Ein Blick von der Brücke am DT Göttingen
Das ist ohne Frage eines der stärksten Stücke am Deutschen Theater in Göttingen in dieser Spielzeit. Am Freitag stand die Premiere von Millers "Ein Blick von der Brücke" auf dem Spielplan. Die Inszenierung von Ingo Berk überzeugt in allen Belangen. Sie ist eine Reise in die Vergangenheit, ein Statement über die Gegenwart und eine Prognose zu Zukunft zugleich.New York in den 1950er Jahren. Der Hafenarbeit Eddie Carbone und seine Frau Beatrice wohnen mit ihrer verwaisten Nichte Catherine im Hafenviertel Red Hook. Die italienischen Einwanderer der zweiten Generation leben in sicheren aber bescheidenen Verhältnissen. Oberflächlich ist Eddie um den gesellschaftlichen Aufstieg des Ziehkindes bemüht. Er wacht als strenger Ersatzvater über sie, heimlich begehrt er die frühreife 17-Jährige.
Es ist eine fragile Konstellation, die in sich zusammenbricht als Marco und Rodolfo ins Spiel kommen. Beatrice Cousins wurden von Schleppern nach New York geschleust. Sie wollen dem Elend in der sizilianischen Heimat entgehen und müssen sich als Illegale vor den Behörden verstecken. Als sich Rodolpho und Catherine ineinander verlieben und heiraten wollen, nimmt das Unglück seinen zwangsläufigen Verlauf. Eddie verstößt gegen die ungeschriebene Gesetze der italienischen Gemeinschaft in New York. Er verrät den Nebenbuhler an die Einwanderungsbehörde und muss dafür den Königstod sterben.
Beatrice, Eddie und Catherine leben in einem fragilen Konstrukt. Alle Fotos: Thomas Aurin |
Die Rolle des klassischen Chors konzentriert sich auf den Anwalt Alfieri. Er gibt die Einleitung, der ist der Kitt zwischen den Szenen und er darf den Epilog sprechen. Mit den Verweis auf Siziliens gebrochenes Verhältnis zu Recht und Gerechtigkeit seit den Zeit der Griechen und Römer macht er den Ewigkeitsanspruch deutlich, denn es werden hier noch andere Dauerthemen verhandelt.
"Blick von der Brücke" auf die Flüchtlingsfrage zu reduzieren, das wird dem Stück nicht gerecht. Es um auch um Fehlverhalten und Rache, um Adoleszenz und Loslösung, Wahrheit und Kompromiss, und um die zerstörerischer Kraft der Eifersucht.
Paul Wenning wirk als Anwalt Alfieri ein wenig wie ein Sam Spade der Juristerei, abgeklärt und ahnungsvoll, hilfsbereit aber distanziert, wissend um die Regeln der Gruppe immer an Rande der Legalität, reduziert in Gestik und Mimik und mit der Stimme immer im grünen Bereich. Mit dieser Leistung überzeugt er, schade nur, dass er an diesem Abend gleich drei Hänger hat.
Nicht nur als Marco und Rodolpho abgeführt werden, steht Eddie außerhalb. |
Andrea Strube in der Rolle der Ehefrau Beatrice gewinnt im Laufe der Vorstellung immer mehr an Präsenz. Vom Heimchen am Herd wird sie zur Seher, zur einzigen, die alle Schichten des Konfliktes durchblickt. Diese Wandlung macht Strube mit Stimme und Gestik sichtbar. Folgerichtig offenbart sie die Ehekrise und genauso folgerichtig bringt sie die sexuelle Komponente der Tochter-Ersatzvater-Beziehung auf den wunden Punkt. Trotzdem kann Strube glaubwürdig vermitteln, dass Beatrice bei aller Einsicht die Mitteln zum Handeln fehlen.
Doch, doch, die Inszenierung von Ingo Berk ist purer Jazz. Sie ist rasant und treibend wie ein Song von Charlie Parker und todtraurig wie ein Solo von Chet Baker zugleich. Einen großen Anteil daran hat das überwältigende Bühnenbild von Damian Hitz.
Als sich der eiserne Vorhang hebt, gibt er den Blick frei auf ein Sofa mit Gebrauchsspuren. Abschirmt ist die Spielfläche durch ein Wald von Eisenstreben, die Erinnerungen an die Brooklyn Bridge wecken.
Man schaut in die Dunkelheit des Bühnenhaus. Zahlreiche Spot setzen die Backsteinwände mit Gebrauchsspuren in ein Spiel aus Licht und Schatten. Dies setzt Assoziationen mit der Architektur aus New Yorks stürmischen Zeiten frei. Dazwischen steht eine Stahlkonstruktion aus T-Träger. Hier oben thront Alfieri allwissend.
Alfieri (links), versucht Marco von seinen Rache-
gedanken abzubringen. Alle Fotos: Th. Aurin
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"Ein Blick von der Brücke" fasziniert durch seine erzählerische Dichte. Arthur Miller verknüpft hier unterschiedliche Fäden zu einem Handlungsstrang. Berks Inszenierung macht die Kett- und Schussfäden sichtbar, ohne dem Werk etwas von seiner Rasanz zu nehmen. Innerhalb von einer Stunde 45 schafft er einen Kosmos und lässt ihn gleich wieder einstürzen. Die Betrachtung erfolgt aus mehreren Perspektiven und das Motiv des Verlustes in all seiner Vielfältigkeit durchzieht die Aufführung deutlich.
Er liefert ein glaubwürdiges Abbild gesellschaftlicher Wirklichkeit und wirkt wie ein Film noir aus dem Migrantenmilieu. Die Sprache ist abgeklärt und zynisch und transportiert doch nur Wahrheit. Miller verzichtet auf langatmige Selbstbekenntnisse und lässt die Handlung sprechen.
Jedes Wort ist am richtigen Platz und Dank der Dramaturgie von Sonja Bachmann ist es kein Wort zuviel. Mancher im Publikum versucht den Realitätschock an diesem Abend wegzukichern. Als Ediie mit "Geh schon mal ins Bett, ich komme gleich hinterher" die Ehekrise in einem Standardsatz manifestiert herrscht im Parkett die berühmte Sekunde selbsterkennendes Schweigen
"Ein Blick von der Brücke" ist nicht einfach ein Trauerspiel über illegale Arbeitskräften. Miller bringt hier Amerikas großes Thema der 50er und 60er Jahre auf die Bühne: Das Verhältnis von Ingroup und Outgroup. Die Illegalität ist nur die offene Flanke, die Eddie im Kampf um sein verlorenes Terrain nutz.
Es geht um das Dazugehören wollen, um die Regeln des Spiels und um die Angst, ausgestoßen zu werden. Dieses Thema ist wieder ganz gegenwärtig und es wird Bestand haben, das ist der Blick nach vorn.
Mit diesem Stück hat Ingo Berk nicht nur die Absenz seines großes Dramatikers beendet und eine wichtige Ära des Theaters. Es ist ihm gelungen, die Verweise in die Jetztzeit auf sehenswerte und faszinierende Weise deutlich zu machen.
Deutsches Theater - Der Spielplan
Deutsches Theater - Das Stück
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