografieren“ auch übersetzen als „zeichnen mit Licht“. Es ist ein Kunstwort aus dem griechischen Substantiv „Photos“ für Licht und dem griechischen Verb „graphein“, welches die Tätigkeiten schreiben, zeichnen oder malen oder beschreibt.

Was viele Mitmenschen zu einer solch leichtfertigen Aussage wie „Das kann ich auch und das kann ich viel besser als du“ verleitet, ist die Tatsache, dass man lediglich auf einen Knopf, auf eine Schaltfläche drücken muss, um ein Bild zu erstellen. Über respekteinflößende Instrumente wie Staffelei, Palette, Hammer, Meißel oder Beitel verfügt der Fotograf oder die Fotografin nicht. Ihnen bleibt lediglich ein schnöder Auslöser.

Natürlich braucht man keine Ausbildung, um den Auslöser zu drücken. Man kann aber auch Stromkabel ohne Ausbildung verlegen. Was am Ende dabei rumkommt, das überlasse ich ihrer Fantasie.

Aber genau deswegen ist die Fotografie eine demokratische Kunst. Der Zugang ist einfacher und das Erlernen der Bildproduktion auch. Niedrigschwellig nennt man das heute. Wenn Sie auf die Biografien der hier vertretenen Künstler schauen, werden Sie feststellen, dass einige noch was ganz anderes gemacht haben, bevor sie Fotografen wurden. Oder Fotografie nur im Nebenerwerb betreiben.

Ach ja, an der Stelle eine weitere Auffälligkeit: Fotografieren ist eine männliche Domäne. Obwohl Dorothea Lange schon in den 30-er Jahren Bilder über die Folgen der Wirtschaftskrise ablieferte, die heute noch erschüttern, erarbeiten sich Frauen erst seit den 80-er Jahren Klick für Klick ihren Platz. Aber, meine Damen und Herren, sehen Sie es nach dem Ying und Yang-Prinzip. Spätestens nach dem nächsten Nordhäuser Grafikpreis ist die Balance hier in diesem Haus wieder hergestellt.

Die Komposition

Ich möchte mal wieder Phrasen dreschen. „Kunst kommt von Können“, heißt es so schön. Aber um mit einer Kamera Bleibendes zu kreieren, dazu bedarf es doch mehr als auf den Auslöser drücken zu können. Da müssen solche Faktoren wie Auflösung, Fokus, Belichtungszeit, Perspektive und Tiefenschärfe in Einklang gebracht werden, um etwas zu schaffen, das über den Tag hinausweist.

Manchen von uns gelingt dies gelegentlich in einem Schnappschuss, aber der macht noch keinen Meister und auch keine Meisterin. Die Kunst besteht darin, die genannten Faktoren und noch einige andere Bestandteile gewissermaßen auf Knopfdruck und das ständig in den geforderten Einklang zu bringen. Und dabei haben wir die Frage der Farbigkeit noch gar nicht in Erwägung gezogen. Denn das Ziel ist immer ein stimmiges Ganzes.

Jetzt muss ich Sie schon wieder vertrösten, meine Damen und Herren, denn was man beim Fotografieren, beim Zeichnen mit Licht, so alles berücksichtigen muss, das erklären Ihnen die anwesenden Fotografen gleich im Gespräch. Die kennen sich damit nämlich viel besser aus als ich. (Ich bin ja nur Journalist und zu deren Befähigungen habe ich schon zu Anfang was gesagt.)

Die Geschichte

Aber viel lange gibt es die Fotografie eigentlich schon? Zwischen 1826 und 1884 sorgen Männer wie Joseph Nicéphore Niépce oder George Eastman für enorme technische Fortschritte, die es ermöglichen nicht nur Licht zu fixieren, sondern dies auch in großer Zahl fast schon automatisch zu ermöglichen.

Aber wie das oftmals so ist. Die Wurzel gehen wohl auf die alten Griechen zurück. Schon im 4. vorchristlichen Jahrhundert wusste man auf den Penelopes, dass sich bestimmte Silberverbindungen verfärben, wenn man sie dem Licht aussetzt. Selbst Aristoteles soll sich dabei die Finger schmutzig gemacht haben.

Warum der Ausflug in die Wissenschaft? Silber, Jod und diverse andere Verbindungen wie Säuren und Basen waren im 19. Jahrhundert die chemischen Voraussetzungen für die Fotografie.

Die nächste Grundlage ist die Camera obscura, auf hochdeutsch mit „seltsamer Raum“ zu übersetzen. Hier fällt Licht durch ein einfaches Loch auf eine abgedunkelte Rückseite und erzeugt dort ein spiegelverkehrtes Abbild. Damit gehört Verzerrung auf jeden Fall zu den Geburtswehen der Fotografie.

Die Camera obscura haben wir den optischen Experimenten der Antike zu verdanken, aber erst in der Renaissance entdecken Künstler und Wissenschaftler dieses Gerät wieder. Auch Leonardo da Vinci soll mit der Lochkamera gearbeitet. Achtung, jetzt kommt eine steile These: Kennen sie das Grabtuch von Turin? Es soll das Gesicht des frisch gekreuzigt Jesus zeigen.

Dieses Wunderwerk wird wohl ein Produkt von da Vinci sein. Der Universalgelehrte soll ein Leinentuch mit einer Silberlösung bestrichen haben und dann mittels einer Camera obscura mit seinem eigenen Konterfei belichtet haben. Angeblich war es eine Auftragsarbeit für den damaligen Regenten von Savoyen.

Was dafür spricht? Anhand von Gewebeproben hat man festgestellt, dass das Grabtuch nicht aus der Antike, sondern wohl aus dem späten Mittelalter oder der Renaissance stammt.

Damit wären wir wieder beim Verhältnis von Fotografie und Wirklichkeit. In Zeiten einer Bilderflut und KI stellt sich diese Frage immer wieder und immer dringender. Nur die Fachleute haben neulich erst bei genauem Hinschauen erkannt, dass Papst Franziskus doch nicht zur Kirche der erleuchteten Hartreimer konvertiert ist und fortan das Geschäft des Rappens betreibt.

Gefälschte Bilder

Zu einer der populärsten Wortschöpfungen der digitalen Welt gehört das Verb „Photoshoppen“. Nein es bezeichnet nicht den Kauf hochwertiger Fotografien, sondern das Abändern vorliegenden Bildmaterials mittels einer Software. Wofür früher die Fähigkeiten von Fachleuten nötig waren, das wird heute mit Maus-Klick und Regler schieben erledigt.

Vergleichen Sie mal alte Aufnahmen und aktuelle Bilder. Was wird ihnen auffallen? Die Welt ist heute viel bunter und die Farben sind viel kräftiger, viel satter. In tausenden von Internet-Foren stolpern sie über Millionen von Bildern, deren Farben so fett sind, dass sie Augenkrebs bekommen, deren Konturen so scharf sind, dass sie befürchten müssen, sich beim Betrachten die Finger zu schneiden.

Wir sind also schon vor langem in das Stadium eingetreten, in dem die Fotografie nicht die Realität ablichtet, sondern die technischen Fähigkeiten der bildgebenden Verfahren die Realität bestimmt.

Doch wir sind schon einen Schritt weiter. War das Schönen der Realität vor noch gar nicht so langer Zeit ein Teil der kreativen Bildgestaltung, sind diese Prozesse mittlerweile automatisiert.

Glauben Sie mir, meine Damen und Herren, auch meine Welt ist viel bunter seitdem ich mit einem Gerät fotografiere, auf dem ein Apfel prangt. Das macht das Gerät sogar ohne meine Einwilligung. Aus dem „Life according to Agfa“ von 1992 ist 30 Jahre später das „Life made by Apple“ geworden.

Wo ist das Ende der Übersättigung? Diese Frage kann nur jeder selbst beantworten.

Auf jeden Fall wurde mir zugesichert, dass hier in dieser Ausstellung nur Werke zu sehen sind, die eben nicht gephotoshoppt wurden und einige der Anwesenden wissen nur zu genau, dass ich in solchen Fragen nicht mit mir scherzen lasse.

Die Motive

Wie ich vorhin schon sagte, ist die Fotografie bunter geworden, weil das Spektrum an Themen sehr breit geworden ist. Sie immer noch auf Dokumentation zu reduzieren, das ist so was von 1929. Wir haben es uns aus gutem Grund abgewöhnt, Malerei und Bildhauerei mit der Forderung nach Realitätstreue zu konfrontieren. Aber kaum sehen wir ein Foto, schon verfallen wir in dieses antiquierte Verhaltensmuster.

Andreas Gursky sagt hingegen, dass Fotografie verhüllen muss, um die Realität deutlich zu machen. Erst dank der Maskerade dringt der Betrachter zum Wesentlichen vor. Der Mann muss es wissen, schließlich ist er Professor an der Kunstakademie Düsseldorf. Gursky macht auch kein Geheimnis daraus, dass er sich schon seit Jahren digitaler Manipulation bedient.

Präsentation, Dokumentation, Verfremdung und Verhüllung, diese Grundsätze fotografischen Schaffens finden Sie in dieser Ausstellung gleichberechtigt und gleichwertig wieder. Sie dürfen selbst entscheiden, ob es Gegensätze sind oder Ergänzungen.

Schauen sie mal, ich habe Ihnen was mitgebracht. Ein handelsübliches Objektiv. Laut Hersteller hat es einen Durchmesser von 58 Millimetern. 58 Millimeter sind wahrlich nicht viel. Da passt die ganze Welt doch gar nicht. Denken Sie mal scharf nach, bei 58 Millimetern ist es doch unmöglich, die ganze Realität zu erfassen. Also kann uns die Fotografie technisch bedingt immer nur einen Ausschnitt liefern. Pars pro toto sagen wir Philosophen, einen Teil, der fürs Ganze steht. Für welchen Teil man sich entscheidet und ob der dann pro toto steht, darin besteht die Kunst des Fotografierens. Deswegen gibt es Bilder, die uns viel sagen, und deswegen gibt es Bilder, die wir selbst besser machen könnten.

An dieser Stelle einige Worte zur Konzeption der Ausstellung, die ist nämlich einfach und überzeugend: Es geht nicht um Vergleich unterschiedlicher Lösungen zu gleichen Aufgabenstellungen. Jeder Künstler hat seinen eigenen Raum bekommen und kann dort sein Schaffen präsentieren.

Damit haben wir acht Werkschauen, in ihrer Gesamtheit einen Eindruck geben über die Fotokunst zwischen Northeim im Westen, Leipzig im Osten, Nordhausen im Norden und Weimar im Süden. Oder müsste ich sagen Rügen im Norden und Basel im Süden? Nicht zuletzt durch das Internet ist Fotografie stärker globalisiert als andere Künste. Ein Foto kann man als E-Mail verschicken, versuchen Sie das mal mit einer Plastik aus Holz oder gar aus Bronze. Macht es also noch Sinn, nach Wohnorten zu unterscheiden?

Warum aber die Fotoreporter hier unten im Basement zu sehen sind und die hehren Künstler nur über die Treppen erklommen werden müssen, dazu kann ich nur Vermutungen anstellen. Befragen sie dazu die Kuratorin Susanne Hinsching.

Rundgang

Nun möchte ich Ihnen die Künstler und ihre Werke näherbringen. Heutzutage muss man Sensibilität bei dem Thema an den Tag legen, aber gendern geht hier heute aus bekannten Gründen nicht.

Alphabetisch ist altbacken, also nehme ich Sie mit auf eine kleine Reise durchs Haus. Wir starten hier unten und während ich rede, können sie simultan überprüfen, ob ich dummes Zeug rede. Zumindest auf den ersten beiden Stationen.

 

Hubert Jelinek

Ich freue mich besonders, Ihnen Hubert Jelinek vorstellen zu dürfen, schließlich kennen Hubert und ich uns schon seit Jahrzehnten. 'wir haben viel miteinander gelacht und auch ein wenig übereinander


Sie hingegen dürfen sich besonders freuen, denn Sie erleben hier heute eine Premiere. Man mag es kaum glauben, es ist aber wahr. Nach mehr als vierzig Jahren fotografischen Schaffen stellt Hubert Jelinek hier und heute zum ersten Mal. Wie gesagt: Nordhausen schlägt London.

Aus seinem umfangreichen Oeuvre präsentiert er Sportbilder. Es sind keine Schnappschüsse, sondern Bilder, die in Sekundenbruchteilen konstruiert wurden und uns als pars pro toto das Wesen des Sports offenbaren: Dynamik, Schwerelosigkeit und Anspannung.

Persönliche Anmerkung: Vielleicht sind seine Bilder so hintergründig, weil Hubert nie selbst Sport betrieben hat. Der Beobachter schaut eben tiefer auf den Grund der Sache als der Akteur.

 

Christoph Keil

Er ist mit Abstand der jüngste unter den hier vertretenen Künstler und einer derjenigen, die Fotografie im Nebenerwerb betreiben. Warum er trotz der zahlreichen Auszeichnungen den Weg in den Staatsdienst vorgezogen hat, dass müssen Sie ihn schon selbst fragen. Vielleicht hat er einfach zu lange als Freier für die TA gearbeitet

Auch er zeigt Beiträge aus seiner Arbeit als Sportfotograf. Es sind vor allem Schnappschüsse aus skurrilen Szenen des Wettkampfes oder des Trainings. Das erfordert ein gehöriges Maß an Vorahnung, um im rechten Augenblick den Auslöser zu drücken. Capturing the Moment eben, den Moment einfangen und unvergänglich machen. Dieses Gefühl für die Situation speist sich aus jahrelanger Erfahrung.

Aber er ist nicht nur gut darin, die Szene zu erfassen. Wenn ich von hier aus nach vorne rechts schaue auf die Portraits schaue, dann weiß ich, dass Christoph Keil auch zum Wesen der Sportler vordringt.


 Marco Kneise

Sollte mich jetzt, hier und heute jemand auffordern „Stellen Sie mir doch mal Marco Kneise vor“, dann werde ich antworten „Oh Mensch, gucken Sie doch einfach mal in die Zeitung. Da sehen Sie täglich Beweise für die große Klasse dieses Mannes. Das sind Portraits aus einer anderen Liga.“


Damit habe ich schon Andeutungen zu einem Teil seiner Werke geliefert. Doch Marco Kneise zeigt uns diese Mal keine Portraits, sondern Werke aus dem Alltag des Fotoreporters. Er setzt die alte Forderung von Robert Capa um. Er geht dicht dran, aber nicht zu dicht. Zwischen Fotograf und Objekt bleibt die Respektzone erhalten. Damit zeigt er das Erhabene im Alltäglichen. Man muss schon Menschenfreund sein, um so etwas zu können.

 Marco Kneise steht im Widerspruch zu sich selbst. Der andere Teil seiner Beiträge ist das eigene Kontrastprogramm. Diese Aufnahmen heben in ihrer Komposition das Gegenständliche in den Rang des Abstrakten. Das Bekannte wird verfremdet und verzaubert, bis es uns eine neue Sichtweise eröffnet. Auch das muss man erstmal hinbekommen.

 

Roland Obst

Meine Damen und Herren, wenn Sie selbst jetzt noch ‚ne halbe Stunde Geduld haben, dann erzähle ich Ihnen ein wenig aus der Biografie von Roland Obst und listete seine zahlreichen Ausstellungen auf. Aber ich mache es kurz: Auch Roland Obst kam über Umwegen zur professionellen Fotografie, war lange Zeit in der Reportage beheimatet, hat bei der TA auch in Nordhausen gearbeitet und ist seit 8 Jahren im Unruhzustand. Alles weitere können Sie auf dem Banner im Jagdzimmer nachlesen.

Mit den Beiträgen in dieser Ausstellung gibt uns Roland Obst einen Einblick in eine Welt, die uns ansonsten verborgen bleibt. Es ist eine mystische Welt voller Elfen und Nixen. Er zeigt uns die Unterwasserwelt des Salzaspring. Es ist eine Quelle im Karst. Wir als Betrachter tauchen mit ihm hinab in eine unbekannte Welt voller unbekannter Lebensformen mit ihrem ganz eigenen Zauber.

Mein Tipp: Stellen Sie sich nicht vor die Bilder. Setzen Sie sich auf die Bank, dann sind Sie auf Augenhöhe mit dem Wasserspiegel. So entsteht die Illusion, Sie würden selbst tauchen. Aber Sie müssen nicht mit Schnorchel und Flossen ins Jagdzimmer.

 

Olaf Martens

Wie Hr. Uhley vorhin sagte, ist auch Olaf Martens ein Produkt des Foto-Clubs Nordhausen. Von hier aus zog er in die weite Welt. Es ist gerade ein gutes Jahr her, dass er in Nordhausen, das er als seine Heimat bezeichnet, eine umfassende Werkschau zeigte. Damals ging es quer durch die Jahrzehnte, durch seine Entwicklung hin zum eigenständigen Stil. Ich gehe mal davon aus, dass sie allesamt „Heimat und Tapeten“ seinerzeit hier im Hause besucht haben. Ansonsten sollten Sie jetzt so tun als ob.

Hier und heute können Sie den Endpunkt betrachten. In dieser Ausstellung zeigt Martens Bilder, die in außergewöhnlicher Weise an der Grenze zum Surrealismus wandeln. Es sind Menschen, Körperteile und Gegenstände, die in kräftigen Farben in traumhaften Szenen in ungewohnten Kombinationen aufeinandertreffen.

Es ist Bilder, die uns herausfordern, weil sie entschlüsselt werden wollen. Dafür gibt es keine DIN-Norm und deswegen bleibt einiges unentdeckt und wartet auf den nächsten Besuch. Nur so viel sei verraten: Es geht irgendwie immer um die Absurdität des Lebens.

Damit hat sich Olaf Mertens endgültig freigemacht vom Dogma der Dokumentation, unter dem er nach eigener Aussage lange gelitten hat.

 

Marcel Krummrich

Auch Marcel Krummrich kam über verschlungene Pfade und mit Verzögerung zur professionellen Fotografie. Aber das scheint immer ein Vorteil zu sehen, wenn man erst das Leben außerhalb der Blase Kunstbetrieb kennenlernt. Mittlerweile ist Marcel Krummrich fest verankert im Kunstbetrieb. Die Liste seiner Ausstellungen ist etwa so lang wie die von Roland Obst und der hat einige Jahre Vorsprung. Zudem wurden Werke von Marcel Krummrich mittlerweile in die wichtigsten Sammlungen Thüringens aufgenommen.

 Ich sprach vorhin schon von den Fragen zum Verhältnis zwischen Fotografie und Malerei. Diese stellen sich bei Marcel Krummrich erneut und in beeindruckender Weise. Seine Bilder wirken wie die Stillleben der flämischen Meister. Da sprüht es nur so von barocker Opulenz und Detailtreue. Das geht bis zum dicken Farbauftrag. Was wie zufällig erscheint, ist genau arrangiert. Hinter all der Symbolik und in den dunklen Ecken seiner Bilder lauert das Motiv der Vanitas, der Vergänglichkeit. Frisch und kräftig in der Momentaufnahme werden die Blumen irgendwann verblüht und die Früchte vergammelt sein. Aber bis dahin erfreuen wir uns gemeinsam an der Kraft, mit der sie aus den Bildern von Marcel Krummrich zu uns sprechen.

 

Tilmann Graner

Meine Damen und Herren, Tilmann Graner kennen Sie alle aus einem anderen Haus. Er geht dem ehrbaren Beruf des Orchestermusikers nach und von seinem außergewöhnlichen musikalischen Schaffen konnten wir schon profitieren. 

Auch Tilmann Graner kann schon auf mehrere Ausstellungen seiner Bilder verweisen. Mit „Out oft he Whites“, Achtung Plural, zeigt er hier Werke, denen jegliche Farbigkeit abhandengekommen ist. Wie schon sagte: Schwarz-Weiß? Es muss wohl Kunst sein.

Es sind Bilder, die auf Reisen am Polarkreis und in den Bergen entstanden sind. Die Fotos werden vom Weiß des Schnees dominiert. Dieser verbirgt nicht nur und deutet nur an, was unter ihm zu finden ist. Das, was gerade so eben noch sichtbar ist, erfährt eine enorme Aufwertung.

Es ist aber auch ein Leichentuch. Damit wird das unschuldig Weiß, oder eben die Weiße, umgedeutet zur Farbe des Todes. Somit sind wir Betrachter einem lebensfeindlichen Umfeld ausgesetzt und stellen uns die Fragen nach dem Essentiellen. Ob eine Kamera überlebenswichtig ist, muss jeder beantworten. Das ist schon ein starkes Stück, lieber Tilmann.

 

Roy Müller

Zum Abschluss unserer kleinen Tour durch das Kunsthaus kommen wir zu dem Fotografen mit der weitesten Anreise. Mit Roy Müller bringen wir eine internationale Sichtweise ein, doch der gebürtige Schweizer lebt schon seit vielen Jahren in Erfurt und arbeitet an der Bauhaus-Universität in Weimar. 

Eben gerade sagte ich schon mal: Wenn es Schwarz-Weiß ist, dann muss es Kunst sein. Die Fotos von Roy Müller sind nicht Kunst, weil die Farbigkeit reduziert ist. Sie sind Kunst, weil diese Reduktion uns als Betrachter zum Wesentlichen bringt.

Wir sehen Tiere vor weißem Hintergrund und am Rand der Abstraktion. Dadurch erfassen wir intuitiv ihre Situation und ihre Besonderheit. Wir schauen nicht in Brehms Tierleben, sondern auf diesen einen ganz besonderen Schwan oder auf diesen einen ganz besonderen Kranich.

Weitere Fotos zeigen Tiere, die vor dem dunklen Hintergrund fast verschwinden. Damit ordnet Müller sie in ihre Umwelt ein, stellt sie in den Gesamtzusammenhang. Auf den Ersten Blick steht Müller damit im Widerspruch zu sich selbst. Verstehen Sie es aber nicht als Widerspruch, sondern als Ergänzung, als die andere Seite der Medaille. Als den anderen Teil der Realität, der durch ein Objektiv passt.

 

Der Schluss

Was all diese Bilder mit uns machen? Sie stellen uns wichtige Frage und sie stellen uns ruhig in einer hektischen Zeit. Dafür sage ich schon einmal Danke und auch Danke an Sie, meine Damen und Herren, für ihre Geduld mit ihr.

Ach, eins noch, bevor ich es vergesse: Bilder kaufen ist gut fürs Karma. Das erspart Ihnen drei Yoga-Sitzungen

 

Ich wünsche Ihnen angenehme Gespräche und einen schönen Abend.

 




Mittwoch, 28. Juni 2023

Die Quintessenz des Theaters

Das Beste zum Schluss: DT spielt Cyrano de Bergerac

Besser kann das Ende der Spielzeit nicht sein und Annette Pullen ist der große Wurf gelungen. Mit einer furiosen Inszenierung von „Cyrano de Bergerac“ in der Bearbeitung von Martin Crimp verabschiedet sich das Deutsche Theater Göttingen in die Sommerpause.

Es ist die Quintessenz des Theaters. Komik, Slapstick, Selbstironie, Zeitkritik, Liebenund andere große Gefühle und zum Schluss tiefe Verzweiflung. Diese Inszenierung zeigt alles, was am Theater so fasziniert. Am Ende bleibt die Einsicht, dass man das Leben von drei Personen nicht auf einer Lüge aufbauen kann. Da ist tiefster Schmerz vorprogrammiert.

Martin Crimp hat das Werk von Edmond Rostand in die Jetztzeit gebracht. Regisseurin Annette Pullen mischt in ihrer Inszenierung die Zeiten, um deutlich zu machen, dass es das alles irgendwie schon mal und immer gab. Damit verhandelt sie auf eindrucksvolle Weise die große Gefühle der Menscheit.

Perücken und Sonnenbrillen, Rüschenhemd und T-Shirt. Auch die Kostüme von Katharina Weissenborn sind ein Mix der Jahrhunderte und verstärkten damit den Anspruch auf Überzeitlichkeit. Das bereit dem Publikum Freude.

Die Personen

Das Landei Christian kommt in Stadt und stolpert gleich in die Pariser Theaterboheme.cEr ist auf dem Weg zum Militär und dieser Einstieg erinnert doch sehr an den vAuftakt von „Hair“. Auch dessen Verwirrspiel endet tödlich. Doch wer sich da von wem hat inspirieren lassen, die Frage ist zweitrangig.

Auf jeden Fall wird klar, dass sich die Dichter- und Dramatiker-Szene sich schon vor 400 Jahre mit den Problemen von heute herumärgern musste, mi
t Sprachpolizei, mit offener und versteckter Zensur, mit zweifelhaften Gönnern, mit Halbbegabten und mit talentfreien Protegés.

Auf jeden Fall überzeugt Daniel Mühe in seiner Rolle als der Überforderte schon an dieser Stelle. Die zögerliche Stimme und die Körperhaltung sind Schüchternheit pur. Da spielt Ronny Thalmeyer in der Rolle des Grafen de Guiche in einer anderen nGewichtsklasse. Mit enormer Präsenz und einer Stimme, die keinen Widerspruch duldet, beherrscht er die Bühne. Seine spröden Auftritte als tollpatschiger Liebhaber machen die Figur rund.

Nathalie Thiede in der Rolle der umworbenen Schönheit Roxane gelingt ein anspruchsvoller Spagat. Im ersten Akt verkörpert sie mit Elan und ausholenden Bewegungen mitreißend die frisch Verliebte. Ihr fehlt eindeutig die Reife, um den offensichtlichen Betrug gleich zu durchschauen. Thiede Spiel eröffnet sogar die Frage, ob Roxane in ihrer Oberflächlichkeit betrogen werden wollte. Im zweiten Akt ist ihr beredtes Schweigen und das versteinerte Gesicht das Zeichen der tiefen Enttäuschung. Roxane ist am Ende ihrer Leidensfähigkeit.

Aber es ist eindeutig Gabriel von Berlepsch, der dieser Inszenierung seinen Stempel aufdrückt. Die Grenzen zwischen Darsteller und Rolle verschwinden und Berlepsch schafft es, alle Facetten des nicht einfachen Helden Cyrano gleichwertig auf die Bühne zu bringen. Er tobt, wenn er toben muss, und er schwelgt, wenn er schwelgen muss. Er ist Raufbold und Schwärmer zugleich, das sind die beiden Seiten derselben Person.

Es ist gelungene Gestik. Brust raus und Rücken straff. Mit dem Degen in der Hand stolziert von Berlepsch wie ein Gockel durch die Arne. Kaum trifft er auf Roxane, macht er sich klein, macht sich rund, zieht die Schultern ein und senkt die Lautstärke um sechs Dezibel. Honig mischt sich in die knarzige Stimme. Aber er schaut mit ihr zusammen nie in den Himmel. Der Raufbold und Dichter wagt nichts und bleibt ein Theoretiker der Liebe.

Es sind die poetischen Momente, wenn Cyrano mit großen Gesten und Begeisterung seine Texte in die Luft schreibt, wenn er seine Mitmenschen dazu einlädt, zum Himmel aufzuschauen, die diese Aufführung so sehenswert machen. Sie steigern diebFallhöhe ins Unendliche und deswegen wird der Schmerz am Ende umso größer.

Es sind diese Momente, in denen das Publikum hofft, Cyrano würde endlich reinen Tisch machen und das Possenspiel zu einem guten Ende bringen. Man möchte Sally Brown zitieren, die ihrem Bruder Charlie zuruft: „Nun küss sie schon, du Idiot!“bCyrano fehlt die Traute und er lebt lieber in der Lüge. Oder steckt hinterb seiner Selbstlosigkeit am Ende Berechnung?. Auf jeden Fall scheitern mit ihm zusammen alle Beteiligten an seinem Machismo.

Der Absturz

Das heitere Treiben im lichtdurchfluteten ersten Akt kontrastiert Annette Pullen mit einem düsteren zweiten Akt. Die Beleuchtung wird nun zum bestimmenden Element auf und neben der Bühne. Das zeigt sich vor allen in der Schlacht von Arras.

Annette Pullen inszeniert diese Szene wie einen Schützengraben in Flandern dreihundert Jahre später. Taschenlampen sind die einzige Beleuchtung und die Militärs sprechen die Sprache der Technokraten des Todes. Da schwelgt nichts im Barocken und damit untermauert die Regisseurin wieder den Anspruch auf Überzeitlichkeit.

Die Realität ist eingedrungen in die Welt der Poeten und Narren. Der Krieg bedeutetbauch für Cyrano, Christian und Roxane eine Zeitenwende. Die Ménage-à-trois, dieses poetische Lügengebäude, hält dem äußerem Druck nicht stand. Als Christian die Zusammenhänge und das Ausmaß des Selbstbetrugs erkennt, sucht und findet er den Tod. Wenigstens einmal im Leben kann er wsich als Held inszenieren.

Der Rest ist nur noch Schmerz. Nach dem Krieg ist nichts mehr so, wie es einst war. Dramatiker Lignière istvauf Krücken angewiesen und macht auf Seifenoper. Die Welt der Boheme liegt in Trümmern und Dichterin Leila Ragueneau erkennt, dass niemand mehr auf Poesie und Reime angewiesen ist. Also ist Cyranos Tod nur logisch. Mit Verzögerung stirbt er symbolträchtig an den Spätfolgen der Schlacht von Arras.

Roxane bleibt zurück mit der einsamen Erkenntnis, dass alles anders gekommen wäre, wenn sie schon früher deutlich gemacht hätte, dass schöne Verse ihr mehr bedeuten als schöne Nasen.

Gelungen ist nur ein unzureichendes Urteil für diese Inszenierung. Annette Pullen und demb Team des DT Göttingen ist gelungen, in 100 Minuten alles das zu zeigen, was die Faszination der Bühne ausmacht. Es ist eine Inszenierung; die unter die Haut geht mit ihrer direkten Ansprache und mit den Verweisen über die Zeiten hinweg.







Dienstag, 27. Juni 2023

Mozart und Marley sind Cousins

Gelungenes Crossover: Uwaga! bei den Kreuzgangkonzerten

Schubladen haben keinen Sinn und die Grenzen sind fließend. Das ist das Konzept von Crossover. Mit Uwaga! war am Freitag einer der Pioniere dieser musikalischen Spielart zu Gast bei den Kreuzgangkonzerten. Das Quartett hat deutlich gemacht, dass Crossover nichts für den Kopf ist sondern für das Tanzbein. Er kann auch Spaß machen.

Im Südharz war bisher nicht bekannt, dass die Violine eigentlich die kleine Schwester der E-Gitarre ist. Diese Wissenslücke haben Christoph König und Maurice Maurer am vergangenen Wochenende geschlossen. Ein ums andere Mal duellierten sich die beiden Virtuosen wie einst Peter Frampton und Jimmy Page und andere Gitarrenhelden der 70-er Jahre.

Um so etwas leisten zu können, muss man sein Streichinstrument schon exzellent beherrschen. Es verlangt zudem ein gewisses Maß an blindem Verständnis. Nur wer ganz genau hinhörte, bemerkte die zwei bis drei verpatzten Einsätze. Doch das tat der Stimmung keinen Abbruch.

Die Abwesenheit von Notenständern ist die nächste Parallele zur Rockmusik. Alles, was ertönt, liegt irgendwo zwischen knallhart einstudiert und frisch improvisiert. Nur Kontrabassist Jakob Kühnemann schaute gelegentlich aufs Blatt.

Dabei ging der Abend so ruhig los. Maurer schwelgte auf der Violine in weit ausholenden Bewegungen in Melancholie, dann bekam er Unterstützung von Miroslav Nisic am Akkordeon. Als dann König und Kühnemann einstimmten, nahm der Zug durch die musikalischen Welten deutlich an Fahrt auf und dieser Zug hatte keine Bremsen.

Es ging kreuz und quer durch den Kräutergarten, die Jahrhunderte und die Stilrichtungen. Balkan Beats trafen auf Barock und die zwei Geigen von Johann Sebastian Bach klangen, als wäre es eigentlich ein Song von Led Zeppelin. Bei der Gelegenheit hat das Quartett gleich noch eine Wissenslücke geschlossen: Wolfgang Amadeus Mozart war im tiefsten Herzen Rastafari und Cousin des Reggaegotts Bob Marley.

Uwaga! mischen seit 10 Jahren nicht nur erfolgreich Klassik und Rock. Die Basis ist vielmehr der Jazz und sein Verständnis des gemeinsamen Improvisierens und Entwickelns. Klingt trocken, geht aber ab wie The Who ohne Keith Moon.

Die Rhythmusgruppe fehlt im Quartett. Doch das brauchen die vier Musiker auch gar nicht. Denn eine Geige kann auch eine Bongo sein und ein Akkordeon ersetzt sowie ein vollwertiges Drumset.

Der Zug hatte keine Bremsen, aber immerhin einen kleinen Gang. Dass Uwaga! auch die langsamen Melodien beherrscht, bewiesen die vier mit der Eigenkomposition „Kein Weltuntergang“. Die fünf Minuten 45 zum Durchatmen waren an der Stelle auch nötig.

Doch die größte Überraschung lauerte an diesem Abend im Hintergrund. Eine dreiviertel Stunde lang mimte Jakob Kühnemann den soliden Bassisten, der für andere den musikalischen Teppich auslegt. Dann setzte er zu seinem ersten Solo an und eröffnete eine neue Klangwelt.

Er strich, er zupfte, er klopfte, er groovte und swingte und der Zuhörer wünschte, dass es niemals aufhören möge. Musste es dann doch irgendwann, aber Kühnemann konnte an diesem Abend mehrfach beweisen, dass er seine zahlreichen Auszeichnungen zu Recht bekommen hat.

Anfangs fremdelte das Publikum ein wenig mit der überbordenden Darbietung, aber spätestens nach dem Bach-Werk in der Led-Zeppelin-Version hagelte es Beifall. Doch Headbangen hat sich dann keiner getraut. Einzig der Zuschauerzuspruch hätte größer ausfallen können, ja müssen. Doch bestimmt bekommen die Südharzer noch einmal das Angebot, zusammen mit Uwaga! Wissenslücken zu schließen. Das Angebot sollten sie nicht ablehnen.




Dienstag, 23. Mai 2023

Wagners Welt in 105 Minuten

Weimar Brass und Markus Fennert präsentieren Ring in Rekordzeit

Wagner-Fans müssen dicke Bretter bohren und Sitzfleisch haben. Laut anerkannter Zeitrechnung dauert "Der Ring des Nibelungen" mit allen vier Teilen mehr als 16 Stunden. Dass dies auch kürzer geht, haben Markus Fennert und das Quintett Weimar Brass am vergangenen Wochenende bei den Kreuzgangkonzerten bewiesen. Sie schafften den Parforceritt durch mystische Gefühlswelten in 105 Minuten.

Trotz der Rekordzeit vermisst man nichts. Das ist vor allem Uwe Komischke und dessen Arrangement zu verdanken. Der Trompeter hat Wagners bombastisches Werk auf das Wesentliche reduzieren. "Der Ring" braucht lediglich vier Stimmen: Trompete, Posaune, Horn und Tuba. Alles andere ist Gedöns und Streicher werden überbewertet. Gerade die Reduzierung auf die Blechbläser entspricht der düsteren Grundstimmung in Wagners Werken. 

Zudem ist es Komischke gelungen, aus Wagners überbordender Klangwelt die bestimmenden Melodien herauszufiltern. Das macht den Ring und seine viert Teile ohne bleibenden Schäden konsumierbar. 

Das Quintett ist ein Ensemble aus Talent und Erfahrung. Vor allem Emanuel Jean-Petit-Matile, der an diesem Abend Jörg Brückner am Horn vertritt, kann sich mehrfach als Solist auszeichnen und ist mehr als ein Ersatz. Zudem ist die Kombination aus Parforceritt und Horn offensichtlich gelungen. 

Uwe Komischke und Andrea Marques Sancho an den Trompeten erweisen sich als gutes Duett. Besonderes ihr Wechselspiel steckt voller Leben und kontrastiert mit seinen hellen Momenten diese finstere Grundstimmung.

Nun ist das Zusammenspiel aus Erzählung mit sonoren Bass, düsteren Texten und Musik kein neues Konzept. Carlos Perón hat seit den 90er Jahren mehrere solcher Projekte mit bleibendem Erfolg umgesetzt. Aber hier kommt das schauspielerische Talent von Markus Fennert hinzu und das öffnet eine Dimension, die ähnliche Umsetzungen nicht bieten.

Dem Schauspieler gelingt es gleich zu Beginn, die sprachlichen Herausforderungen eines Wagner-Textes zu verdeutlichen. Mit Freude zitiert Fennert den Meister. Sein "Weia! Waga! Woge, du Welle! walle zur Wiege! Wagala weia! Wallala weiala weia!" scheint geradezu aus dem Mund des Redners zu sprudeln. Ähnliche Perlen der verkrampften Alliteration streut Fennert im Laufe des Programm immer wieder unters Publikum.

Es ist nicht klar, ob Fennert sich an solchen Wortungetümen erfreut oder ob er bereits in den Bereich der Karikatur übergesiedelt ist. Auf jeden Fall präsentiert er eine erstaunliche Erkenntnis: Richard Wagner ist der Erfinder von Yoda-Sprech. Bedenke, gut Schauspieler du sein musst.

Das wirkt im Kreuzgang umso besser, weil der Vortrag, das mittelalterliche Gemäuer und die pointierte Beleuchtung ein stimmiges Gesamtbild sind, das die Atmosphäre der finsteren Nibelungenzeiten begreifbar macht. 

Markus Fennert reduziert den Vortrag auf die bestimmenden Elemente, auf den roten Faden gewissermaßen und der ist blutrot. Ständig wird betrogen, gemeuchelt und gemordet. Die Götter sind nur allzu menschlich. Eifersucht und enttäuschte Liebe sind ihre Triebfedern und der "Ring des Nielungen" steckt voller Sex and Crime. Nächste Erkenntnis: Wagner ist das Original und "Games of Thrones" und der "Herr der Ringe" nur saftlose Coverversionen.

Damit bietet Fennert den Nicht-Wagnerianern endlich mal den Durchblick durch das Gestrüpp des Mammutwerkes. Er wird zum Wegweiser im Beziehungsdschungel. Verschlungene Pfaden werden einigermaßen begradigt. Aber der mündliche Vortrag steht streckenweise so sehr im Vordergrund, dass der musikalische Beitrag fast zum Beiwerk wird.

Die Inszenierung stellt somit Wagners Unterfangen, die absolute Musik zu schaffen, sehr infrage. Alles, was an diesem Abend geblasen wird, ist zweckgebunden. Es hat lediglich die Aufgabe, Stimmung zu erzeugen und den Text zu bekräftigen. Mit dieser Tonmalerei wird Richard Wagner zum Vorreiter der Programmmusik. Das ist das Transzendente, das über den Momente hinausweisende an diesem Abend. Weimar Brass und Markus Fennert gelingt es, den Titanen Wagner vom Sockel zu holen und zu erden. Dafür haben sie reichlich Applaus verdient.



Freitag, 21. April 2023

Eher ein Kinderbuch für Erwachsens

Neuauflage des Dschungelbuchs überzeugt mit Ästhetik

Mogli geht es wie Pu. Ebenso wie der Bär mit geringem Verstand ist auch er Walt Disney in die Hände gefallen. Dieser hat den Jungen aus dem Dschungel in Zuckerguss ertränkt, geglättet und postum verstümmelt. Da kann man dem Steidl Verlag nur dankbar sein, dass er nun eine Neuauflage des „Dschungelbuchs“ veröffentlicht hat. Denn das Werk von Rudyard Kipling ist schroff und bestimmt nicht niedlich. Damit taugt es bestens zur Diskussion um Realismus und Werktreue.

Herausgeber Andreas Nohl hat das Dschungelbuch oder korrekterweise die Dschungelbücher neu übersetzt und neu sortiert. Das Dschungelbuch versammelt in zwei Bänden Kurzgeschichten und Erzählungen, in deren Mittelpunkt meist der Waisenjunge Mogli steht. Nohl hat Kipling Werke in eine Reihenfolge gebracht, die es einfacher macht, den Weg des „Menschenwelpen“ vom Findelkind zum Herrscher des Dschungels nachzuvollziehen. Dieses Werk ist der Prototyp des Entwicklungsromans.

Rudyard Kipling ist ein Kind seiner Zeit. Da ist vor allem die schwülstige Sprache des späten 19. Jahrhunderts. Jedes Teil der Bandwurmsätze ist mit einer tieferen Bedeutung aufgeladen. So etwas findet heute sicher wieder ein Publikum. Durch jeden Satz schimmert Menschenverachtung und Hass auf die Zivilisation durch. Solch Pathos hat wieder Konjunktur.

Es ist vor allem eine kraftvolle Sprache, der es gelingt, die Leser in den Bann zu ziehen. Das Gewirr aus Haupt- und Nebensätzen weckt Assoziationen. Stellenweise scheint es undurchdringlich wie der Urwald selbst. Es wird klar: Nur wer die Anspielungen richtig zu deuten weiß, kann in diesem Dschungel überleben.

Deswegen scheint man Kipling Glaubwürdigkeit. Die Kongruenz aus Sprache und Gegenstand sorgt für die Faszination, sorgt dafür, dass man sich in die Handlung hineingezogen fühlt. Aber man sollte vorsichtig sein mit diesem süßen Gift. Schnell ist der Punkt erreicht, wo es bitter wird.

Kiplings Welt ist eine einfache Welt. Es gibt nur gut oder bös, stark oder schwach, tapfer oder hinterhältig. Es ist ein „Sprech des Stärkeren“, dass Kipling hier führt und sein Mogli der Prototyp eines Übermenschen.

Ob man Kipling vorwerfen kann, so die britische Kolonialherrschaft über Indien zu rechtfertigen, ist fraglich. Immerhin ist sein Superheld selbst Inder. Hier bricht sich wohl eher eine allgemeine Menschenverachtung ihre literarische Bahn. Er schildert keine Vorgänge in der Natur, sondern bedient sich ihr als Rechtfertigung für seinen Sozialdarwinismus.

Wie sehr sich die Zeiten doch gleichen. Ob nun spätes 19. oder frühes 21. Jahrhundert: Das Bürgertum ist mit den gravierenden Veränderungen seiner Zeit überfordert und flüchtet in eine idealisierte Natur. Kipling setzt in diesem Werk auf einen Duktus, der schon bei der Erstveröffentlichung 1894 als anachronistisch galt. Hier setzt nun der Diskurs über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ein und dieser ist verschlungen und eben auch widersprüchlich.

Mit der Verfilmung von 1967 hat das Disney-Imperium eine Dschungelbuch-Version zum Maßstab gemacht, der Grausamkeiten und Niedertracht verbannte. Der im Buch allgegenwärtige Tod wurde aus dem Zeichentrickfilm verbannt. Angesicht der aktuellen Tendenz, diese Bereinigung nun auch in Tierdokumentationen der Gegenwart vorzunehmen, weil man Tod und Blut dem Publikum nicht zumuten kann, drängt sich der Verdacht auf, dass Disney vor 56 Jahren nur etwas vorweggenommen hat, was nun virulent wird. Der Virus heißt „Ich mach mir die Welt wie sie mir gefällt“.

Zufall oder Absicht? Auf jeden Fall kommt die Neuauflage des Dschungelbuch damit zum richtigen Zeitpunkt. Übermensch oder Achtsamkeit Sozialdarwinismus oder Kuscheltherapie? Der Steidl-Verlag und Andreas Nohl liefern ein Beispiel, an dem der Mensch sein Verhältnis zur Natur klären kann.

Das große ABER ... 

Was diese Ausgabe aber preisverdächtig macht, sind die Illustrationen von Paloma Tarrio Alves. Jedem Kapitel vorangestellt bieten sie einen zusätzlichen Blick auf den Text. Sie bereiten die Rezeption des Textes in einer Weise vor, die jegliche Romantisierung verweigert. Mit ihren kräftigen Farben eröffnen sie eine zusätzliche Tür in die raue Welt des Dschungels. Damit sind diese Illustrationen eine zusätzliche Ebene, die diese Ausgabe zum eigenständigen Erlebnis macht.

Die Grafiken wirken auch ohne Text. Sie bieten den Betrachtern die Gelegenheit in Mystik zu versinken, weil sie in der Formensprache auf indische Motive zurückgreifen. Tarrio Alves schafft es auch, mit denselben Mitteln die Entschlossenheit des Trios Balu, Baghira und Mogli oder die tödliche Kraft einer Büffelherde aufs Papier zu bringen. Das ist hohe Kunst.





Zu Kiplings 150.: Das Dschungelbuch bei Steidl

"Du kannst mich mal lieb haben" - Geschönte Tierfilme in der Diskussion



 

 

Montag, 17. April 2023

Keiner ist ohne Schuld

Faszinierende Neuinszenierung von Brechts „Dickicht der Städte“ im DT Göttingen

Durchweg gelungen und nix zu meckern. So lässt sich die Katharina Ramsers Inszenierung von „Im Dickicht der Städte“ zusammenfassen. Der Regisseurin, ihrem Team und dem Ensemble des DT Göttingen ist es gelungen, just zum 100. Geburtstag von Brechts Drama das in den Vordergrund zu stellen, was über den Tag hinausweist: Abhängigkeiten und Verstrickung in Schuld.

In Brechts Werk nimmt dieses Drama eine besondere Stellung ein. Es zeigt schon alle Elemente dessen, was Brecht und Piscator 1926 als episches Theater formulieren. Auf jeden Fall sorgte die Welturaufführung 1923 im Residenztheater München für einen ordentlichen Skandal und den Aufstieg des Autors.

Einhundert Jahre später kann man mit Brecht nicht mehr für Skandale sorgen. Aber die Premiere am Deutschen Theater Göttingen zeigt, dass viel Gegenwart in diesem Drama steckt, weil es die ewigen Themen Macht, Familie, Umgang und Menschlichkeit verhandelt. Das legt die Inszenierung von Katharina Ramser auf beeindruckende Weise offen.

Dabei vermeidet sie es, irgendeinen der Akteure als Sympathen zu bevorzugen. Am Ende liegt alles in Schutt und Asche und niemand bleibt ohne Schuld. Alle sind Täter und Opfer zugleich.

Das Stück

Im Jahr 1912 ist Chicago eine Boomtown. Doch die Menschen profitieren sehr unterschiedlich von der wirtschaftlichen Rasanz. Einige werden eher als das sie auf den Zug aufspringen können. Dazu gehören auch George Garga und seine Familie. Er arbeitet für einen Niedriglohn in der Leihbibliothek von C. Maynes. Seine Verlobte Jane Larry verdient ihr Geld als Näherin.

Das Unheil nimmt seinen Lauf: Maynes,
Garga, Jane und einige zwielichtige
Gestalten. 
Foto: Thomas Müller

Zu Beginn betritt der Holzhändler Shlink die Leihbücherei. Er ist in Begleitung dreier Freunde mit fragwürdiger Reputation, Gestalten aus dem Rotlichtmilieu. Shlink möchte Garga dessen Meinung abkaufen. Der ist in seiner Würde verletzt, denn mehr hat ein armer Mann nicht. Garga verweigert sich dem Angebot, egal wie hoch es sein mag. am Ende liegen Shlinks Imperium und Gargas Familie in Scherben.

Aus dem Kaufangebot entsteht ein Kampf um des Kampfes willen. Der Konflikt hat kein Ziel. Es geht nur noch darum, dem Widerpart die eigene Überlegenheit zu demonstrieren. Solches Verhalten hat Eingang gefunden in die Popkultur, die ganze Rap-Szene lebt davon. Das führt uns diese Inszenierung mit der Wrestler-Szene, als sich Shlink und Garga mit „fetten Mics“ vor dem Mund regelkonform „batteln“. Immer wieder hauen sie sich ihre Bekenntnisse um die Ohren.

Es ist offensichtlich: Brechts Sprache liefert eine wunderbare Vorlage. Diese bedeutungsschwangeren Allegorien und Worthülsen zwischen Expressionismus und Surrealismus sind wie gemacht fürs Rappen. Dramaturgin Sarah Becker ist hier ein Geniestreich gelungen.

Man solle sich keine Gedanken über die Sinnhaftigkeit machen, warnt Brecht im Vorwort zu seinem Werk. Katharina Ramser lässt dieses Vorwort auf die Lamellen des Vorhangs projizieren. Dazu präsentiert Vito Rana Szenen aus dem Boxsport.

Zum Glück spielt die Animation von Thomas Bernhard keine Eigenrolle. Sie ist kein Selbstzweck, sondern sie korrespondiert mit dem Geschehen auf der Bühne. Sie leitet das Geschehen ein, bereitet vor und kommentiert. Nicht mehr und nicht weniger. Dass Boxer Rana zum Schluss KO geht, ist das mehr als logisch.

Alles in dieser Aufführung arbeitet darauf hin, zur Kernaussage vorzudringen. Nichts lenkt ab. Das Personal wurde reduziert. Die Requisiten beschränken sich auf das Nötigste. Ein Bett, mal ärmlich, mal luxuriös ausgestattet, verdeutlich das Heim der Familie Garga. Der Wagen mit Büchern steht für die Leihbücherei. Mehr braucht es nicht.

Verständlich ist auch die Kostümsprache. Die unschuldigen Lämmer tragen weiß bis beige. Die bösen Buben und Mädchen Rottöne. Elena Gaus hat aber auch Mischungen vorgesehen. Denn ganz so einfach ist es auch nicht. Das verdeutlicht die Szene, in der der beige Steuermann Pat Manky auf brutalste Weise Maria Garga misshandelt.

Die Bühne

Das Bühnenbild ist einfach phänomenal. Es besteht aus fünf Zügen, behängt mit meterlangen Lamellen. Diese dienen als Projektionsfläche, als Sichtschutz, als Bar, als Höhle, je nach Beleuchtung und nach Höhe. Vor allem wecken die Lamellen Assoziationen an Schlingpflanzen. Ist es ein Dschungel oder ein Wald voller Algen. Das darf jeder Zuschauer selbst entscheiden.

Die Aufführung beginnt mit einem hohen Tempo. Angesichts der Rasanz der Ereignisse droht dem Publikum schon nach 15 Minuten die Erschöpfung. Dann kommt aber das Heim der Gargas ins Spiel. Das Tempo sinkt deutlich und dem Publikum bleibt die nötige Zeit zum Reflektieren und Atem holen.

Hoch die Tassen, noch ist die Partie
offen. 
Foto: Thomas Müller

Das ist ein wunderbares Timing. Überhaupt scheinen die Ereignisse zum Stillstand zu kommen, wenn Andrea Strube als Mutter Mae Garge und Florian Eppinger als ihr Gatte die Bühne betreten. Die Besonnenheit trägt also reichlich Falten. Der Weg zum guten Ende ist versperrt, nachdem sich Mae Garga sich aufhängt.

In der finalen Szene stehen Paul Trempnau als Georg Garga und Christoph Türkay als Shlink vor dem großen Nichts der leeren Bühne. Mehr Verlorenheit war selten. Es gibt kein schützendes Dickicht.

Tempnau hat vielleicht die einfachere Aufgabe. Er verkörpert als George Garga das Update eines Michael Kohlhaas. Besessen vom Gedanken der Rache angesichts der anfänglichen Demütigung bewegt sich Trempnau stimmlich, mimisch und körperlich immer am Limit. Damit gelingt es ihm, die Rücksichtslosigkeit des ehemaligen Bibliothekars bis an die Schmerzgrenze auszufüllen. Solch einen Meneschen möchte man nicht zum Nachbarn haben, auch nicht in der hippen Version des Jungspießers

Christoph Türkay darf seinen Shlink Tiefe geben, sich mal zurücknehmen, verhalten agieren und argumentieren. Gegen den Wüterich Garga wirkt er wie ein bedauernswerter Feingeist. Noch nicht einmal sein Smoking passt in diese Welt voller Tank-Tops und Jogginghosen. 

Türkay macht deutlich, dass Shlink verlieren wird, weil er sein gewohntes Terrain, das Monetäre, verlassen hat und die Emotion Einzug gehalten in sein Leben. Aber Emotionen muss man sich leisten können.

Katharina Ramser und ihr Team haben Brecht nicht reanimiert. Sie zeigen mit dieser Inszenierung, dass „Im Dickicht der Städte“ viel Gegenwart steckt. Das ist eine sehr starke Leistung.



Zur Homepage des DT Göttingen




Freitag, 14. April 2023

Ein wahres Glanzlicht

Eine Chance für Entdecker: Claire Keegans Werk in Neuauflage

Selten erhält ein Buch von mir die Auszeichnung, in einem Stück durchgelesen zu werden. Claire Keegan hat sich dieses Prädikat mit „Das dritte Licht“ verdient und das völlig zu Recht und der Steidl bekommt von mir ein Lob dafür, dieses Buch neu aufgelegt zu haben.

Schon bei der Erstveröffentlichung unter dem Originaltitel „Foster“ überschlug sich 2009 die englischsprachige Presse vor Begeisterung. The Times zählt das Werk zu den 50 wichtigsten Romanen des 21. Jahrhunderts. Zusätzlich gab es 2009 noch den Davy Byrnes Irish Writing Award.

Im Jahr 2013 erschien die deutsche Erstauflage, nun 10 Jahre später immerhin schon die fünfte Auflage in einer Neuübersetzung. Diese war notwendig geworden, nachdem die Autorin 2022 Änderungen vorgenommen. Es eröffnet aber die Gelegenheit, eins der wichtigsten Werke der irischen Gegenwartsliteratur zu entdecken oder wieder zu entdecken.

Aber Zahlen geben den Zauber dieses Buches nur unzureichend wieder. Hier stimmt einfach alles. In „Das dritte Licht“ treffen erzählerisches Talent, eigenständiger Ausdruck und eine anrührende Geschichte aufeinander.

Am Ende bleibt die Möglichkeit eines Happy Ends und ein gutes Gefühl. Das Wohlbefinden der Ich-Erzählerin hat sich auf die Leserschaft übertragen. Mehr geht wirklich nicht. Mit dieser Erzählung und ihrer Zauberkraft hat Claire Keegan den Olymp der Gegenwartsliteratur erklommen.

Dabei sind die Bedingungen denkbar schlecht. Die Startpunkte sind Armut und emotionale Verwahrlosung. Erzählt wird die Geschichte eines Mädchens, das einen Sommer lang zum entfernten Verwandten abgeschoben wird, weil die Mutter ein weiteres Kind erwartet.

Das wievielte Kind? Das erfahren die Leser nicht, weil es zweitrangig ist. Denn angesichts der Kinderschar ist die Familie überlastet, das ist entscheidend. Das Geld ist knapp und das bisschen, was da ist, verliert der Vater beim Glücksspiel.

Die finanzielle Verarmung geht einher mit einer emotionalen Verwahrlosung. Die prekären Verhältnisse lassen keine tiefgehende Bindung zwischen Eltern und Kinder zu.

Größer könnte der Kontrast zur Gastfamilie Kinsella nicht sein. Hier kümmert man sich umeinander und verdeutlicht die Zuneigung in Worten und Taten. Diese Kontraste verdeutlicht Keegan mit kalten Bildern, Erinnerungen an Niederlagen einerseits und Schilderungen voller Wärme und Sonne auf der anderen Seite.

Dass das Versprechen, keine Geheimnisse voreinander zu haben, nicht so ganz der Wahrheit entspricht, überrascht nicht. Sonst wäre die Erzählung schon nach 20 Seiten zu Ende, aber das ist sie zum Glück nicht.

Das Mädchen hat sicherlich einen Namen. Den erfahren die Leser aber nicht. Wie alt ist sie? Welche Farbe haben ihre Haare? Ist sie schlank oder füllig? Hat sie noch Milchzähne oder sind diese bereits ausgefallen? Aber sie geht schon zur Schule.

Die persönlichsten Dinge erfahren die Leser nicht, weil die Protagonistin beispielhaft für tausende junge Frauen aus ärmlichen Verhältnissen steht. Überhaupt geht Keegan recht sparsam mit Eigennamen um. Erst im Laufe der Erzählung beschenkt der Ziehvater die Protagonistin mit einem Kosenamen. Er handelt wie einst Gott in der Schöpfungsgeschichte. Erst durch die Benennung wird sie zur eigenständigen Person.

Auch die Verortung in der Zeit ist schwierig. Die Marken „Eintritt in die EWG“ und „Hungerstreik“ lassen auf die frühen 1980eer Jahre schließen. Auch dies ist zweitrangig, denn Claire Keegan hat ein Werk geschaffen, dass der Zeit widersteht. Das Thema ist nicht gebunden an Raum und Zeit gebunden. Es verhandelt Dinge, die seit Menschengedenken auf der Tagesordnung stehen: Der Umgang miteinander und das Finden einer emotionalen Heimat.

All diese Abstrakta kontert die Autorin mit einer sehr persönlichen Perspektive. Das macht den Zauber dieser Erzählung aus. Wie ein Wunder bleibt sie dennoch sachlich in der Sprache. Sie verzichtet auf Pathos und Schwülstigkeit. Es ist kein Wort zu viel und keins zu wenig.

Damit legt Keegan dieses Mädchen dem Publikum so ans Herz. Es ist eine Emotionalität, die auf Zuckerguss verzichten kann, weil sie auf dem Menschenrecht "Zuneigung" basiert, Die einzigen Allegorie, die sich die Autorin erlaubt, sind der Brunnen, der wohl nie versiegt, und eben das dritte Licht am Strand las Zeichen der Vollkommenheit. Das macht die Entwicklung der Protagonisten für die Leser so nachvollziehbar.

Es sind vor allem kurze und knappe Schilderungen, meist nur Andeutungen. Das lässt den Lesern den Raum, sich selbst in die Geschehnisse, in die Landschaft hinzudenken. Damit ist das offene Ende nur konsequent. Jeder darf sich selbst denken, wen die Ich-Erzählerin am Ende mit dem Ehrentitel „Daddy“ belohnt.



"Das Dritte Licht" bei Steidl.