Freitag, 22. November 2013

Wirklich alles unter Kontrolle?

Dokumentationstheater "Wegschließen, und zwar für immer" zeigt ungeschönten Blick

Sicherungsverwahrung ist ein heikles Thema. Das Deutsche Theater Göttingen hat sich dieser Herausforderung gestellt. Der Gewinner ist das Publikum. Mit "Wegschliessen und zwar für immer" legen Nico Dietrich und Inken Kautter ein Stück Dokumentationstheater vor, das es versteht, Fakten auf emotionale und intelligente Weise zu vermitteln. In einer Rübe-ab-Atmosphäre der öffentlichen Diskussion setzten sie ein Zeichen und sagen: "Halt, so einfach ist das nicht!"
Ob nun Gefängnis oder Sicherungsverwahrung, letztendlich geht es um Kontrolle über das Individuum. Am Einlass verkünden Meinolf Steiner und Thomas Hoffmann die Regeln in einer Haftanstalt. Dann folgen Taschenkontrolle und Leibesvisitation. Der schroffe Beginn macht deutlich: Hier geht es um Realität und eine JVA ist nun mal keinPuppenhaus. Das Publikum spielt mit.
Es folgen viele Szenen, die ein Schlaglicht auf alle Aspekte der staatlich verordneten Freiheitsberaubung werfen sollen. Somit ist Theater eigentlich konstruiert, aber es gibt zwei rote Fäden. Da ist die Geschichte des Umzugs der Sicherverwahrten aus der JVA Celle in die JVA Rosdorf im Sommer 2013.
Thomas Hoffmann macht deutlich, dass auch ein
Täter ein Mensch bleibt
. Foto DT/I. Winarsch
Die andere Klammer ist Rudi, ein Sexualstraftäter, der eben diesen Weg mitmacht. Thomas Hoffmann gelingt es, dem Publikum die verschiedenen Seiten eines Täters, diese Mischung aus Reue, Hilflosigkeit der eigenen Tat gegenüber, Lakonie, Trotz und Selbstbewußtsein zu vermitteln. Seine Soli gehören ohne Frage zu den intensiven Momenten an diesem Abend und das Publikum dankt es mit Stille. Hoffmann legt alle Schichten dieser Figur frei und macht deutlich, dass der Täter keine Bestie, ein Mensch mit allen Facetten ist und bleibt. So transportiert er ein Einzelschicksal in die Allgemeingültigkeit.
Die  Stärke von "Wegschliessen und zwar für immer" liegt in der Betrachtung fast aller Ebenen. Dietrich und Kautten haben auf schwarz und weiß verzichtet, auf einfache Schuldzuweisungen und auf Sozialromantik.Sie zeigen Ausschnitte, Puzzleteile einer komplexen Realität und die Zuschauer dürfen sich den Leim selbst machen. Jeder ist zum Mitdenken aufgefordert und darf seine Schlüsse selbst ziehen. Niemand wird der Freiheit seiner Gedanken beraubt. Die Akteure in "Wegschliessen und zwar für immer" stehen für viele Perspektive auf diesem Thmenkomplex,doach auf die Opfer-Perspektive verzichten Dietrich und Kautten. Das ist konsequent und mutig. Aber sie machen sich auch nicht mit den Täter gemein, "Wegschliessen und zwar für immer" ist ein Faktenreport mit den Mitteln des Theaters. Vielleicht sorgte gerade dies für die Ent-Emotionalisierung eines heiß diskutierten Themas? Wenn dem so ist, dann kann man den Autoren nur danken.
Gisela (Imme Beccard) kümmert sich ehrenamtlich
um Strafgefangene und weiß nicht so recht warum.

Foto: DT/Isabel Winarsch
Die Sprache tut es allemal. Dietrich und Kautten beschränken sich auf das Vokabulare der Technokraten. Da wurde ein Eigentumsdelikt begangen und da ist von mehreren Sexualstraftaten die Rede. Das böse Wort mit V, das böse Wort Vergewaltigung fällt nur einmal. Es ist ein Verzicht auf Kraftausdrücke und damit einhergehend der Verzicht auf die Romantisierung dessen, was nicht romantisiert werden kann. Aber es ist auch der bewußte Umgang mit Euphemismem. Die Zelle wird nun Appartement genannt, um den Abstand zwischen Sicherheitsverwahrten und Sträfling einzuhalten. Die Kontrolle über die Freiheit beginnt bei der Kontrolle über die Sprache.
Zwei Schauspielerinnen und zwei Schauspieler betreten an diesem Abend die Bühne in wechselnden Rollen. Alle vier haben  ihre starken Momente. Doch als Ensemble brennen sie sich schon in der dritten Szene ein. Auf der dunklen Bühne nur vom Licht ihrer Smartphones beschienen tragen sie Kommentare aus Netzwerken vor. Das ist Hass, blanker Hass in konzentrierter Form, Allmachts- und Gewaltphantasien derjenigen, die draußen sind und sich moralisch überlegen fühlen. Mit wenigen Griffen gelingt es den Autoren und dem Schauspielern, zu verdeutlichen, dass die wirklichen Perversen ganz woanders sitzen.

Karl erzählt aus 32 Jahren
Knastkarriere. Foto: DT/Winarsch
Imme Beccard glänzt an diesem Abend zweimal. Erst ist sie Gisela, die als Ehrenamtliche  Strafgefangene in der Gesprächs- und Bibelgruppe betreut und nicht vermitteln kann, warum sie das macht. Und sie ist Karl, der nach 32 Jahren Gefängnis entlassen wurde. Das Soli mit unwirklichem Licht symbolisiert nicht nur die Härten der erlittenen Isolationshaft sondern steht auch für die Künstlichkeit eines Lebens hinter Mauern.
Die Kommunalpolitik und lokale Vergangenheitsbewältigung darf nicht fehlen. Meinolf Steiner überzeugt als Bürgermeister, dem es gelang, die JVA ohne Widerstand in seiner Kommune zu errichten, der vom Erfolg seines Handelns überrascht wurde und sich nun diebisch freut, dass er es besser gemacht hat als der große Nachbar. Da ist diese Mischung aus Großspurigkeit und Überraschung, die sich in fahrigen Bewegungen ausdrück und in abgebrochen und wieder aufgenommenen Sätzen Bahn bricht.
Sibille Helfenberger bleibt es in der Rolle einer Landgerichtsrichterin überlassen, dem Publikum den Spiegel vorzuhalten, auch dem liberalen Bürgertum eine Sankt-Floriansmentalität nachzuweisen. Es gibt nur deswegen eine JVA Rosdorf, weil Göttingens Bürger die JVA Göttingen verhindert haben.
Es sind die einfachen Mittel, die diese Inszenierung so eindringlich machen. Das Klebeband auf dem Boden markiert die Größe einer Zelle. Umzugskarton verdeutlichen die Größenverhältnisse zwischen der Menge der Strafgefangenen und der Anzahl der Sicherheitsverwahrten. Ein Turm aus Kartons zeigt Baustein für Baustein die Geschichte der Sicherungsverwahrung seit ihrer Einführung 1933 bis zum Abriss durch dasEuGH. Dies Aussage ist an dieser Stelle deutlich: Sicherungsverwahrung ist die Abkehr vom Schuldbezug hin zum reinen Verdachtsmoment, ist der Entzug der Freiheit begründet mit einem "Es könnte sein, dass", die totale Kontrolle über etwas,was vielleicht gar nicht kontrolliert werden kann. Somit schaffen Dietrich und Kautten  Faktenvermittlung ohne Belehrung, ohne Zeigefinger.
Mit "Wegschließen und zwar für immer" ist dem Deutschen Theater und den beiden Autoren ein Stück Theater gelungen, das aus einem Akt der Verwaltung, aus der Umsetzung vieler Gerichtesentscheide einen  intensiven Abend in der dichten Atmosphäre des DT-Studios macht, neue Perspektiven eröffnet und dem Zuschauer die Möglichkeit gibt, sich selbst scheinbar bereits beantwortete Fragen neu zu stellen. Mehr davon!


Das Stück in der Selbstdarstellung
Der Spielplan im DT

Die Sicherungsverwahrung im Überblick

Sonntag, 10. November 2013

Es gibt immer eine Sturmwarnung

Peter Grimes findet keinen Platz beim TfN


Benjamin Britten feiert im November 100. Geburtstag. Aus diesem Anlass hat  das Theater für Niedersachsen die Oper "Peter Grimes" neu inszeniert. Die Premiere am 9. November zeigte ein Verdrängungswettbewerb um Moral und Schuld und einen Wettbewerb um den Platz des Einzelnen in der Gemeinschaft. Die TfN-Inszenierung siedelt dieTragödie in der klaustrophobischen Atmosphäre eines Fischer-Nest an, in dem jeder jedem kennt und kontrolliert. 
Jeder hat seinen Platz gefunden und
ve
rteidigt ihn auch. Alle Fotos: TfN/Hartmann
Den Auftakt macht die Requisite Stuhl. Die Symbolik ist eindeutig. Die Dorfgemeinschaft trifft sich zur Verhandlung "Das Volk gegen Peter Grimes". Jeder bringt seine Sitzgelegenheit mit, denn jeder hat seinen Platz in dieser Gemeinschaft. Nur eben Peter Grimes nicht.
Der Angeklagte muss den Platz einnehmen, der ihn zugewiesen wird, die Anklagebank. Wie der Lehrling William ums Leben, das wird wohl nie eindeutig geklärt, das ist. Aber Grimes scheint nicht ohne Schuld zu sein. Es gibt keine Verurteilung, nur den Ratschlag, künftig auf Lehrjunge zu verzichten zu verzichten und stattdessen auf erwachsene Gehilfen zu bauen.
Doch Grimes kann diesen Ratschlag nicht annehmen, denn er ist auf Krawall gebürstet. In der Regie von Frank Van Laecke zeigt Hans-Jürgen Schöpflin in der Titelrolle zwei Seite derselben Person und die eine ist eben stocksteif, mit durchgedrückten Armen und immer im oberen Bereich der Lautstärke. Peter Grimes gilt als eine der schwersten Rollen im Musiktheater weil der Rolleninhaber ständig gegen alle anderen ansingen muss. Das gelingt Hans-Jürgen Schöpflin fraglos.
Grimes wird von seinen
Erinnerungen geplagt.
Die andere Seite des Peter Grimes in dieser Inszenierung ist die eines Mannes, der an seiner Verzweiflung verzweifelt. Immerhin hat er ein Kind auf dem Gewissen und das lässt ihn nicht mehr los. Van Laecke bedient sich karger aber eindrucksvollen Bildern und der Wiederholung. Erinnerung wird zur Tretmühle und Schöpflin zeigt die Gewissenqualen eines Mannes, der sich die Absolution nicht selbst erteilen kann, der aber über seine Schuld auch nicht sprechen kann. Er sucht Erleuchtung, Erlösung, doch das Licht, das Streichholz, das er anzündet bringt keine Helligkeit. Letztendlich werden es diese Geister sein, die den Delinquenten Grimes auf sein nasses Schaffott führen
Ach, hättest du geredet, Grimes. Er macht sich auch selbst zum Außenseiter, denn er scheint zu keiner friedvollen Kommunikation fähig. Selbst zu Ellen Orford kann er keine echte Beziehung aufbauen. Deswegen bleibt Isabell Bringmann in der Rolle der Dorflehrerin meist eine Randfigur. Einzig am Beginn des zweiten Aktes darf sie ihre Seele zeigen und ihr Können ausspielen. Eine gemeinsame Zukunft für den Fischer und die Frau kann man sich unter diesen Umständen kaum vorstellen. Hier wirkt Grimes doch arg eindimensional. So wird Potential verschenkt und hier wird nicht herausgearbeitet, warum Grimes so eklatant gegen die Schwarmintelligenz und alle gute gemeinten Ratschläge verstößt. Ihm geht es schlicht und um jeden Preis um die Verwirklichung seiner persönlichen Zukunftsvorstellungen. Dafür hetzt er auch den nächsten Lehrjungen in den Tod. In tragischer Tradition läuft die Inszenierung auf die Katstrophe zu, aber sie verzichtet auf  das schwarz-weiß Schema, hier die böse Meute der Heuchler und hier der gehetzte Grimes, sondern sie zeichnet grau in grau gegenseitige Verstrickungen in einem menschen- und vor allem kinderverachtenden Labyrinth. In diesem Bühnenbild von Phillipe Meisch gibt es kein Entrinnen. Überall sind Mauern.
Ellen und Peter können keine Beziehung
finden,die von gegenseitiger Achtung
geprägt ist.
Fotos: TfN
Die Welt der Fischer ist eine Männerwelt und es ist eine gewalttäige Welt. Die einzige Frau, die hier bestehen kann, ist Tantchen, die Wirtin. Doch Frank Van Laecke zeigt sie uns nicht als Pub-Chefin, sondern unmissverständlich als Puffmutter, als Puffmutter der resoluten und der taktierenden Art. In dieser Rolle setzt Christina Baader einen Gegenpol zu dem leidenden Frauen dieser Oper.
Peter Grimes ist die erste und wohl auch wichtigste Oper von Benjamin Britten. Damit gelang ihm 1945 die Erneuerung des Musiktheaters. Bei aller Erneuerung stand ihm die ganze Schatztruhe europäischer Musiktradition zur Verfügung. Und das TfN-Orchester bringt unter der Leitung von Leif Klinkhardt diese Juwelen zum Leuchten, Im Sinne der Programmmusik wird deskriptiv getrillert, operettenhaft geschwelgt in den kurzen retardierenden Momenten. Da wummern die Pauken, dröhnen die Bläser und sägen die Streicher, wenn neues Unheil heraufzieht. Und dann fegt auch schon mal ein Orkan aus dem Orchestergraben, als wäre Britten der Erfinder der Wall of Sound gewesen.
Aber der heimliche Star des Abends ist das Kollektiv. Dieser Chor kommt daher wie ein Sturm,wie eine tosende See. Dieser Chor kann es in Sachen Dynamik und Volumen mit allen Anderen aufnehmen, selbst mit dem TfN-Orchester. Achim Falkenhausen hat hier großartige Arbeit geleistet. Mit solch einem Chor legt man sich besser nicht an, Grimes. Aber diese Erkenntnis kommt zu spät.


Peter Grimes in der Selbstdarstellung

Noch mehr Bilder

Der Spielplan am TfN

Zum Vergleich: Peter Grimes am Theater Nordhausen

Sonntag, 3. November 2013

Ein Heim, das nicht immer funktioniert

Das steptext dance project zeigt den Körper als ein Zuhause

Der Körper ist die Urform des Zuhauses. Es kann ein harmonisches Heim sein, das Verhältnis kann aber auch gestört werden. Dies zeigt das Tanztheaterstück  "Homescape" des steptextdance project beim "Neue Heimat"-Festival am Deutschen Theater in Göttingen. Das Werk des Österreicher Helge Letonja erlebte zusammen mit "The House That Never Walked" am 2. November die Premiere als Doppelvorstellung.
Das steptext dance project ist eine gemeinsame Arbeit von sengalesischen und europäischen Tänzern, die sich im letzten Jahr zu ersten Mal in der École des Sables und in Bremen trafen. Ihr Thema ist das Zuhause, die Migration, der Austausch der Kulturen und der Dialog in den Formen des zeitgenössischen Tanztheaters. Während sich das Werk von Opiyo Ockach dem externen Aspekten des Heimat widmet, der Interaktion der Beheimateten und der Heimatlosen, sagt Letonja: Es gibt immer eine Heimat und das ist der eigene Körper.

Noch ist der Tanz bei "Homescape" ein Gottesdienst
für den Körper.
Foto: Merit Esther Engelke
Ein schwacher Spot beleuchtet auf einer schwaren Bühne einen einzelnen Tänzer. Man ahnt ihn mehr, als dass man ihn sieht. Er bewegt sich schnell und rhythmisch. Das Auge des Betrachter kann gar nicht allen Figuren folgen. Die Bewegungen scheinen Selbstzweck zu sein, aber sie sind fließend und rund. Das ist Harmonie, dieser Körper bleibt im Lot, strahlt keine Hektik aus, sondern hat in seiner Bewegung einen Ruhezustand gefunden. Bei allem Stauen muss man doch zugeben: Das ist keine Hexere, das ist reine Mittelstufen-Physik, nur eben in einer ästhetischen Version.
Im dreiviertel Dunkel ziehen nun acht Figuren über die Bühne. Sie stampfen einen Rhythmus. Ist das eine Hommage an ostafrikanische Tänze, an den Steptanz amerikanischer Baumwollsklaven oder schimmert hier ein alpiner Schuhplattler durch? Die Antwort ist zweitrangig, denn Tanz ist ein interkulturelles Gut. Rhythmus ist ein Urprinzip und eint die Menschen über Grenzen hinweg. Das ist die Aussage und sie ist verständlich umgesetzt.
Mit Kapuzen bekleidet gleicht die Prozession einem Zug gregorianischer Mönche. Nun beginnt der Gottesdienst für die Möglichkeiten, die ein Körper an Ausdruckmöglichkeiten bietet.
Alle Tänzerinnen und Tänzer tragen den selben Dress, fließenden Stoff, der die runden Bewegungen unterstützt. Helge Letonja verzichtet in diesem Teil auf eine klare Rollenzuweis und Uta Heiseke setzt dies mit den Kostümen um. Der erste Teil vom "Homescape" kennt keine Soli. Freude ist allgemein und eint die Menschen, vor allem, wenn man sie die eigene Freude mit anderen teilen kann.
Stärker als im "The House That Never Walked" setzt das Licht von Laurent Schneegans und Frauke Richter einzelne Akzente.
Der Schmerz ist eine Störung des
Körpergefühls.
Foto: Merit E. Engelke
Dann gibt es den klaren Schnitt. Das Bild wandelt sich. Ein grelles Neonlicht beleuchtet eine Bühne in Krankenhaus-Optik. Eine gekrümmte Figur links hinten weckt Gummizellen-Assoziationen, das Rot .
Jenny Ecke betritt die Bühne und zeigt einen Körper, der nicht mehr so will, wie er soll. einen Körper, dessen Besitzerin ihn erst zur Bewegung überreden muss. Mit der linken Hand führt sie den rechten Arm, auch die Beine wollen wohl nicht so recht. Das ist keine Harmonie mehr, das Verhältnis Mensch-Körper ist gestört, die Klangkollage von Michael Grebil wird zur Säge, die Nerven trennt . Hier tanzt der Schmerz, das ist eindeutig. Leiden macht einsam. Aus dem Kollektiv, nun sind alle Tänzerinnen und Tänzer zu unterscheiden. Jeder und jede tanzt ihr Form des Leidens. Virgina Gimeno Folgado versagt die Zunge, ihr fehlen die Worte, die Kommunikation ist gestört.
Doch Letonja lässt keinen Raum für Verzweiflung. Da ist immer eine helfende Hand, Menschen stützen einander, machen sich gegenseitig wieder mobil.Wer nicht mehr kann, der wird getragen.
Wo wir uns zuhause fühlen, das ist zweitrangig. Erst wenn wir in uns selbst beheimatet, dann finden wir eine Heimat auch im Äußeren. Das zeigen das steptext dance project und Helge Letonja. Das Publikum dankt für diese Weisheit und ihre eindringliche Inszenierung mit tosenden Beifall. Zu Recht.


Teil 1: "The House That Never Walked"


Die École des Sables  im Web

Das steptext dance project im Web

Das Deutsche Theater in Göttingen




Beim Tanzen lernen

steptext dance project zeigt die Gemeinsamkeiten des Tanzes


Ein Zuhause hat viele Bedeutungen und alle kann man so tanzen, dass sie sich dem Publikum erschließen. Dies zeigte das steptext dance project beim "Neue Heimat"-Festival am 2. November im Deutschen Theater Göttingen. Der Doppelabend mit "The House That Never Walked" und "Homescape" erlebt dabei eine Uraufführung. Es bleibt abermehr als die Gewißheit, dass Tanztheater auf diesem Niveau neugierig macht auf mehr.

Das steptext dance project ist eine gemeinsame Arbeit von sengalesischen und europäischen Tänzern, die sich im letzten Jahr zu ersten Mal in der École des Sables und in Bremen trafen. Ihr Thema ist das Zuhause, die Migration, der Austausch der Kulturen und der Dialog in den Formen des zeitgenössischen Tanztheaters. Der Anspruch von Choreograf Opiyo Okach ist es, in "The House That Never Walked" zuhause als soziale Architektur zu zeigen. Dies gelingt ihm und der Kompanie, ein Zuhause ist nicht nur ein Gebäude, sondern ein mehrschichtiges Gefüge aus Personen, deren Rollen und Vorstellungen, der Interaktion und der Interdependenzen.

Im Solo von Ibrahima Biaye steckt das Zuhause wohl
in dieser Schüssel. Foto:
Merit Esther Engelke
Acht Requisiten, darunter ein Fahrrad verkehrt herum, und neun Tänzer, fünf Afrikaner, vier Europäer, bevölkern zu Beginn die Bühne. Sieben gehen, zurück bleiben das Fahrrad, Ida Biemoubon Faho und Kokou Gbakenou Al'nuzan. Während sie sich in wilden Bewegungen ausdrückt, bearbeitet er in Ruhe das Fahrrad. Sind das die zwei Gesichter Afrikas, wie wir Europäer sie uns vorstellen? Exotik und Gelasenheit.
Dann betreten die Europäer die Bühne und die unterschiedliche Tanztradition wird deutlich. Die Expressivität der puren körperlich trifft auf getanzt Geometrie, auf Schritte, auf Kreise, wie mit dem Zirkel gezogen und mit dem Skalpell geschnitten. Doch der Abend ist ein Abend des gemeinsamen Lernens voneinander. Das Nebeneinander wird immer mehr zum Miteinander, die Tänzer führen sich gegenseitig, aber auch hin bis zum Versuch, einander zu beherrschen.
"The House That Never Walked" ist sicher kein Ballett im europäischen Sinne, keine stringente Geschichte, die mit Tanz und Musik untermalt wird. Es ist eine Abfolge von Szenen, auch ein Miteinander, die bindenden Glieder werden nur angedeutet. Aber das ist eben die Stärke dieser Chroreografie. Man darf und man muss sich die Geschichten zwischen den Einzelteilen selbst erfinden. Der Dialog findet nicht nur auf der Bühne statt, sondern auch zwischen den Künstlern und ihrem Publikum.
Deutlich wird dies im Solo von Robert Bell. Aus dem humpelnden Eleven wird nach vielen Bahnen ein Täzer, dem alle nacheifern. Somit hat das Stück von Opiyo Okach auch den nötigen Optimismus für den Austausch der Stand-und Tanzpunkte.

In der Eifersucht des Flamencos
zeigt sich die Emotionalität
der Europäer.
Foto: M. E. Engelke
Der eindrucksvollste Moment an diesem Abend voller neuer Eindrücke ist sicher das Solo von Ibrahima Biaye. Seine Erinnerung an Zuhause steckt in einer Schüssel, das ist alles, was ihm geblieben ist. Er behütet sie und er lässt sich davon behüten. Die Erinnerung ist sein Zentrum und seine Basis. Da dieser Körper ist Einsamkeit, ist Sehnsucht, ist Verzweiflung pur und an sich. Besser geht das nicht. Das Publikum versteht es und antwortet mit einem Moment  Ergriffenheit. Der Moment der Stille ist so tief, dass man sogar die Lüftung hören kann, atemlose Stille.
Auch Europäer stecken voller Emotion und Ausdruck, wenn Virginia Gimeno Folgado und Bienard Azizay ihren Tribut an den Flamenco, an Stierkampf und Eifersucht tanzen. Doch der Moment interkulturellen Klatschens kippt schnell in Bitterness, wenn Jenny Ecke ihrem Partner Serge Nepke diese Emotionalität aufzwingen will, wenn die Europäerin dem Afrikaner ihre Vorstellung von Zuhause vrmitteln will und doch nicht kann. Der neue Kolonialismus hat auch eine sexuelle Seite.
Mit "The House That Never Walked" ist Opiyo Okach und dem steptext dance project ein solch unverfassender und Mut machender Kommentar zu Migration und Austausch gelungen, so dass das Publikum noch lange sitzen bleibt und sich an die starken Bilder erinnert.


Teil 2 des Abends: Homescape

Die École des Sables  im Web

Das steptext dance project im Web

Das Deutsche Theater in Göttingen