Montag, 24. Juni 2013

Güttler füllt den Kreuzgang

Hochgefühle mit dem Blechbläserensemble

Schon mit dem ersten Tönen ist es da, dieses barocke Hochgefühl. Ein satter Klang, der den Raum ausfüllt und wie eine Woge von der Bühne durch den Kreuzgang. Jubilierende Töne aus hellen Trompeten, die die Spitzbögen hinauflaufen, gen Himmel streben und die Zuhörer mitnehmen, sie von irdischen Ballast befreien.
Mit den ersten Ton ist es da und beim Konzert von Ludwig Güttler und seinem Blechbläserensemble im Kloster Walkried kehrt es zum Schluss noch einmal wieder.
Eine Woge an Wohlklang brandete durch den
Kreuzgang im Kloster Walkenried. Fotos: tok
Das Gebäude scheint wie geschaffen für diese Musik und Güttler spielt mit der Akustik. Zwei Trompeten und eine Posaune bleiben im Seitengang versteckt und tönen aus der der Ferne. Dies gibt den Klang eine Tiefe, in die man sich gern verliert. Einfach aber genial. So wird eine dialogisierende Mehrchörigkeit möglich, die typisch ist für die Tänze des Renaissance-Musikers Tylman Susato und die später bei den Barock-Werken ausgebaut wird.
Somit zeiht sich der Dialog der Instrumente als bestimmendes Thema durch den gesamten Abend. 
Zur Hornpipe aus Händels Wassermusik verlassen wieder einige Musiker die Bühne und bauen sich im Seitengang auf. Nun intoniert das Ensemble gar ein Spiel von Rufen und Antworten. Faszinierend. Wer solch ein Wagnis eingeht, der muss sich seiner Sache sehr sicher sein.
Noch viele Worte über Ludwig Güttler zu verlieren, wäre Eulen nach Athen oder Trompeten nach Jericho tragen. Aber es ist ja kein Güttler-Solo-Konzert. Das Blechbläserensemble spielt unter der Leitung von Güttler, das ist ein Unterschied. Dieser Abend steht im Zeichen des Barock, Barockmusik ist Orchestermusik und kennt nur wenige Soli. Deswegen kann auch der Star warten, deswegen erklingt der typische Güttler-Klang erst mit der Bach-Motette "Der Geist hilft unserer Schwachheit".
Im Ensemble ist Güttler
primus inter pares.
Das Blechbläserensemble Ludwig Güttler existiert seit 1978 und es ist eben ein eingespielter Klangkörper. Dazu gehören sechs Trompeten, ein Waldhorn, vier Posaunen in unterschiedlichen Stimmlagen und ein Tuba. Den elf Musikern ist die Freude am eigenen Tun immer noch anzuhören. Jeder Ton sitzt, nichts wird verschliffen, in den Dialog-Teilen stimmen die Übergänge exakt. Immer wieder wird die Sitzordnung geändert, um den best möglichen Zusammenklang zu erzielen. Es gibt ein Publikum und offensichtlich auch Ansprüche an das eigene Schaffen, die beide befriedigt werden. Die Zuhörer bedanken sich mit Szenenapplaus, weil  das Auditorium merkt, das es Teil einer einmaligen Vorstellung ist.
Das erklärte Ziel des Ensembles und seines Leiters ist es, vergessene Musik wieder zu Gehör zu bringen oder Hörgewohnheiten zu reizen. Deswegen trägt das Programm den Titel "Original und originell". So versammelt dieser Abend Tänze, Hofmusik und geistliche Musik in einem Zug und  geht über 3 Jahrhunderte von der Renaissance bis in die Spätromantik. Dazu gehören die selten gespielten Werke von Tylman Susato, Moritz Landgraf von Hessen, Bach-Schüler Gottfried August Homilius und Samuel Scheidt. Leider wirken Bruckner und Brahms in dieser Zusammenstellung als Fremdkörper. Sicherlich ist es aus musikwissenschaftlicher Sicht nachvollziehbar, Orgelwerke und Chörale des 19. Jahrhunderts für Blechbläser umzuschreiben. Der Musiktheoretiker möchte wohl zeigen, was alles möglich ist. Aber dennoch liegen Brahms und Bruckner mit ihrer todessehnsüchtigen Finsternis an diesem heiteren Abend schwer im musikalischen Magen.
Doch mit der den Tänzen von Scheidt und in der zweiten Zugabe, da ist es wieder da, dieses barock Hochgefühle, die jubilierenden Töne aus klaren Trompeten, die an den Spitzbögen emporlaufen und gen Himmel streben.

Die nächsten Kreuzgangkonzerte

Ludwig Güttler bei wikipedia und in der Selbstdarstellung, mit Terminkalender

Das Blechbläserensemble bei MyVideo

Sonntag, 23. Juni 2013

Ein Manager der Intrige

"Othello" wird bei den Domfestspielen zu Jagos Vernichtungsfeldzug

Für das Fremd sein in der Heimat ist Othello das Paradebeispiel. In der Inszenierung von Christian Doll ist der General überhaupt komplett falsch im ganzen Leben, deswegen wird er zum Spielball des Intriganten Jago. Der Krieger taugt nicht für Ränkespiele, also muss die Geschichte tragisch ausgehen. Am Ende bleibt ein starker Eindruck und die Vermutung: Wenn du geredet hättest, Othello, dann, vielleicht dann ...
Mario Gremlich ist der neue Typ des Jago,
ein Typ wie ihn jeder kennt.
In Gandersheim ist Shakespeares Tragödie vor allem ein Kammerspiel zweier Männer, das nur einen Gewinner kennt. Auf der einen Seite Jago, der Fähnrich, der bei der Beförderung übergangen wurde und von den höheren Kreise ausgeschlossen, sinnt er auf Rache. Auf der anderen Seite Othello, der siegreiche General in den Diensten der Republik Venedig, ein Krieger, der erst durch Desdemona zum Mensch wird. Sie wäscht seine Hände rein vom Blute, nimmt die Maske des Kriegers ab, gibt ihm ein neues Gesicht. Doch als er ihr entgleitet, da wir Othello wieder der Krieger.
Stolz, mit fester Stimme, mit breiter Brust und mit raumgreifender Gestik ist Günter Heun ganz der Liebling aller. So hat er auch Desdemona erobert, die Tochter des Senators Brabantio. Weil Othello am die besten Gewinnaussichten hat, beauftragt ihn der Senat, dieses Aufsichtsrats der Kriegsführung, mit dem Feldzug gegen die Türken. Christine Dorner, als Dogin mit Margret Thatcher-Appeal, hat es so entschieden. Der Krieg fällt ins Wasser, ein Sturm versenkt die türkische Flotte vor Zypern. Doch die Krieger können nicht in den Zivilmodus schalten. Wasser spielt eine große Rolle in der Ausstattung, aber die reinigende Kraft bleibt dem Element verwehrt. Ansonsten verzichtet das Bühnenbild von Cornelia Brey auf historizierende Schnörkel.  Othello ist als hilfloser Krieger auch ein Mitmensch der Jetzt-Zeit.
Die Inszenierung von Christian Doll bietet einen neuen Typ des Jago. Irgendwie ist dieser Fähnrich schon fast der nette Kumpel von nebenan, mit allen nur gut Freund und scheinbar loyal, versteht er es dennoch seine Mitmenschen zu seinen Zweck zu nutzen. Alle Fäden laufen bei ihm zusammen, er ist die Schnittmenge aller Dreieecksgeschichten. Dieser Jage ist nicht nur die Banalität des Bösen, er ist auch der Netzwerker, der Manager der Intrige. Das Jago zur zentralen Figur dieser Inszenierung wird, ist eindeutig der Verdienst von Mario Gremlich. Jagos Waffe sind die giftigen Worte und die weiß Gremlich passend zu setzen. Mit Unschuldsmiene und großen Augen sichert er allen seine Loyalität zu, doch nur um sie zu betrügen. Wer mit Hinterlist arbeitet, der verzichtet auf die großen Gesten. Dafür kennt er die Finessen der Sprache, ihre Konnotationen und die ganz feinen Akzentuierungen. Das ist die Stärke von Mario Gremlich.
Bald ist Othello dort, wo Jago ihn haben möchte.
Fotos: Hillebrecht
Solch einen Jago haben vielleicht viele zum Freund, aber man sollte ihn besser nicht zum Feind haben. Häppchenweise, Puzzleteil für Puzzleteil treibt er seinen Rachefeldzug voran, bis er Othello dort hat, wo er der große Held angreifbar ist. Seine raumgreifenden Gesten erinnern nun an einen Tanzbären, der tapsig nach der Pfeiffe des Strippenziehers tanzt. Der General Othello, Leutnant Cassio und alle anderen Männer in Tarnfleck müssen vor diesem Jago kapitulieren.  Denn sie kennen nur den Modus "Mutiger Krieger und aufrichtiger Kamerad". Selbst nach den leichten Sieg gegen die Türken verbleiben sie im Feldlager-Modus. Mit diesem eingeschränkten Verfallensmuster haben sie keine Chance gegen den Feind in den eigenen Reihen. Doch muss man sich die Frage stellen, ob solch ein Kesseltreiben nur unter Kommissköppen möglich wäre. Was wäre, wenn Othello der neue Vorstandsvorsitzende der "Kriegsführung Incorporation" wäre und Jago der Abteilungsleiter, der sich übergangen fühlt?
Der Kampf findet auf einer brutal ausgeleuchteten Bühne statt, aber die Schlacht wird in den Köpfen geschlagen und je länger das Spiel dauert, um so intensiver agieren Gremlich und Heun. Zwei Schwergewicht schaffen ein einer unheilvollen Allianz ein schiefe Ebene Richtung Verderben.
In Anlehnung an Joseph Konrad nennt Doll seinen Inszenierung eine Reise in das Herz der Finsternis. Das mag sein,aber es ist die Finsternis in  Jagos Thorax und in Orthello Schädel. Dort keimt die Saat der bösen Gedanken und kommt doch nicht nach draußen. Eifersucht ist ein Monster, aber dieses Monster kann nur auf dem Kompost der Ungewißheit gedeihen. Geredet wird viel, in Shakespeare-Sprech und in Gegenwartssprache, das schlägt die Brücke zwischen dem frühen 17. Jahrhundert und den Kriegern der Jetzt-Zeit. Aber es reden nie, die sich villeicht mal aussprechen sollten, es wird immer nur angedeutet. Ach, wenn ihr nur geredet hättet, Othello und Desdemona. Es gibt doch soviel Gesprächstherapeuten.
Diesem geheimen Fürsten der Finsternis unterliegen alle: Othello, Desdemona, Cassio, Bianca und Rodrigo. Jago ist der Sieger in einem Kampf, der nur Verlierer kennt.Das Schlußwort bleibt Othello überlassen, doch so recht verstanden hat er immer noch nicht, wie ihm geschah.

Die nächsten Aufführungen sind am 25. und 29. Juni und am 6., 11., 14., 21. und 30.  Juli. Am 3. August ist dernier.

Karten gibt es über die Website der Gandersheimer Domfestspiel.

Das Stück in der Eigenbeschreibung.

Dienstag, 18. Juni 2013

Aus für die Dommusiktage

Zurückgezogene Fördermittel führen zur Absage - Solidarität gefordert


Vom 14. bis 22. September sollten die 23. Internationalen Gandersheimer Dommusiktage stattfinden. Die Veranstaltung wurde am Montag komplett abgesagt. Für das Festival-Aus macht der veranstaltende Verein „Concerto Gandersheim“ die Finanzen verantwortlich.
Unerwartet seien Zusagen zur Förderung reduziert oder gänzlich zurückgenommen worden, dies betrifft vor allem die Stiftung Braunschweiger Kulturbesitz und die Niedersachsen-Stiftung. Dadurch sei eine deutliche Unterdeckung absehbar gewesen. Der Verein sah sich veranlasst, die Reißleine für das Festival zu ziehen. Zum 15. Juli wird auch die Geschäftsstelle der Dommusiktage geschlossen. Die Leiterin Renate Richert hat bereits die Kündigung erhalten.
„Die nun eingetretene Situation hat weitreichende Konsequenzen, die in dem daraus erwachsenen Schaden in keinem Verhältnis zu dem fehlenden Betrag stehen dürften“, betont die 1. Vorsitzende Odila Scheuer. „Eigentlich kann es nicht sein, dass mit einem Strich eine jahrzehntelange Kulturarbeit zunichte gemacht wird“, ärgert sich Intendant Martin Heubach. Schließlich seinen die Dommusiktage Kulutr für die Region von Menschen aus der Region. „Mit letztlich eher geringen Mitteln wird hier vor Ort und für die Region Großes bewirkt“ verdeutlicht Odila Scheuer.
Durch die Absage der Dommusiktage entfällt auch die konzertante Jahresarbeit der drei Ensembles Gandersheimer Domkantorei, Capella Vocale Gandersheim und Ensemble Résonance Vocale. Diese hatten die Eröffnungs- und Abschlusskonzerte der Musiktage vorbereitet.
Am Montag wurden die Dommusiktage in
Gandersheim abgeblasen. 
Foto: Concerto
Mit 35 Konzerten im Jahr, einem ganzjährigen hochkulturellen musikalischen Angebot, einem Stamm von über 100 Mitwirkenden und mit 6.200 Besuchern im Jahre 2012, stellen die Dommusiken aus Sicht des Vereins in einer wirtschaftlich und demographisch schwierig dastehenden Region einen wichtigen erhaltenswerten Faktor dar.
Durch den Ausfall der Dommusiktage verliert der Verein Concerto Gandersheim auch die Förderung der Landesregierung und des NDR. Auf der anderen Seite entstehen dem Veranstalter durch die Absage weitere Kosten etwa in Form von Ausfallhonoraren. „Wir müssen nun Geld aufwenden, um Nicht-Musik zu machen“, erklärt Martin heubach.
Dennoch werde man sich für eine Fortsetzung im Jahre 2014 einsetzen, auch im Interesse der Besucher und der Mitwirkende. Um die nun entstehenden Absagekosten zu minimieren werden Hilfsangebote und Maßnahmen in den nächsten Tagen geprüft und auf den Weg gebracht.
„Wir sind momentan schwer getroffen, doch von vielen Seiten wird uns Mut gemacht nicht aufzugeben“ resümieren die Verantwortlichen nach den ersten Krisensitzungen. Mehrere Benefiz-Veranstaltungen seien in Vorbereitung, unter Anderem ein Sonderkonzert mit dem „European Union Baroque Orchestra“ im Oktober. Die November- und Dezember-Konzerte werden wie geplant durchgeführt. „Es bleibt klangvoll bei den Dommusiken und wir wollen die Menschen auch weiterhin mit Musik berühren“, so die erste Vorsitzende.
Das geänderte Programm ist unter www.dommusiken.de zu finden. Hier können auch im „Gästebuch“ Reaktion verfasst werden.

Mittwoch, 12. Juni 2013

Einfach zauberhaft

Viele Elfen in "Was ihr wollt"


Eigentlich ist ja nur eine Komödie und sie ist von Shakespeare. Das diese alle nach einem ähnlichen Schema verlaufen, ist nicht nur dem Fachmann klar. Doch DT-Intendant Mark Zurmühle hat aus dem 400 Jahre alten Verwirrspiel um Identitäten ein Märchen gemacht, dessen erster und letzter Eindruck "einfach nur zauberhaft" ist.
Aus dem Dunkel des Bühnenhauses tauchen zwei Gestalten auf. Sehr pointiert gesetzt zwingt das Licht zur Konzentration auf diese beiden. Sebastian trägt seine bewusstlose Schwester Viola. Beide haben ein Schiffsunglück überlebt und wurden an die Gestade von Illyrien gespült. Doch bevor Viola die Augen aufschlägt, muss der Bruder fliehen. In dem Glauben, dass Sebastian tot ist, heuert sie als Cesario verkleidet beim Fürsten Orsino an, der schwer in Olivia verliebt, die aber nichts von ihm wissen will, sondern eher von Cesario, der wiederum sein Herz an Orsino verloren hat.
Olivia (mitte) hat sich in Cesario verliebt, doch
der Narr (links) behält alles in Auge. Fotos: DT 
Einzig der Narr behält den Überblick. Cool, lakonisch und mit einen Hauch Bänkelsänger gespielt von Jan Exner, der auch den entspannten Soundtrack zum hektischen Treiben geschrieben, den musikalischen Kontrapunkt liefert. Also, wie gesagt, aus heutiger Sicht könnte man Shakespeares Komödien auch als einen einzigen großen Schwank spielen.
Humor ist ein schweres Fach, denn Humor ist immer zeitgebunden, einem kulturellen Kontext verpflichtet. Zu diesem Kontext gehört auch, dass im frühen 17. Jahrhundert alle Rollen von Männer gespielt wurden. Was also damals witzig war, ein Mann spielt ein Frau, die einen Mann speilt, kann heute so nicht mehr funktionieren. Deswegen hat Mark Zurmühle "Twelfth Night, or What You Will" als ein Märchen über die eigene Identität in androgynen Zeiten gemacht.
Paula Hans in der dreifach Rolle als Viola, Cesario und Sebastian verkörpert eben diese Ungewissheit über sich selbst: immer ein wenig gedämpft, zögerlich und zurückhaltend selbst in den Szenen, die andere laut spielen würden, und somit mehr Elfe als Mensch. Auch Marie-Kristien Heger ist mehr eine unschlüssige Elfe, ein ätherisches Wesen als eine resolute Nein-Sager.
Sir Toby Belch oder Toby von Rülps ist der Gegenentwurf dazu. Truksüchtig, laut und vulgär bis über die Schmerzgrenze verkörpert von Alois Reinhardt ist er der einzige, der in seinen Dauerrausch keine Frage an seine eigene Person zulässt. Die Mitte zwischen diesen Polen markiert Ronny Thalmeyer als Malvolio, ein wenig der gesunde Menschenverstand zwischen den Vergnügungssüchtigen und den Depressiven wird er doch Opfer seiner Eitelkeit, als diese erst einmal geweckt ist. Man weiß nicht, ob man Schadenfreude oder Mitleid angesichts seines Scheiterns empfinden soll.
Jeder bleibt Robinson auf seinem Eiland.
Zauberhaft ist auch das Bühnenbild und die Beleuchtung. Eleonore Bircher ist hier der ganz große Wurf gelungen, der die Aussage der Inszenierung auf elfenhafte Art unterstützt, ohne sich in den Vordergrund zu drängen. Alles ist im Fluss und die Figuren müssen sich auf Insel retten. Die Bühne steht unter Wasser und das Licht sogt dafür, dass sich die Figuren darin rermanent spiegeln und auf sich selbst zurückgeworfen werden. Iregndwie bleibt ein jeder Robinson auf seinem kleinen Eiland,bis zum Schluss, der Fragen offen lässt. So kann sich jeder die endgültigen Antworten selbst geben.

Letzte Vorstellung in Deutschen Theater Göttingen am 16. Juni. Karten über die Website des DT.

Das Stück in der Eigenbeschreibung, diesmal mit Trailer.


Montag, 10. Juni 2013

Die Tretmühle der Menschwerdung in einem unmenschlichen System

Ein rastloser Hauptmann von Köpenick in Göttingen

Wilhelm Voigt passt nicht in diese Welt und er passt nicht in ihre Ordnung. Er hat lange im Gefängnis gesessen und er hat viel Zeit im Ausland verbracht. Nun kommt er in ein Berlin, dass sich sehr verändert hat. Er, der Schuster, der Handwerker, kommt in eine Stadt, deren Rhythmus sich beschleunigt hat, deren Rhythmus von Maschinen vorgegeben wird. Er kommt in eine Stadt, deren Menschen sich im Rhythmus der Maschinen bewegen. Selbst die, die nicht dem Diktat der Industrie unterliegen, handeln und bewegen sich wie Roboter, denn ihre Abgötter heißen Recht und Gesetz, Ordnung und Vaterland und der Kaiser.
Das Befremden, das stillen Entsetzen ist Lutz Gebhardt in der schon in der ersten Szene ist das Gesicht geschrieben. Ungläubig taumelt er durch die surreale Szenen. An dem Gefühl, nicht dazuzugehören und an dem Entsetzen über das Unmenschliche dieser Ordnung wird sich bis zum Schluss wenig ändern. Dieser "Hauptmann von Köpenick" im Deutschen Theater Göttingen lebt von seinem Hauptdarsteller Lutz Gebhardt. In immer wieder neuen Nuancen macht er dieses Fremd sein in der Heimat deutlich, durch Sprache, Mimik und Gestik. In dem hyperaktiven Haufen der Vaterlandspflichterfüller ist er das Fragezeichen hinter dem Satz "Wo bleibt hier der Mensch".
Die Räume wirken wie Gruften. Fotos: Winarsch 
Daneben schaffen es nur Nadine Nollau in ihrer Rolle als Voigts Schwester Marie Hoprecht und Andreas Jeßing als Schwager Friedrich Hoprecht, sich in das Erinnerungsvermögen zu spielen. Alle anderen Rollen sind kleine Nummern, kleine Rädchen in überdimensionierten Getriebe der wilhelminischen Ordnung. Selbst Brüllen und Angebrüllt zu werden, das ist ihre natürliche Tonlage. Erst mit dem familiären Aufeinandertreffen entschleunigt sich diese Inszenierung. Bis dahin stolpern alle Akteure durch immer neuen Szenen und Räumen. Sie sind nicht Agierende, sondern Getriebene in einem überdimensionalen Hamsterrad. Um aus diesem Hamsterrad zu entkommen, müsste der ehemalige Sträfling nur einen kurzen Augenblick dazugehören, den Augenblick, den es braucht, um einen Pass auszustellen. Aber selbst dies wird ihm verwehrt.
Ein Kern dieser Inszenierung ist das Bühnenbild von Eleonore Bircher. Viele Zimmer, klein und groß,  sind im Rund einer Drehbühne ständig in Bewegung, verändern sich, um durch das Grau in Grau doch immer gleich zu wirken: klaustrophobisch. Mal schneller, mal langsamer stolpern die Akteure und Getriebenen von Raum zu Raum, durch immer wieder neue Türen, die trennen satt zu verbinden. Dies ist die Tretmühle der Menschwerdung in einem unmenschlichen System. Das Leid dreht sich immer wieder um die gleichen Dinge: keine Papiere - keine Arbeit, keine Arbeit - keine Papier, ein Teufelskreis, es dreht sich immer wieder um die selben Dinge .
Schuster und Schwager finden
sehr unterschiedliche Antworten.
Doch was ohne Umbauten das schnelle Abspielen das Stücks an vielen Orten ermöglicht, sorgt einerseits für einen Ermüdungserscheinungen auf und vor der Bühne, andererseits wird der Abgesang auf eine untergegangenen Gesellschaft auf zum Panoptikum. Das Kuriositätenkabinett verdrängt die Antwort auf die Frage "Was ist von diesen Disziplinierungsmechanismen noch übrig geblieben?". Das stetige Tür-auf-Tür-zu-Brüll-rum rückt den Hauptmann von Köpenick in die Nähe einer Farce im Stile von Ray Cooney oder anderen Autoren des englischen Boulevards. Parallelen zum Slapstik der schwarz-weißen Stummfilm-Zeit werden deutlich .
Erst in diesem intimen Moment des Sterbens, als Wilhelm Voigt das Lieschen in einer andere Welt begleitet, da steht die Tretmühle still. Und sie bleibt auch stehen, als der Schuster und sein Schwager über das von ihnen erlittene Unrecht reden und jede seine persönliche Antwort auf die Frage "Wie geht es weiter?" findet. Beide haben verstanden, wie das Getriebe funktioniert, wie der Hase läuft. Der eine fügt sich, der andere macht sich das System zunutze. Und nun läuft es anders herum, auch das gesamte Bühnenbild. Wer die richtige Uniform trägt, der kann bestimmen, wer durch welche Türen stolpert. Darin gefällt er sich, doch selbst darin bleibt er fremd, deswegen stellt er sich der Polizei. Er bleibt der Fremde. Seiner Heimat ist schon vor langer Zeit untergegangen und in der neuen Heimat wird er immer der Exot bleiben, der Befremdlich, mit dem man sich zeigt und mit dem man sich fotografieren lässt, wie in einer Völkerschau der Jahrhundertwende.
Eins macht die Inszenierung von Mark Zurmühle auch deutlich. Der Stoff um den Militärwahn ist sogar ein feingewebter. Wie zufällig kreuzen sich immer wieder die Wege von Voigt, Uniform und Bürgermeister von Köpenick, wie Elementarteilchen, die auf der äußeren Schale eines Kern dahinrasen. Doch ihr Aufeinandertreffen endet in einer Implosion.

Die nächsten Aufführungen finden am 14., 21. und 28. Juni jeweils um 19.45 Uhr im Großen Haus statt.

Der Spielplan.

Das Stück.

Sonntag, 9. Juni 2013

Mal selbst Kritiker werden

Theater Nordhausen sucht die Inszenierung der Saison


Liebes Publikum, heute findet Sie/ihr hier keine Besprechung eines Dramas oder eines Konzerts. Heute oder in den nächsten Tagen ist eigenes Engagement beim Publikumspreis des Theater Nordhausen gefragt. Der Förderverein sucht zum zweiten Mal die Inszenierung der Saison. Die Abstimmung erfolgt im Web oder mit Stimmzetteln an der Theaterkasse und zu gewinnen gibt es auch etwas.

Welche Inszenierung der zu Ende gehenden Spielzeit 2012/13 hat Ihnen am besten gefallen? War es eine Oper? Ein Schauspiel oder ein Ballett? Vielleicht die Operette oder das Musical?  Im Rennen um den Publikumspreis „Inszenierung der Spielzeit 2012/2013“ sind alle Stücke, die zwischen September 2012 und Juni 2013 Premiere im Theater Nordhausen oder bei den Thüringer Schlossfestspielen Sondershausen haben. Darunter sind natürlich auch die Stücke, die das Landestheater Rudolstadt in Gastspiel in Nordhausen zeigte.  

"Jugend ohne Gott" ging in Nordhausen
unter die Haut. Foto: Peter Scholz
Abgestimmt werden kann ab sofort  - entweder mit Stimmzetteln, die es an der Theaterkasse, bei Vorstellungen im Theater Nordhausen sowie im Schlosshof Sondershausen und bei Konzerten des Loh-Orchesters Sondershausen gibt. Dort können die ausgefüllten Stimmzettel auch abgegeben werden. Außerdem können die Formulare per Post an das Theater Nordhausen, Besucherservice, Käthe-Kollwitz-Straße 15, 99734 Nordhausen, geschickt werden. Wer möchte, kann auch auf der Internetseite des Theaters unter  seine Stimme abgeben. 

Bekanntgegeben wird die Inszenierung der Spielzeit am 8. September, dem Tag des Theaterfestes, während des Orchesterkonzerts ab 17 Uhr auf dem Theaterplat Unter allen Teilnehmern  werden ein Sinfoniekonzertabo,  ein Kleines Freitagsabo und ein Wahlabo für jeweils zwei Personen, außerdem je zwei Premierenkarten für „Die Hochzeit des Figaro“, „Shakespeare. Ein Ballett.“, „Purpurstaub“, und das 1. Sinfoniekonzert unter dem Motto „Romantischer Auftakt“ verlost. 

Im September 2012 war die  Oper „La Traviata“ zur Inszenierung der Spielzeit 2011/12 gewählt wurden, fragt der Förderverein Theater Nordhausen e. V. nun erneut das Publikum: 

Noch einmal der Link
  

Sonntag, 2. Juni 2013

Kater + Stiefel = Magie


Dieser gestiefelte Kater will nicht nur spielen


Anne Spaeter macht zum Auftakt der Gandersheimer Domfestspiele aus dem Grimm-Märchen eine Komödie über Chancen, Trottel und Freunde.

Prolog

Seit den Tagen des seligen "Northeim - Das Festival", jenem legendären Kinder- und Jugentheaterfestivals, hatte ich mit Theater für ein jüngeres Publikum nicht mehr viel zu tun. Um den Kompetenzverlust auszugleichen nahm ich einen erbarmungslosen Fachmann mit: Tammo, sieben Jahre alt, selbst theatererprobt und mein Sohn. Sein Urteil sollte für mich den Ausschlag geben, das war die Grundidee unseres gemeinsamen Besuch der Kater-Premiere bei den Gandersheimer Domfestspielen.

Ende Prolog

Wie man einen fabelhaften Stoff auf die Bühne bringt, ohne sich zwischen den opulenten und scheintoten DEFA-Modell und der Zertrümmerung nach GRIPS-Rote-Grütze-Manier zu zerreiben, dies ist dem Ensemble der Gandersheimer Domfestspiele gelungen. Mit dem Familienstück "Der gestiefelte Kater" zeigt die Regisseurin Anne Spaeter, das im Grimmschen Stoff mehr drin steckt als man vermutet und das Stücke über die wirklich wichtigen Dinge im Leben ohne Moralin auskommen können. Die Gandersheimer Inszenierung als Gemeinschaftswerk von Anne Spaeter, Sandra Becker und Dominik Dittrich ist ein Musik-Revue mit Chansons und Rumba, mit Schmunzeln und mit Lachen und ein wenig Klamauk darf auch dabei sein.
Der Kater seine Visionen mit seinem
 Herrchen. Fotos: R. A. Hillebrecht 
Der Müllersohn hat den Blues. Beim Erben ist er zu kurz gekommen. Nun kann er nicht zeigen, was in ihm steckt. Während sich die Bruder die nützlichen Dinge aus der Hinterlassenschaft des Vaters sichern konnten, blieb ihm nur ein Kater. Der Jüngling fühlt sich ausgebremst, er  kann nicht zeigen, was in ihm steckt.
Doch der Kater hat großes vor, auch mit seinem Herrchen. Dem Mausjäger ist schon von Anfang an klar: nie wieder Mühle. Mit dem richtigen Outfit, ein paar roter Stiefel, lässt sich viel bewegen. Nur schade, dass der Kater den Müllersohn erst noch zum Jagen tragen muss.
Die Rolle des gestiefelten Kater ist Daniel Montoya wie aufs Fell geschrieben. Tänzerisch und beweglich wie der junge Michael Jackson, exaltiert und selbstverliebt wie einst Prince und durch und durch der Errol Flynn der Vierbeiner. Mit einem "Zauberhaft" stimmt man zu, wenn Daniel Montoya die Gleichung aufmacht: Kater + Stiefel = Magie.
Die Prinzessin macht Punk. Zu gern würde sie zeigen, was in ihr steckt. Aber sie darf nicht, die Fürsorge des königlichen Vaters hindert den Nachwuchs am Vollbringen von Heldentaten. Denn nach genauer Analyse des Homo sapiens als Individuum in der Gesellschaft und der digitalen und analogen Rahmenbedingungen seines Medienkonsums weiß die junge Dame: einzig frischer Nachschub an Rebhühnen helfen dem König und damit seinem Volk. Lea Willkowsky ist eben der neue Typ Prinzessin, zwar immer noch durch und durch in rosa gekleidet, aber nicht mehr in Warteposition für den Jungen auf dem weißen Pferd. Die junge Dame ist zwar proaktiv aber dann doch eingeschnappt, weil der Kater das darf, was sie nicht darf: Stiefel tragen. Diese Prinzessin ist eindeutig aus dem wahren Leben und nicht aus dem Märchen. Ist doch gerade die Schmollecke die ganz starke Seite von Lea Willkowsky
Das Verhätnis von Prinzessin und König bedarf
eindeutig und dringend einer Klärung.
 Gunter Heun ist nicht der gütige König Grimmscher Prägung, sondern ein Monarch, der mit der Erziehung und auch mit der Situation seines Landes überfordert ist. Auch wenn er die Rebhühner doch so sehr vermisst, ist er nicht in der Lage dem bösen und großen Zauberer die Stirn zu bieten. Hinhalte-Taktik und Phrasendrescherei sind seine einzige Waffen. Das könnte auch der Nachbar sein oder der Abteilungsleiter oder Fallmanager oder oder oder. 
Überhaupt die Sprache. In der Gandersheimer Inszenierung gibt es kein halbtotes Grimm-Sprech, aber auch keine obercoolen Jugendslang. Ob Sprecher, Müllersohn, Kater oder Prinzessin, alle reden so, wie du und ich. Der Verzicht auf die Anbiederung an jugendliche Sprechgewohnheiten tut dem Stück gut und holt es aus der Ecke in die Erfahrungswelt von jungen und älteren Zuschauern, denn dieser gestiefelte Kater ist konkret und nicht krass und der Kritiker neben mir versteht ihn auch.
Nur einen muss der Kater fürchten, den bösen und großen Zauberer. Auch wenn der Auftritt von Gunter Heun in seiner zweiten Rolle nur kurz ist, so ist sie doch prägnant und eine kurze Zeit fürchtet der Kritiker neben mir gar um das Happy End. Mächtig und durchtrieben ist der Zauberer der Popstar der dunklen Mächte, schlagartig der Herr um Ring und steckt den Kater bald in die Tasche. Doch besessen von der eigenen Wichtigkeit wird er nicht nur ein Opfer vierbeinige Schläue sondern auch ein Opfer seiner Eitelkeit.
Der Müllersohn ist da in eine ganz seltsame
Geschichte hinein geraten.
Ein weiterer Pluspunkt der Inszenierung ist die Ausstattung von Sandra Becker, die den Balanceakt zwischen Märchen und modern bewältigt. Auch die Musik vonDominik Dittrich ist kindgerecht und elternadäquat. Es wird eben nicht gerappt, somit bleibt sie doch zauberhaft. Die Rebhühner mit Luftgitarre sorgen für den Aha-Effekt.
Kommt "Der Gestiefelte Kater" erst als frische Transformation eines Märchens in die Jetztzeit daher, scheint die Macher nach 45 Minuten ein wenig die Angst vor der eigenen Courage zu befallen. Bisher frei an Grimms entlang gehangelt,biegt die Gandersheimer Inszenierung hierr auf dem Mainstream ein. Muss das Happy End gerettet werden? Egal, immerhin hat der Müllersohn zu diesem Zeitpunkt erkannt, dass es das wichtigste auf der Welt ist, solch einen großartigen Freund wie den Kater zu haben. Da macht natürlich auch die Prinzessin gern mit beim Projekt "König aufs Glatteis führen". Die Zuschauer haben bis hierhin erkannt, dass eben erst die freie Auslegung der Textvorlage zeigt, welche Schätze in Grimmschen Märchen stecken und welche Upgrade sie dazu vertragen. Vielleicht ist dies das große Plus an der Zusammenarbeit von Anne Spaeter in der Regie, Sandra Becker und Dominik Dittrich: ein gestiefleter Kater, der nicht in Werktreue ertrinkt und auch nicht in gekrampfter Intellektualität erstarrt. Dieses Stück kann man als Märchen sehen oder als Parabel über das Erwachsen werden in einer Umwelt, die es vielleicht zu gut meint mit dem Nachwuchs. Welche Sichtweise man annimmt, dass bleibt jedem selbst überlassen und genau das macht gutes Theater aus. Auch für Kinder und deren Eltern. Das Urteil des Kritikers neben mir war eindeutig: "Ja, ich fand das auch gut." Ihm war es egal, ob der Müllersohn nun am Schluss  noch die Prinzessin bekommen hat oder nicht oder die Prinzessin den Müllersohn oder nicht oder wer auch immer irgendwem. Mir war's auch egal.


Die nächsten Aufführungen sind 29. Juni und am 13., 20. und 28. Juli. Am 4. August beendet der Kater die Gandersheimer Domfestspiel.

Das Stück in der Eigenbeschreibung.