Dokumentationstheater "Wegschließen, und zwar für immer" zeigt ungeschönten Blick
Sicherungsverwahrung ist ein heikles Thema. Das Deutsche Theater Göttingen hat sich dieser Herausforderung gestellt. Der Gewinner ist das Publikum. Mit "Wegschliessen und zwar für immer" legen Nico Dietrich und Inken Kautter ein Stück Dokumentationstheater vor, das es versteht, Fakten auf emotionale und intelligente Weise zu vermitteln. In einer Rübe-ab-Atmosphäre der öffentlichen Diskussion setzten sie ein Zeichen und sagen: "Halt, so einfach ist das nicht!"Ob nun Gefängnis oder Sicherungsverwahrung, letztendlich geht es um Kontrolle über das Individuum. Am Einlass verkünden Meinolf Steiner und Thomas Hoffmann die Regeln in einer Haftanstalt. Dann folgen Taschenkontrolle und Leibesvisitation. Der schroffe Beginn macht deutlich: Hier geht es um Realität und eine JVA ist nun mal keinPuppenhaus. Das Publikum spielt mit.
Es folgen viele Szenen, die ein Schlaglicht auf alle Aspekte der staatlich verordneten Freiheitsberaubung werfen sollen. Somit ist Theater eigentlich konstruiert, aber es gibt zwei rote Fäden. Da ist die Geschichte des Umzugs der Sicherverwahrten aus der JVA Celle in die JVA Rosdorf im Sommer 2013.
Thomas Hoffmann macht deutlich, dass auch ein Täter ein Mensch bleibt. Foto DT/I. Winarsch |
Die Stärke von "Wegschliessen und zwar für immer" liegt in der Betrachtung fast aller Ebenen. Dietrich und Kautten haben auf schwarz und weiß verzichtet, auf einfache Schuldzuweisungen und auf Sozialromantik.Sie zeigen Ausschnitte, Puzzleteile einer komplexen Realität und die Zuschauer dürfen sich den Leim selbst machen. Jeder ist zum Mitdenken aufgefordert und darf seine Schlüsse selbst ziehen. Niemand wird der Freiheit seiner Gedanken beraubt. Die Akteure in "Wegschliessen und zwar für immer" stehen für viele Perspektive auf diesem Thmenkomplex,doach auf die Opfer-Perspektive verzichten Dietrich und Kautten. Das ist konsequent und mutig. Aber sie machen sich auch nicht mit den Täter gemein, "Wegschliessen und zwar für immer" ist ein Faktenreport mit den Mitteln des Theaters. Vielleicht sorgte gerade dies für die Ent-Emotionalisierung eines heiß diskutierten Themas? Wenn dem so ist, dann kann man den Autoren nur danken.
Gisela (Imme Beccard) kümmert sich ehrenamtlich um Strafgefangene und weiß nicht so recht warum.
Foto: DT/Isabel Winarsch
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Zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler betreten an diesem Abend die Bühne in wechselnden Rollen. Alle vier haben ihre starken Momente. Doch als Ensemble brennen sie sich schon in der dritten Szene ein. Auf der dunklen Bühne nur vom Licht ihrer Smartphones beschienen tragen sie Kommentare aus Netzwerken vor. Das ist Hass, blanker Hass in konzentrierter Form, Allmachts- und Gewaltphantasien derjenigen, die draußen sind und sich moralisch überlegen fühlen. Mit wenigen Griffen gelingt es den Autoren und dem Schauspielern, zu verdeutlichen, dass die wirklichen Perversen ganz woanders sitzen.
Karl erzählt aus 32 Jahren Knastkarriere. Foto: DT/Winarsch |
Die Kommunalpolitik und lokale Vergangenheitsbewältigung darf nicht fehlen. Meinolf Steiner überzeugt als Bürgermeister, dem es gelang, die JVA ohne Widerstand in seiner Kommune zu errichten, der vom Erfolg seines Handelns überrascht wurde und sich nun diebisch freut, dass er es besser gemacht hat als der große Nachbar. Da ist diese Mischung aus Großspurigkeit und Überraschung, die sich in fahrigen Bewegungen ausdrück und in abgebrochen und wieder aufgenommenen Sätzen Bahn bricht.
Sibille Helfenberger bleibt es in der Rolle einer Landgerichtsrichterin überlassen, dem Publikum den Spiegel vorzuhalten, auch dem liberalen Bürgertum eine Sankt-Floriansmentalität nachzuweisen. Es gibt nur deswegen eine JVA Rosdorf, weil Göttingens Bürger die JVA Göttingen verhindert haben.
Es sind die einfachen Mittel, die diese Inszenierung so eindringlich machen. Das Klebeband auf dem Boden markiert die Größe einer Zelle. Umzugskarton verdeutlichen die Größenverhältnisse zwischen der Menge der Strafgefangenen und der Anzahl der Sicherheitsverwahrten. Ein Turm aus Kartons zeigt Baustein für Baustein die Geschichte der Sicherungsverwahrung seit ihrer Einführung 1933 bis zum Abriss durch dasEuGH. Dies Aussage ist an dieser Stelle deutlich: Sicherungsverwahrung ist die Abkehr vom Schuldbezug hin zum reinen Verdachtsmoment, ist der Entzug der Freiheit begründet mit einem "Es könnte sein, dass", die totale Kontrolle über etwas,was vielleicht gar nicht kontrolliert werden kann. Somit schaffen Dietrich und Kautten Faktenvermittlung ohne Belehrung, ohne Zeigefinger.
Mit "Wegschließen und zwar für immer" ist dem Deutschen Theater und den beiden Autoren ein Stück Theater gelungen, das aus einem Akt der Verwaltung, aus der Umsetzung vieler Gerichtesentscheide einen intensiven Abend in der dichten Atmosphäre des DT-Studios macht, neue Perspektiven eröffnet und dem Zuschauer die Möglichkeit gibt, sich selbst scheinbar bereits beantwortete Fragen neu zu stellen. Mehr davon!
Das Stück in der Selbstdarstellung
Der Spielplan im DT
Die Sicherungsverwahrung im Überblick