Ivan Alboresi choreographiert Dornröschen in Nordhausen
Man kann Märchen als wundersame Geschichten erzählen oder aber zu ihrem Kern vordringen. Man Märchen als zauberhafte Unterhaltung sehen oder aber die elementaren Aussagen finden unter all den dekorativen Zutaten. Genau das ist Ivan Alboresi mit seiner Choreographie zu Dornröschen von Pjotr Tschaikowsky gelungen.
Er verzichte auf Tütüs und erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich aus Zwängen und Versuchungen befreit. Alboresi wird mit dieser Choreographie zum Analytiker und befreit sich aus der Rolle des Märchenonkels.
Die Inszenierung bezieht ihre Kraft aus der Spannung zwischen der spätromantischen Musik und den kontrastierenden Elementen des Modern Dance. Unterstützt wird dies auch durch die Kostüme von Anja Schulz-Hentrich. Kein Plüsch, kein Pluder, kein Samt, sondern klassische Moderne kennzeichnet die Ausstattung der Tänzerinnen und Tänzer. Die kräftigen Farben erzeugen eine gesunde Spannung zu den grauen Hintergrund.
Damit gelingt Alboresi der Sprung über die Schranken der Zeit. Sein Dornröschen ist nicht mittelalterlich verstaubt. Er zeigt Themen, die wieder auf der Agenda stehen. Da geht es um die Beherrschung des Anderen, die Erwartungen an das Gegenüber, die vielfältigen Versuchungen und die Befreiung aus elterlichen Zwängen. Alboresis Choreographie ist ein Märchen für Helikopter-Eltern. Aber auch allen Anderen werden Gefallen finden an der Aufführung.
Elis Ruffato und Gianmarco Zani sind wohl das heiligste Paar seit Maria und Josef. Sie können die Ankunft des Nachwuchses kaum erwarten, denn dieser wird sie aus der Kinderlosigkeit erlösen. Immer und immer bilden ihre ineinandergreifenden Hände den Kokon, in dem das Kind behütet werden soll. Zusätzlich bieten sie fünf Beschützer auf, die in Rot-Weiß eine Mischung aus Hofstaat und Weihnachstmännern darstellen. Auch sie bilden ein ums andere Mal diese Kokon-Geste.Wie durch ein Wunder ist das Kind dann da und wird verehrt wie die Erlöserin und gebettet in einen historischen Kinderwagen. Vielleicht wäre des Korb eines hippen Lastenfahrrads noch passender gewesen.
Die tänzerischen und darstellerischen Höhepunkte liegen bei anderen Personen. Die Feen sind ein Kollektiv aus Individuen. Alboresi verleiht jeder Figur eine eigene Identität und die Tänzerinnen und Tänzer schaffen es in beeindruckender Weise, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und gegen andere abzugrenzen. Veronica Biondi in der Rolle der roten Feen gelingt es immer wieder, Glanzpunkte zu setzen. Sie ist das Temperament in Person und das verdeutlicht sie nicht mit raumgreifenden Bewegungen, sondern mit kleine Gesten und witziger Mimik.
Überhaupt ist es eine Choreographie, in der das Große und Erhabene mit den Kleinigkeiten ausgehebelt wird. Mit dem Finger an die Stirn des Gegenüber tippen sagt mehr aus als drei Dreher über den Tanzboden.
Die Rolle der bösen Fee Carabosse mit einem Mann zu besetzen war kein Glücksgriff, sondern gut durchdacht. Denn Thomas Tardieu bringt mit Kraft eine Dynamik und Entschlossenheit in diese Figur, die über weite Strecken die Bühne beherrscht. Die Schluss-Szene des ersten Akts ist nicht nur beeindruckend, sondern ganz großes Kino oder ganz großes Ballett.
Dass Carabosse bei aller Kraft Dornröschen und ihren Prinzen nicht aufhalten kann, bekräftigt die Aussage, dass nicht das Große und Erhabene die Welt beherrscht. Manchmal braucht es nur Entschlossenheit, um sich aus zwanghaften Situationen zu befreien. Deswegen gehört der Pas de deux zwischen Dornröschen und Carabosse im zweiten Akt zu den bleibenden Erinnerungen.
Warum sich die Drehbühne dreht, ist nicht immer klar. Bei der ersten Drehung legt sie den Höhleneingang frei, in den Dornröschen von Carabosse verschleppt wird. Am Ende des zweiten Aktes dreht sie sich, damit der ersehnte Retter sich abstrampelt. Dazwischen dreht sie sich wohl, weil sie es kann.
Das Loh-Orchester hat an diesem Abend nicht seinen besten Tag. Die Einsätze stimmen nicht immer und vieles klingt unrund und rau. Ob dies am Spielvermögen des Ensembles liegt oder der Akustik in der Ausweichspielstätte geschuldet ist.
Zum Beginn des zweiten Aktes erreicht die Lautstärke Dimensionen, die man eher auf dem Wacken Open Air erwartet und schon im ersten Akt haben die Pauken den Boden erbeben lassen. Hier sollte noch einmal nachgesteuert werden.