Donnerstag, 28. Dezember 2023

Weit weg vom Märchenonkel

 Ivan Alboresi choreographiert Dornröschen in Nordhausen

Man kann Märchen als wundersame Geschichten erzählen oder aber zu ihrem Kern vordringen. Man Märchen als zauberhafte Unterhaltung sehen oder aber die elementaren Aussagen finden unter all den dekorativen Zutaten. Genau das ist Ivan Alboresi mit seiner Choreographie zu Dornröschen von Pjotr Tschaikowsky gelungen. 

Er verzichte auf Tütüs und erzählt die Geschichte einer jungen Frau, die sich aus Zwängen und Versuchungen befreit. Alboresi wird mit dieser Choreographie zum Analytiker und befreit sich aus der Rolle des Märchenonkels.

Die Inszenierung bezieht ihre Kraft aus der Spannung zwischen der spätromantischen Musik und den kontrastierenden Elementen des Modern Dance. Unterstützt wird dies auch durch die Kostüme von Anja Schulz-Hentrich. Kein Plüsch, kein Pluder, kein Samt, sondern klassische Moderne kennzeichnet die Ausstattung der Tänzerinnen und Tänzer. Die kräftigen Farben erzeugen eine gesunde Spannung zu den grauen Hintergrund.

Damit gelingt Alboresi der Sprung über die Schranken der Zeit. Sein Dornröschen ist nicht mittelalterlich verstaubt. Er zeigt Themen, die wieder auf der Agenda stehen. Da geht es um die Beherrschung des Anderen, die Erwartungen an das Gegenüber, die vielfältigen Versuchungen und die Befreiung aus elterlichen Zwängen. Alboresis Choreographie ist ein Märchen für Helikopter-Eltern. Aber auch allen Anderen werden Gefallen finden an der Aufführung.

Elis Ruffato und Gianmarco Zani sind wohl das heiligste Paar seit Maria und Josef. Sie können die Ankunft des Nachwuchses kaum erwarten, denn dieser wird sie aus der Kinderlosigkeit erlösen. Immer und immer bilden ihre ineinandergreifenden Hände den Kokon, in dem das Kind behütet werden soll. Zusätzlich bieten sie fünf Beschützer auf, die in Rot-Weiß eine Mischung aus Hofstaat und Weihnachstmännern darstellen. Auch sie bilden ein ums andere Mal diese Kokon-Geste. 

Wie durch ein Wunder ist das Kind dann da und wird verehrt wie die Erlöserin und gebettet in einen historischen Kinderwagen. Vielleicht wäre des Korb eines hippen Lastenfahrrads noch passender gewesen.

Die tänzerischen und darstellerischen Höhepunkte liegen bei anderen Personen. Die Feen sind ein Kollektiv aus Individuen. Alboresi verleiht jeder Figur eine eigene Identität und die Tänzerinnen und Tänzer schaffen es in beeindruckender Weise, die eigene Persönlichkeit zu entwickeln und gegen andere abzugrenzen. Veronica Biondi in der Rolle der roten Feen gelingt es immer wieder, Glanzpunkte zu setzen. Sie ist das Temperament in Person und das verdeutlicht sie nicht mit raumgreifenden Bewegungen, sondern mit kleine Gesten und witziger Mimik. 

Überhaupt ist es eine Choreographie, in der das Große und Erhabene mit den Kleinigkeiten ausgehebelt wird. Mit dem Finger an die Stirn des Gegenüber tippen sagt mehr aus als drei Dreher über den Tanzboden.

Die Rolle der bösen Fee Carabosse mit einem Mann zu besetzen war kein Glücksgriff, sondern gut durchdacht. Denn Thomas Tardieu bringt mit Kraft eine Dynamik und Entschlossenheit in diese Figur, die über weite Strecken die Bühne beherrscht. Die Schluss-Szene des ersten Akts ist nicht nur beeindruckend, sondern ganz großes Kino oder ganz großes Ballett.

Dass Carabosse bei aller Kraft Dornröschen und ihren Prinzen nicht aufhalten kann, bekräftigt die Aussage, dass nicht das Große und Erhabene die Welt beherrscht. Manchmal braucht es nur Entschlossenheit, um sich aus zwanghaften Situationen zu befreien. Deswegen gehört der Pas de deux zwischen Dornröschen und Carabosse im zweiten Akt zu den bleibenden Erinnerungen.

Das Bühnenbild von Wolfgang Rauschning verzichtet auf royalen Pomp und erschließt sich nur in Teilen auf den ersten Blick. Es bietet eine Beton-Optik wie in den Hochzeiten des Brutalismus. So verlagert er die Handlung raus aus dem Palast in die Alltäglichkeit der Jetztzeit. Damit ist Dornröschen keine historische Figur mehr, sondern eine junge Frau der Gegenwart.

Warum sich die Drehbühne dreht, ist nicht immer klar. Bei der ersten Drehung legt sie den Höhleneingang frei, in den Dornröschen von Carabosse verschleppt wird. Am Ende des zweiten Aktes dreht sie sich, damit der ersehnte Retter sich abstrampelt. Dazwischen dreht sie sich wohl, weil sie es kann.    

Das Loh-Orchester hat an diesem Abend nicht seinen besten Tag. Die Einsätze stimmen nicht immer und vieles klingt unrund und rau. Ob dies am Spielvermögen des Ensembles liegt oder der Akustik in der Ausweichspielstätte geschuldet ist.

Zum Beginn des zweiten Aktes erreicht die Lautstärke Dimensionen, die man eher auf dem Wacken Open Air erwartet und schon im ersten Akt haben die Pauken den Boden erbeben lassen. Hier sollte noch einmal nachgesteuert werden.



  

Mittwoch, 20. Dezember 2023

Irgendwie gehört es zum Advent dazu

Silberhochzeit: 25 Jahre Amarcord im Kreuzgang

Amarcord und Walkenried, das ist wie Tim & Struppi, Stan & Laurel oder Fred & Ginger. Vor 25 Jahren ist das Ensemble aus Leipzig zum ersten Mal bei den Kreuzgangkonzerten aufgetreten. Seitdem konzertiert das Quintett immer wieder im Kloster und weiß den Ort und das Team zu schätzen. Das bracht Wolfram Lattke in seiner Begrüßung mehrfach zu Ausdruck.

Auch beim Auftritt am Dienstag gab es ein bewährtes Programm. Sakrale Weihnachtsmusik vor der Pause, heitere Weihnachtsmusik nach der Pause. Damit konnten die bekennende Leipziger mal wieder überzeugen. Erst nach der einkalkulierten Zugabe wurde das Ensemble vom Publikum entlassen.

25 Jahre ist auch eine Silberhochzeit und die hat man im Kreuzgang gefeiert. Die Zuhörer und Zuhörerinnen wissen, was sie an diesem Abend erwartet und Amarcord liefert. Einige Teile des Programms sind aus den Vorjahren bekannt und wo andere Vokalensembles wie Viva Voce das Experiment wagen, setzen die Leipziger auf Bewährtes.  

Es ist natürlich auch eine kongeniale Partnerschaft, denn der gotische Bau ist wie geschaffen für diese Stimmen. Der Gesang bedarf keiner elektrischen Verstärkung und trotzdem füllen die Stimmen das hohe Gewölbe und durchfluten auch die Seitengänge. Also Augen zu und einfach davontragen lassen von so viel Wohlklang.

Mittlerweile beginnt die Adventszeit im Südharz erst so richtig mit dem Gastspiel der Leipziger im Kreuzgang Das Programm bietet in diesem Jahr eine ungewohnte Perspektive. Amarcord betrachtet das Weihnachtsfest aus Sicht der Hirten. Da ist es nicht verwunderlich, dass sie das Konzert im Reigen aus dem Seitenflügel heraus beginnen. Im diesem Teil das Abends dominiert Musik aus der Renaissance und dem Barock und selbst die wenige Werke aus der Jahrhundertwende klingen nach dem Welt ging verloren aus der alten Musik.

Also darf ein Countertenor nicht fehlen. Leider wirkt  Wolfram Lattke schon im "Quem pastores laudavere" sehr dominant. Das ist kein Programmfehler, sondern  der Physik geschuldet, denn hohe Frequenzen sind einfach energiereicher.

Die hohe Gesangskunst präsentiert Amarcord mit einem bewährten Weihnachtslied. Im "Vom Himmel hoch, da komm ich her" aus Luthers Hausmusik wird jede Zeile in einem anderen Satz gesungen. Mal als Kanon, mal im Satzgesang und jede Umschalte sitzt und keine Note wackel. Das ist Weltklasse. 

Gleiches gilt für das "El Jubilate" von Mateo Flecha. Auch diese musikalisch Ensalada verlangt schnelles Umschalten und den  den schnelle Wechsel zwischen den Stimmlagen Die Meisterschaft der Leipziger basiert auf exzellenter Ausbildung und jeder Menge Routine. Überhaupt zeigt der kurze spanische Block mit Flecha und einem katalonischen Volkslied, dass man sich dem Weihnachtsfest auch froh und munter nähern kann.

Mit dem anschließenden "Wie soll ich dich empfangen" von Hans Haßler nehmen die Leipziger   wieder das Tempo raus. Aber nicht ein Wort überquert hier die Lippen der Sänger. Das Lied wird auf Weltniveau gesummt. Lattke begründet diesen künstlerischen Kniff mit der Sprachlosigkeit, die das Ensemble angesichts der aktuellen Ereignisse ergriffen hat. 

Auch an der Pause herrscht Besinnlichkeit. Amarcord braucht einen langen Anlauf, um Tempo und Stimmung anzuheben. Erst Cha-Cha-Cha von der Mamacita und der Frage nach dem Weihnachtsmann durchbricvht das Schweigen im Publikum. Dann darf auch Elvis Presley noch seinen Beitrag zu Weihnachten. 

Mit dem irischen "Christmas in Candy" erreicht das Konzert dann den gehobenen Klamauk und Amarcord zeigt, dass man mit den eigenen Stimmen nicht nur Singen sondern auch Instrumente imitieren kann. Frank Ozimek bietet sogar eine Tanzeinlage im Stil irischer Steptänzer. Vielleicht sollten die Leipziger beim nächsten Auftritt bei den Walkenrieder Kreuzgangkonzerten ihrem komödiantischen Talenten schon früher freien Lauf lassen. 



Das Programm der Kreuzgangkonzerte 2024 erscheint im Frühjahr.



        


Dienstag, 19. Dezember 2023

Ganz entspannt in den Untergang




Sidler inszeniert im DT Göttingen den Kirschgarten im Down-Tempo

"Der Kirschgarten" von Anton Tschechow hat in den letzten 120 Jahren immer wieder Konjunktur. Denn irgendwo ist ständig Untergang. DT-Intendant Erich Sidler greift das Offensichtliche auf und überrascht doch. Seine Inszenierung glänzt durch Ruhe und Analyse. Damit verschiebt er den Fokus weg vom Abwenden der Katastrophe hin zu den Ursachen.

Die Botschaft ist eindeutig. Das Unglück ist keine Naturgewalt sondern von Menschenhand gemacht. Entscheidend ist nicht was kommen wird, denn das ist klar. Entscheidend ist die Frage, warum es so kommen musste, warum es alternativlos ist.

Dabei arbeiten Sidler und das DT-Ensemble mit der Laubsäge und nicht mit der Axt. Statt der Versuchung zu erliegen, eine ganze Klasse in Bausch und Bogen zu verurteilen und der Geschichte zu überantworten, liefern sie feine Psychogramme von Menschen, die mit der Situation und mit sich selbst überfordert sind. So bietet die Göttinger Inszenierung genug Raum für Reflexion und Selbstbetrachtung. Das ist in hysterischen Zeiten erfrischend altmodisch.

Ljubow Ranjewskaja umringt von
ihren Liebsten und ihrem Bruder.
Alle Fotos:Klaus Herrmann

Ein früh verstorbener Gatte, der nur Schulden produziert hat, dann ein Liebhaber, der den Rest des Geldes durchgebracht hat und dazu der nicht verarbeitete Tod des Sohns. Die Biografie von Ljubow Andrejewna Ranjewskaja ist alles andere als eine Erfolgsgeschichte, als sie nach fünf Jahren in Frankreich nach Russland zurückkehrt. Einzig ihre Tochter Anjah freut sich darüber, wieder in der Heimat zu sein.

Dort auf dem Gutshof erwarten sie nicht nur die Gespenster der Vergangenheit wie ihr Bruder Leonid, sondern auch jede Menge Schulden und die anstehende Zwangsversteigerung des Familienbesitzes. Der Kaufmann Jermolaj Alexejewitsch Lopachin unterbreitet ihr einen Vorschlag, um zu retten, was noch zu retten ist. Der berühmte Kirschgarten soll parzelliert werden, die Bäume gefällt und Ferienhäuser gebaut werden. Mit dem Erlös ließen sich dann die Reste des einstigen Glanzes retten.

Wenn Gesellschaften oder ihre Subsystem in existenzielle Nöte geraten, dann verfallen sie meist dem Extraktivismus. Anstatt nach Lösungen zu suchen, verfolgen sie mit noch mehr Energie die gewohnten Strategien und Handlungsmuster, die sie erst in die prekäre Lage gebracht haben.

Rebecca Klingenberg in der Rolle der Ljubow Ranjewskaja ist davor gefeit. Sie bleibt zwar der Vergangenheit verhaftet und kann deswegen auf den Vorschlag von Lopachin nicht eingehen, aber ihr geht zugleich jegliche Energie ab, um sich aktiv gegen das scheinbar Unvermeidliche zu stemmen. Damit verbietet sich die Bezeichnung Protagonistin schon.

Seit der Antike wehren sich in den Tragödien die Menschen gegen ihr Schicksal und müssen deswegen sterben. Die Ranjewskaja ist darüber längst hinaus. Etwas in ihr ist schon vor langer Zeit abgestorben. Das macht Klingenberg deutlich.  

Stoisch und mit eiserner Miene schwelgt sie in den Erinnerungen und erzählt von dem, was schon lange nicht mehr ist. Überhaupt scheint Erich Sidler seinen Schauspielern und Schauspielerinnen Bewegungsarmut verordnet zu haben. Es ist eine Inszenierung, die auf große Gesten weitestgehend verzichtet. 

Einzig Paul Trempnau in der Rolle des Jermolaj Lopachin darf sich den Raum nehmen, denn er für die kraftvolle Darstellung des Selfmade-Mannes braucht. Deswegen ist er eine Störenfried. Als Anja in der ersten Szene ihrer Freude über die Rückkehr in die Heimat freien Lauf lässt, entpuppt sie sich schon als Fremdkörper.

Es ist eben ein besonderes Völckchen, dass in seinen Konventionen und seinen Plattitüden erstarrt ist. Der Wunsch nach Befreiung wird artikuliert, aber nicht umgesetzt, das drohende Unglück in Form der Zwangsversteigerung wird ständig beklagt, aber nix dagegen getan. Man weiß nur, das Lopachins Vorschlag inakzeptabel ist

Geist gegen Kapital: Pjotr Trofimow im
Gespräch mit Jermolaj Lopachin.
Alle Fotos:Klaus Herrmann
In seiner Inszenierung greift Sidler Tschechows Impuls für das moderne Theater: Nie spricht miteinander, alle sprechen ständig aneinander vorbei. Die Parallele zur Jetztzeit ist offensichtlich. Seine Akteure sind steif und starr und deswegen gewinnen die wenigen Momente der Berührung eine solche Bedeutung als taktiler Hilferufe 

Das Bühnenbild von Jörg Kiefel verstärkt die klaustrophobische Gesamtlage. Die Innenseite der Blase, der Echokammer ist mit Kirschblüten tapeziert, die dank Projektion ihre Farben wechseln. Es gibt nur zwei Zugänge in diese sehr eigene Welt, die eben auch nur die Eingeweihten kennen. Aber selbst für die Bewohner des Planeten Kirschgarten gibt manchmal keinen Fluchtweg aus der Umklammerung.

Das Mobiliar besteht aus drei groben Holzbänken, kein Inventar lenkt ab von den Personen. Damit liegt der Fokus des Publikums ganz auf dem gesprochenen Wort. Die Selbstoffenbarung der Nicht-Handelnden erfolgt durch den Text.

Abgerundet wird die Inszenierung durch die Musik von Michael Frei.  Der spendiert der sparsamen Inszenierung nur einige wenige Akkorde und Einzeltöne auf Mandoline und Balalaika. Mehr braucht es nicht für diesen besonderen Flair des untergegangenen Russands.




Link eins: Der Kirschgarten auf der Website des DT Göttingen


Link zwei: Eine andere Lösung