Neuauflage des Dschungelbuchs überzeugt mit Ästhetik
Mogli geht es wie Pu. Ebenso wie der Bär mit geringem Verstand ist auch er Walt Disney in die Hände gefallen. Dieser hat den Jungen aus dem Dschungel in Zuckerguss ertränkt, geglättet und postum verstümmelt. Da kann man dem Steidl Verlag nur dankbar sein, dass er nun eine Neuauflage des „Dschungelbuchs“ veröffentlicht hat. Denn das Werk von Rudyard Kipling ist schroff und bestimmt nicht niedlich. Damit taugt es bestens zur Diskussion um Realismus und Werktreue.
Herausgeber Andreas Nohl hat das Dschungelbuch oder korrekterweise die Dschungelbücher neu übersetzt und neu sortiert. Das Dschungelbuch versammelt in zwei Bänden Kurzgeschichten und Erzählungen, in deren Mittelpunkt meist der Waisenjunge Mogli steht. Nohl hat Kipling Werke in eine Reihenfolge gebracht, die es einfacher macht, den Weg des „Menschenwelpen“ vom Findelkind zum Herrscher des Dschungels nachzuvollziehen. Dieses Werk ist der Prototyp des Entwicklungsromans.
Rudyard Kipling ist ein Kind seiner Zeit. Da ist vor allem die schwülstige Sprache des späten 19. Jahrhunderts. Jedes Teil der Bandwurmsätze ist mit einer tieferen Bedeutung aufgeladen. So etwas findet heute sicher wieder ein Publikum. Durch jeden Satz schimmert Menschenverachtung und Hass auf die Zivilisation durch. Solch Pathos hat wieder Konjunktur.Es ist
vor allem eine kraftvolle Sprache, der es gelingt, die Leser in den Bann zu
ziehen. Das Gewirr aus Haupt- und Nebensätzen weckt Assoziationen. Stellenweise
scheint es undurchdringlich wie der Urwald selbst. Es wird klar: Nur wer die
Anspielungen richtig zu deuten weiß, kann in diesem Dschungel überleben.
Deswegen
scheint man Kipling Glaubwürdigkeit. Die Kongruenz aus Sprache und Gegenstand sorgt
für die Faszination, sorgt dafür, dass man sich in die Handlung hineingezogen
fühlt. Aber man sollte vorsichtig sein mit diesem süßen Gift. Schnell ist der
Punkt erreicht, wo es bitter wird.
Kiplings
Welt ist eine einfache Welt. Es gibt nur gut oder bös, stark oder schwach,
tapfer oder hinterhältig. Es ist ein „Sprech des Stärkeren“, dass Kipling hier
führt und sein Mogli der Prototyp eines Übermenschen.
Ob man Kipling
vorwerfen kann, so die britische Kolonialherrschaft über Indien zu
rechtfertigen, ist fraglich. Immerhin ist sein Superheld selbst Inder. Hier
bricht sich wohl eher eine allgemeine Menschenverachtung ihre literarische
Bahn. Er schildert keine Vorgänge in der Natur, sondern bedient sich ihr als
Rechtfertigung für seinen Sozialdarwinismus.
Wie sehr sich die Zeiten doch gleichen. Ob nun spätes 19. oder frühes 21. Jahrhundert: Das Bürgertum ist mit den gravierenden Veränderungen seiner Zeit überfordert und flüchtet in eine idealisierte Natur. Kipling setzt in diesem Werk auf einen Duktus, der schon bei der Erstveröffentlichung 1894 als anachronistisch galt. Hier setzt nun der Diskurs über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen ein und dieser ist verschlungen und eben auch widersprüchlich.
Mit der
Verfilmung von 1967 hat das Disney-Imperium eine Dschungelbuch-Version zum
Maßstab gemacht, der Grausamkeiten und Niedertracht verbannte. Der im Buch allgegenwärtige
Tod wurde aus dem Zeichentrickfilm verbannt. Angesicht der aktuellen Tendenz, diese
Bereinigung nun auch in Tierdokumentationen der Gegenwart vorzunehmen, weil man
Tod und Blut dem Publikum nicht zumuten kann, drängt sich der Verdacht auf,
dass Disney vor 56 Jahren nur etwas vorweggenommen hat, was nun virulent wird. Der
Virus heißt „Ich mach mir die Welt wie sie mir gefällt“.
Zufall oder Absicht? Auf jeden Fall kommt die Neuauflage des Dschungelbuch damit zum richtigen Zeitpunkt. Übermensch oder Achtsamkeit Sozialdarwinismus oder Kuscheltherapie? Der Steidl-Verlag und Andreas Nohl liefern ein Beispiel, an dem der Mensch sein Verhältnis zur Natur klären kann.
Das große ABER ...
Was diese Ausgabe aber preisverdächtig macht, sind die Illustrationen von Paloma Tarrio Alves. Jedem Kapitel vorangestellt bieten sie einen zusätzlichen Blick auf den Text. Sie bereiten die Rezeption des Textes in einer Weise vor, die jegliche Romantisierung verweigert. Mit ihren kräftigen Farben eröffnen sie eine zusätzliche Tür in die raue Welt des Dschungels. Damit sind diese Illustrationen eine zusätzliche Ebene, die diese Ausgabe zum eigenständigen Erlebnis macht.Die
Grafiken wirken auch ohne Text. Sie bieten den Betrachtern die Gelegenheit in
Mystik zu versinken, weil sie in der Formensprache auf indische Motive
zurückgreifen. Tarrio Alves schafft es auch, mit denselben Mitteln die
Entschlossenheit des Trios Balu, Baghira und Mogli oder die tödliche Kraft einer
Büffelherde aufs Papier zu bringen. Das ist hohe Kunst.
Zu Kiplings 150.: Das Dschungelbuch bei Steidl
"Du kannst mich mal lieb haben" - Geschönte Tierfilme in der Diskussion