Donnerstag, 28. Mai 2020

Ein Dorf wird zur globalen Virenschleuder

Ischgl-Buch von Hechenblaikner im Steidl-Verlag erschienen

Wer wissen will, warum Corona schnell zur Pandemie wurde, der sollte sich dieses Werk besorgen. Mit “Ischgl” zeigt der Fotograf Hechenblaikner eindrucksvoll, wie aus einem Bergbauerndorf in Tirol die Virenschleuder Europas wurde.

Manchmal werden Verlage von den Ereignissen überrollt. Das Buch war schon länger geplant. Nun hat der Steidl-Verlag die Erscheinung nach vorne gezogen. Aus einem Bildband wurde so ein Erklärstück zu Europa und seinen drängendsten Problem.

Ischgl, hinter diesem einen Vokal und seinen fünf Konsonanten steckt das ganze Elend des alpinen Massentourismus. Auf 1.600 Einwohner kommen 25.000 Gästebetten. Das macht 1,4 Millionen Übernachtungen und 250 Millionen Euro Umsatz jährlich. Der Ort ist längst zur Marke geworden und zum Ballermann der Alpen verkommen. Zum Skifahren kommen nur die wenigsten. Hier ist 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche.

Lois Hechenblaikner fotografiert seit den 80-er Jahren vor allem die Natur. Dafür bekam er unter anderem den King Albert Mountain Award. Seit 2012 hat der Tiroler im Steidl-Verlag drei Bücher veröffentlicht, die sich um die Neuentdeckung der Alpen drehen. Doch keins ist so eindrucksvoll wie “Ischgl”. Es ist eine bebilderte Langzeitstudie über die Entgrenzung von Menschen.

Bilderflut

Das Werk folgt einer klaren Dramaturgie. Zeigen die ersten sechs Seiten noch verschneite Bergidyllen in milchigen Tönen, kommt der Schock auf Seite acht. Bis zum Horizont drängen sich Menschen an Menschen. Es gibt ein Konzert auf dem Gletscher. Aus einem Ort der Stille ist eine Krachmeile geworden.

Dabei bedienen sich Gerhard Steidl und Helmut Feroudi eines gestalterischen Tricks. Aus dem vollformatigen Panoramabildern sind Dreiviertelformat geworden. Die Umsicht das Naturfreunds verengt sich auf den Blick durch die Skibrille.

Alle Fotos: Lois Hechenblaikner
Aus Hechenblaikners Sicht hat Ischgl nichts mehr mit Wintersport zu tun. Es reihen sich Partybilder an Partybilder. Schnee und blauer Himmel sind nur die Kulisse für ein permanentes Besäufnis. Das verdeutlicht nichts eindrucksvoller als die Bilder auf Seite 25 und 26. Links stapeln sich leere Bierkisten in den Himmel. Rechts räkeln sich männliche Best Ager auf Hunderten von Fässern, so als wollten sie sagen: Alles das haben wir getrunken.

Erstaunlich ist, dass sich die Menschen so bereitwillig zur Schau stellen. Niemand dreht sich weg. Der Blick geht meist direkt in die Kamera. Hechenblaikner schafft es, diese verquere form des Stolzes einzufangen und schonungslos darzustellen.

Brust raus. Drei junge Männer präsentieren stolz ihre “Fotzen wo”-T-Shirts. Harte Kontraste, kein Weichzeichner und detailreich. Es sind ungeschminkte Bilder, allerbeste Reportagefotos. Damit gelingt Hechenblaikner eine Komprimierung von Dingen, die manchen verborgen bleiben.

Alkohol ist das eine, Sex das andere Thema. Ständig wird blank gezogen und plump anbaggern. In Ischgl scheint es einen heimlichen Wettbewerb der Obszönitäten zu geben. Gummipuppen sind zum allgegenwärtigen Scherzartikel geworden. Die touristische Entgrenzung geht mit der sittlichen Entgrenzung einher.

All das kontrastiert Hechenblaikner immer wieder mit Bildern leerer Pisten. Wer braucht schon Ski wenn es doch Apres Ski gibt? Deswegen tragen auch die meisten Menschen auch Kostüme und keine Sportbekleidung.

Es nimmt und nimmt kein Ende. Mit seinen Bildern dokumentiert der Fotograf wie der Bauboom in Tirol weitergeht und wie die Gentrifizierung rasant an Fahrt aufnimmt. Von Ischgl selbst ist wenig zu sehen. Der Ort ist austauschbar geworden, ist die bittere Erkenntnis. Bewohner kommen auf den Bilder nicht vor. Sind sie an den Rand gedrängt oder so sehr mit Geld zählen beschäftigt, dass die Zeit nicht mehr zum Posieren vor der Kamera reicht?

Die Champagnerhütte war wirklich mal nur eine Hütte. Das zeigt Hechenblaikner mit der Genüberstellung zweier Fotos. Dieser Technik bedient er sich mehrfach. Heute kostet die Flasche dort 2.890 Euro. Das kann sich kein Dorfbewohner mehr leisten. Was bleibt sind Berge von Müll und Menschen, die zwischen Autos schlafen. Damit ist die Inszenierung zu Ende.

Ohne Worte

Bilder sagen mehr als Worte und die Bilder von Hechenblaikner sprechen Bände. Deshalb kommt das Vorwort erst zum Schluss. Stefan Gmünder gibt aber keinen Erläuterungen zum Werk. Er erklärt den Menschen Hechenblaikner. Der Leser erfährt so, was den Fotografen antreibt, wo seine Motive liegen.

Doch Gmünder macht auch die Gründe des Irrsinns deutlich. Armut war die treibende Kraft. Doch bis in die frühen 60-er Jahre haben die Eltern im Planautal ihre Kinder nach Süddeutschland geschickt, damit sie dort für Kost und Logis arbeiten konnten. Heutzutage unvorstellbar in Europa.

Gmünder geht auf die aktuellen Ereignisse ein. Er rekapituliert welche Kette von Fehleinschätzungen Ischgl zur Virenschleuder gemacht haben. Ere berichtet aber auch von einem Umdenken in der Politik, von neuen und alten Werten in der Tourismusbranche. Damit könnte “Ischgl” von einer Situationsbeschreibung zu einem Blick zurück in eine turbulente Vergangenheit werden. 978-3-95829-790-6

Daten 

Lois Hechenblaikner wurde 1958 in Reith im Alpbachtal geboren. Nach einer Ausbildung zum Kfz-Elektriker ging er seit 1985 auf Fernreisen, die er auch dokumentierte. Seit den 90-er Jahren sind die Folgen des Tourismus sein Lieblingsthema. Saulus und Paulus finden sich hier.

Das Buch “Ischgl” enthält 205 Fotografien auf 240 Seiten. Es kostet 38,- Euro und erscheint am 2. Juni im Steidl-Verlag. Die ISBN lautet 978-3-95829-790-6


Material #1: Ischgl - Das Buch

Material #2: Lois Hechenblaikner - Die Biografie

Dienstag, 12. Mai 2020

Die Grenzen des Theaters gesprengt

"Die Methode" am DT Göttingen als Drive-In-Vorstellung

Vergesst das Autokino. Kultur findet in der Tiefgarage statt. Mit „Die Methode“ hat das Deutsche Theater Göttingen ein Stück entwickelt, das die passende Antwort auf die Zeit ist. Es findet eben in der DT-Tiefgarage statt und begeistert mit einem Maximum an Nähe. Das erste Drive-In-Theater ist mehr als nur eine Überraschung.

Das gestörte Verhältnis von Nähe und Distanz sei das sublime Thema der Corona-Krise. Das Fehlen der gewohnte Bipolarität würde die Menschen verunsichern, hatte Intendant Eric Sidler in der Pressekonferenz erklärt. Das wolle man mit dieser Inszenierung aufgreifen. Er hat zu wenig versprochen. „Die Methode“ ist eine geballte Ladung an Intimität und eine Stellungnahme zur Öffentlichkeit zugleich. Hinter allem steckt die Sehnsucht nach Liebe als Triebfeder menschlichen Handelns. Ein zutiefst humanistisches Statement in den Zeiten der Apparatschiks.

Grundlage ist der Roman „Corpus Delicti“ von Juli Zeh. Dieser wirkt nun wie eine Blaupause für die Corona-Krise. Das Individuum verschwindet im Kollektiv. Oberste Maxime ist die Gesundheit des Kollektivs. Jeder ist zum Sport verpflichtet, jeder muss Berichte zu seiner Ernährung abliefern.

Moritz Holl wartet auf der Lichtung.
Alle Fotos: Thomas M. Jauk
Das Leben ist nur in desinfizierten Bereichen erlaubt und Beziehungen müssen von der zentralen Partnerschaftsvermittlung erlaubt werden. Dabei ist der Haupthistokompatibilitätskomplex der entscheidende Faktor. Alles ist in den 27 Artikeln der Präambel in Stein gemeißelt.

Es ist eine Diktatur, die keinen Führer braucht. Es ist weitaus gefährlicher. "Die Methode" ist ein System der Mitmacher, weil die kleinen Rädchen sich als Teil eines Großen und Ganzen empfinden. Das arbeitet diese Inszenierung wunderbar heraus. 

Moritz Holl rebelliert dagegen. Er will frei sein und selbst über seinen Körper entscheiden. Er will angeln, angebrannte speisen essen und nach Schweiß riechen. Holl widersetzt sich dem Zwang zum gesunden Leben, weil dies ein Angebot ist, das man auch ablehnen kann.

Holl ist Individualist bis an die Grenze zur Einsamkeit. Er will den Zwang des Systems nicht durch den Zwang der Oppositionsgruppe RAK, Recht auf Krankheit, ersetzen. Sie ist ihm zuviel Institution, er setzt auf Zweisamkeit und er sucht vor allem die Liebe, die dem System abgeht. Er entzieht sich dem Skylla-oder-Charybdis-Logik und diese Freiheit bezahlt er mit seinem Leben.

Die Inszenierung von Antje Thoms erzählt die fatale Entwicklung in vier Positionen. Dem Ensemble gelingt dabei eine Eindringlichkeit, die angesichts der Umstände überrascht, die aber ohne die besondere Aufführungsform nie möglich gewesen wäre. So viel Intimität wäre selbst auf einer Studiobühne nicht möglich gewesen. Darsteller und Publikum treten in eine Eins:Eins-Situation. Der Zuschauer wird zu einem festen Bestandteil der Inszenierung.

Die Fahrt

Diese beginnt schon bei der Anfahrt. Ein Wesen in Weiß kontrolliert Kennzeichen und Name. Jedem Wagen ist eine feste Zeit, ein Slot, zugewiesen. Wer den verpasst, guckt in den Auspuff. Das System duldet keine Abweichung. Immerhin darf man die Auslastung des eigenen Pkws selbst bestimmen.

Dann geht es zu den nächsten weißen Wesen am Einlass. Im Kassenhäuschen es arbeitslosen Fahrgeschäfts sitzt der Wärter. Gemeinsam geht man die 27 Artikel der Präambel durch. Ohne Zuspruch kein Einlass. Scheinwerfer aus und Innenbeleuchtung an.

Die Bühnenbilder und die Ausstattung von Florian Barth sind großartig. Das quietschbunte und blinkende Kassenhäuschen wirkt wie ein Ufo in dieser sterilen Atmosphäre. Es erinnert sehr deutlich daran, dass Rummel und exaltierte Lebensfreude derzeit nicht möglich sind. Damit ist es der Kontrast zur Klaustrophobie, die in der Tiefgarage wartet. Jede Station verdeutlicht das Eingesperrt sein im System.

Die weißen Wesen lotsen den Besucher zur ersten Position im Dunkel der Tiefgarage. Dort am imaginärer Waldrand wartet Moritz Holl im Auto. Allein schon sein Wagen ist ein klare Absage an das, was andere als vernünftig bezeichnen. Er ist Rebellion auf vier Rädern. Der Chrysler New Yorker Baujahr 1970 hat einen Durst von mehr als 20 Litern im Betrieb.

Ein Dinosaurier-Ei mitten im Wald.
Foto: Thomas M. Jauk 
Im Auto sitzt Volker Muthmann in der Rolle des Gesundheitsrebellen. Er wirkt gehetzt, nervös schaut er sich immer wieder um. Die Worte kommen meist gepresst. Allen großen Reden zum Trotz, die noch kommen werden, ist er alles andere als souverän. Mit dieser zerrissenen Person liefert Muthmann eine Klasseleistung.

Holl stimmt die Gitarre und lädt seine Automatikpistole durch. Er schaut dem Betrachter direkt in die Augen. Damit wird das Spiel auf die persönlichste aller Ebenen getrieben. Der Betrachter wird zum Mitspieler. Kopfschütteln oder nicken, hinschauen oder wegsehen. Die Reaktionen sind zwangsläufig. Man kann sich nicht entziehen. Das wiederkehrende Geräusch eines Helikopters macht deutlich, dass die Gefahr omnipräsent ist.

Das Auto mag ein Faradayscher Käfig sein. Aber hier bietet die Hülle aus Stahl und Glas keinen Schutz. Man ist dem Spiel schutzlos ausgeliefert. Man wird zum Teil der Inszenierung. Zum Abschied klebt Moritz Holl einen blutigen Gruß an das Seitenfenster.

Wie in einer Waschanlage geht es einen Vorhang aus schwarzen Plastikstreifen geht es zur nächsten Station. Florian Barth setzt noch eins drauf. In einem dunklen Wald aus jungen Birken und Buchen steht die Kabine einer Seilbahn. Sie wirkt wie ein Dinosaurier-Ei mit Innenbeleuchtung. Auf alle Fälle ist die Kabine zu eng für die Staatsanwältin. Sie fühlt sich nicht wohl in dieser Haut aus Plastik.

Die Ansprache ist nun direkt und die Rollen haben gewechselt. Aus dem Betrachter wird der Beschuldigte. Man schlüpft in die Rolle von Moritz Holl und damit fällt die letzte Schranke.

Die Staatsanwältin ist gut vorbereitet. Sie weiß alles, was kurz zuvor auf der Lichtung gesprochen wurde. Man fühlt sich ertappt. Sie redet einem ins Gewissen wie die gute Tante Erzieherin in der Kindertagesstätte. Sie strapaziert den Begriff Vernunft und reiht die Argumente der systemimmanenten Logik aneinander. Sie verpflichtet das Individuum auf das Wohl der Gemeinschaft und an die Scheiben gepresst wird aus dem strengen Blick ein Fratze.

Es gibt ein letztes Angebot zur Zusammenarbeit. Sie kann aber auch drohen und damit ist sie “Good cop, bad cop” in einer Person. Mit dieser diabolischen Figur ist Dramaturg Matthias Heid ein ganz großer Wurf gelungen.

Zur nächsten Station. Nun steht der Wagen nicht mehr parallel oder frontal zum Schaukasten, sondern leicht angewinkelt. Das wirkt etwas legerer, schafft Entspannung. Paul Wenning zeigt an diesem Abend die größte Wandlungsfähigkeit. Er ist Holls Anwalt und erfüllt durchweg alle Vorbehalte gegenüber Winkeladvokaten.

Der Winkeladvokat in Person.
Foto: Thomas M. Jauk

Mit vielen wohlfeilen Worten lobt er Holls Mut und schwingt sich zum Bewunderer auf. Der gemeinsame Schluck Billigsekt soll Verbrüderung schaffen. Gemeinsam werde man das schaffen. Dann donnert ein Helikopter über die Szenerie und in die Texte des Anwalts mischt sich die erste Skepsis.

Dann springt eine weiße Gestalt aus der Dunkelheit und klemmt Papier unter den Scheibenwischer. Aussteigen nicht erlaubt, als wird man warten müssen, bis man aus dieser Geisterbahn heraus ist, um zu erfahren, was dort gedruckt wurde. Die Wandlung ist vollendet. Aus dem Bewunderer ist der juristische Abfertiger geworden. Der Der Anwalt bedient sich der Terminologie der "Methode". Das Urteil “Einfrieren auf unbestimmte Zeit” steht fest. Wenning schafft es, alle drei Phasen verlustfrei darzustellen. Sein Wandel wirkt nicht sympathisch aber immerhin verständlich.

Hamsterkäfig oder Tiefkühltruhe? Die in Neonlicht getauchte letzte Position vermittelt vor allem Einsamkeit. Ein Trimmrad wartet auf Bewegung. Andrea Strube spielt Mia Holl. Sie hat nicht nur den Bruder verloren, sondern auch den Glauben an die Methode. Von der Mitmacherinnen ist sie in den Status der Skeptikerin abgestürzt. 

Als Biologin fühlte sie sich dem System verpflichtet, nun hat sie alles verloren. Die Fundamente ihres Lebens sind weg. Die Stimme brüchig, die Schultern gebeugt. Strube gibt dem endlosen Schmerz eine Gestalt. Fast möchte man aussteigen und sie trösten. Das ist Mitleid in Jogginghosen und was dies bedeutet, hat schon Karl Lagerfeld verdeutlicht.

Zurück geht es zum Kassenhäuschen. Der Wärter erklärt dem Besucher dessen Verfehlungen. Er stellt eine Gefährdung dar und muss das Gelände sofort verlassen. Das Spielt wirkt so echt, dass sich nun Erleichterung einstellt.

Zur rechten Zeit

Intensive Bilder und die Intimität zwischen Publikum und Darsteller in einer neuen Dimension. “Die Methode” wäre so im gewohnten Theatermodus gar nicht möglich. Antje Thoms hat mit dieser Inszenierung das Übliche gesprengt. Trotz der Hülle “Auto” sind die Grenzen zwischen Darsteller und Publikum endgültig aufgehoben.

Tiefkühltruhe oder Hamsterkäfig?
Foto: Thomas M. Jauk 
Die Schauspieler wechseln sich regelmäßig ab. Jeder erfährt seine ganz eigene Vorstellung, es gibt keine Wiederholung, nichts wird so sein, wie es eben gerade noch war. Darsteller und Zuschauer kommen sich ungewöhnlich nahe. Damit treibt Thoms die Individualität auf die Spitze in einem Augenblick, in dem das Verhältnis von Öffentlich und Privat gestört ist. Das Theater durchdringt an alle privatesten Raum des Autos. Damit hat sie eine neue Form der Darstellung zur rechten Zeit gefunden.

Der “Corpus Delicti” von Juli Zeh taugt nur bedingt als Blaupause. Die gelernte Juristin zeigt in ihrem Roman, wie das Individuum vom Kollektiv auf alle Zeiten geschluckt wird. Corona ist eine konkrete und singuläre Bedrohung und kein Dauerzustand. Doch dem Deutschen Theater gelingt es, zu zeigen was danach kommen kann, was blüht, wenn aus einem Einzelfall eine permanente Bedrohung konstruiert wird.





Material #1: Deutsches Theater - die Homepage
Material #2: Die Methode - das Stück

Material #3: Corpus Delicti - das Buch

Dienstag, 5. Mai 2020

Gegensätzliches Doppel

Zwei opulente Bücher - Beide anders

Die Parallelen liegen auf der Hand. Karl Lagerfeld und Peter Lindbergh gehören zu den Ikonen der internationalen Modeszene. Beide haben Maßstäbe gesetzt, der eine als Modeschöpfer, der andere als Modefotograf. Ihre Wege haben sich mehrfach gekreuzt und im letzten Jahr sind sie verstorben. Zeitgleich sind nun zwei opulente Bücher, die eine Überblick über ihr schaffen bieten soll.

Zu beiden gibt es derzeit eine Retrospektive als Werkschau. Der eine wird in Halle gezeigt, der andere wird in Düsseldorf ausgestellt. Die beiden Bildbände dazu machen eher die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten deutlich.

Das eine Buch heißt schlicht „Karl Lagerfeld – Fotografie“, das andere „Peter Lindbergh – On Fashions Photograhpy“. Finden sich die Parallelen auch in gedruckter Form wieder?

Lagerfeld

„Gerhard Steidl ist der beste Drucker der Welt.“ Mit diesem Lob hatte Lagerfeld schon vor Jahren den Göttinger geadelt. Schließlich geht die Zusammenarbeit der beiden schon bis in die Mitte der 90-er Jahre zurück. Der passionierte Fotograf Karl Lagerfeld ließ seine Bilder in Buchform in Göttingen veröffentlichen.

„Karl Lagerfeld - Fotografie“ ist eine Rundumschau über sein Schaffen mit der Kamera. Es versammelt Bilder aus den späten 80-er Jahren bis ins Jahre 2018. Es ist nicht mehr als der Katalog zur Ausstellung und damit nur ein Appetithäppchen.

Aber es ist ein Galamahl für Bibliophile., Buchkunst in Vollendung Es ist eine Fest der Sinne und ein weiterer Beweis, warum analoge Haptik digitaler Optik immer noch überlegen ist. Das Format von 24,5 mal 32 ergibt eine Diagonale von 22 Zoll. Das wirkt.

Das ungestrichene Papier in 150er Qualität ist nicht nur warm und angenehm zu greifen. Drucktechnisch nicht ganz einfach, zaubert es aber weiche Farben in unendlichen Abstufungen. Das wird besonders bei den Daguerreotypien und Platinotypien deutlich.

In der Einleitung betont Gerhard Steidl, dass sein Partner Lagerfeld in allen Dingen eine Perfektionist war. Offensichtlich sind hier die passenden Gemüter aufeinander getroffen. Deswegen hielt die Zusammenarbeit über mehr als 25 Jahre und 49 Werke lang.

Der Meister fotografiert sich selbst. 
Fotos: Thomas Kügler
Der Zugang zu Lagerfelds Bilder ist nicht einfach. Er gelingt nur, wenn man die Erläuterungen von Hubertus Gaßner gelesen hat und sich immer wieder vor Augen führt.

Es sind verkopfte Bilder, die man zu schätzen weiß, wenn man antike Mystik und barocke Kunst zumindest ansatzweise im Hintergrund mitführt. Ansonsten bleibt es ein bloßes Betrachten, stellt sich keine Verstehen ein.

Lagerfeld verweigert den Betrachter den emotionalen Zugang zu den Dargestellten. Vielleicht hat der Fotograf Lagerfeld auch nie diesen gewissen Draht zu den Abgelichteten gefunden. Einzige Ausnahmen sind die die Portraits von Brad Kroenig in „Metamorphes of an American“.

Lagerfeld lebt sein Faible für Barockes aus. Er greift das Mittel der Tableaux vivants, der lebenden Bilder auf, und sorgt mit kleinen Brüchen in den Details gleichzeitig für ihre Ironisierung. Alles ist artifiziell, alles ist gestellt, alles ist Pose. Er macht auch kein Hehl aus der Inszenierung und damit ist er ehrlicher als Lindbergh.

Hier ist nichts lebendig und die Models starren am Betrachter vorbei in die Ferne. Da ist keine Beziehung zwischen dem Mensch am Auslöser und den Objekten vor der Kamera. Damit kann auch das Publikum keinen Zugang finden. Lagerfeld bleibt der Modefotografie der 60-er Jahre verhaftet.

Lagerfeld zitiert Feininger, Stettheimer oder Hopper. Es sind gut gemachte Zitate, aber eben nicht mehr. Erst in der Überhöhung des Artifiziellen in der Serie „Fendi“ findet er 2011 einen eigenen Ausdruck. Das vielfache Spiel mit dem Bild, der Kopie und dem Original verwirrt und bezieht dann doch Position: Nichts ist so wie es scheint.

Aber wirklich lebendig werden die Bilder erst dann, wenn Lagerfeld sich selbst porträtiert. Zumindest zu seiner Person findet er einen Zugang. Ungewollt verdeutlicht das Werk damit die Einsamkeit des Karl Lagerfelds.

Lindbergh

“Peter Lindbergh - On Fashions Photgraphy”: Dieses Buch ist ein Hammer und es trifft einen mit voller Wucht. Deshalb sollte man es nur in kleinen Häppchen. Peter Lindbergh hat die Modefotografie geändert und über Jahrzehnte geprägt. Er hat die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz aufgehoben. “On Fashion Photography” macht deutlich, warum.

Lindbergh hatte das Glück, das Vorwort zu diesem Werk noch selbst schreiben zu können. Schließlich hat seine Ausstellung "Untold Stories" noch selbst kuratiert. Er gibt dort einige Erläuterungen zu seinem Werdegang und seiner Berufsauffassung. Dazu gehört eben auch der Begriff des Erzählens. Geschichten erzählen mit der Kamera, mit Licht und Schatten, Schärfe und Unschärfe, eben mit den Mitteln der Fotografie.

Anders als im Falle Lagerfeld braucht man diese Worte nicht, um das Werk zu verstehen. Die Bilder sprechen für sich. Der Zugang ist jedem möglich, der sehen kann.


Der Meister und die Models.
Foto: Kügler
Deshalb kann man es in eine Frage und eine klare Antwort fassen. Was macht die Erzählung aus? Niemals die Kleider.

Es ist der Mensch, den Lindbergh ablichtet, den kompletten Menschen gefasst in einen Sekundenbruchteil. Die Grenze zwischen Fotograf und Motiv ist aufgehoben. Der Mann aus Düsseldorf muss ein Magier gewesen sein. Selbst dem spröden Lagerfeld konnte er zweimal ein breites Lächeln entlocken.

Diese Magie wird gleich klar. Der Einstieg erfolgt mit jenen legendären “White Shirts” für die amerikanische Vogue. Das Bild, entstanden 1988 am Strand von Malibu, hat das Genre verändert. Sechs Top-Models im albernen Spiel miteinander, so viel Lebendigkeit gab es in der Modefotografie bis dahin nicht. Danach war alles anders.

Hier verspielte Jugend, dort entspannte Erfahrung. Das Portrait von Pina Bausch ist wie ein Blick zurück auf ein ganzes Leben. Die Kamera taucht hinab das Innerste der Tanzikone. Lindbergh schafft es, eine komplexe Erzählung in ein einziges Bild zu packen. Das ist ganz große Kunst.

Erst spät hat Lindbergh die Farben entdeckt. Selbst dort blieb er noch reduziert. Die meisten Werke sind schwarz-weiß. Im Vorwort erklärt der Fotograf seine Vorliebe zu den tiefen Tönen. So wird die Konzentration auf das Motiv noch einfacher. Wenige Seite hinter Bausch lässt sich Richard Gere in die Seele blicken. Sein Kopf und Schopf tauchen gewissermaßen auf aus einem unbekannten Meer. Das Konzept der Konzentration erreicht hier den Höhepunkt.

Aber man sollte sich nicht täuschen lassen. Man merkt gar nicht, dass es um die Präsentation von Oberbekleidung geht, so sehr stehen die Menschen im Vordergrund. Das Tuch tragen sie  ganz selbstverständlich, sie werden eins.

Auch wenn die Sprache häufig rau und spröde ist, das Make Up unsichtbar bleibt und vieles beiläufig wirkt: Hier wurde nichts dem Zufall überlassen. Alles ist arrangiert. Auch wenn die Bilder wie Schnappschüssen vom Set wirken, sie sind alles, nur kein Beifang. Damit gleichen sich Lagerfeld und Lindbergh dann doch.

Das Buch ist der der Hammer und es trifft einen mit voller Wucht. Die 440 Seiten sollte man häppchenweise genießen. Sonst wird man von den Eindrücken erschlagen.





Material #1: Karl Lagerfeld - Das Buch
Material #2: Peter Lindbergh - Dem sein Buch