Christian Doll verabschiedet sich mit Tschechow-Stück von den Domnfestspielen
Seit 2012 ist er künstlerischer Leiter der Domfestspiele, doch im Herbst wird sich
Christian Doll aus Gandersheim verabschieden. Mit Anton Tschechows „Der Kirschgarten“ bringt er seine achte Produktion auf die Bühne vor der Stiftskirche. Bei der Premiere am Donnerstag zeigte er, dass die Vergangenheit nicht als Idylle taugt. Die poetische Inszenierung präsentiert Handelnde, die in Zeiten des Wandels zu Zuschauern werden.
Schon die erste Szene verzaubert. Im Bühnenbild von Sandra Becker sind Möbel wie bei einem Umzug planlos verteilt. Die dezenter Hintergrundmusik gehört in die Kategorie “Ambient” ist aber elektronisch kühl. Requisiten und Darsteller sind in Plastikfolie eingeschweißt und nur schemenhaft zu erkennen. Erst klettert Dominika Szymanska als Dienstmädchen Dunjascha aus ihrem Kokon, dann enthüllt sich Gunter Heun und das Spiel beginnt.
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Ljubow Andrejewna kehrt nach Hause zurück, um zu retten, was nicht zu retten ist. |
Das Motiv des “Folie abreißens” wiederholt sich am Abend mehrfach. Es steht für Auspacken der Vergangenheit ebenso wie für das Freilegen der verborgenen Seelen. Mit diesem Kunstgriff gelingt Doll ein Einstieg mit überzeugender Metaphorik. Diese dunkle Lyrik hat nichts mit Schmetterlingen gemeinsam.
In der Rolle der Charlotta Iwanowa steht
Franziska Becker für die strahlenden Seite der Poesie. Wie eine Zauberfee taucht sie auf, vollführt Magiertricks und entschwindet ohne bleibende Spur. Das ist eine Essenz dieser Inszenierung. In ihrem Hauptberuf als Gouvernante ist die Iwanowa überflüssig geworden, da ihr Zögling Grischa schon vor Jahren starb, aber niemand hat ihr gekündigt. Sie ist nur Erinnerungsstück an ein verlorenes Paradies.
Das andere Erinnerungsstück ist der Kirschgarten, der Garten Eden, dessen Verlust nun droht. Das einstige Prunkstück ist zwecklos geworden. Niemand weiß mehr, wie man sein Früchte gewinnbringend verarbeiten kann. Als Diener Firs die alten Fähigkeiten, wieder entdeckt, ist es längst zu spät.
Irgendwo in der russischen Provinz um 1900: Die Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna Ranjewskaja muss nach Hause zurückkehren, weil ihre Tochter Anja um Hilfe gerufen hat. Das Hab und Gut der Familie ist bedroht. Nach dem Tod ihres Sohnes hatte sich Ranjewskaja mit ihrem jüngeren Liebhaber nach Paris abgesetzt. In der Zwischenzeit hat ihr Bruder Leonid Andrejewitsch Gajew das Gut heruntergewirtschaftet und das Vermögen verprasst. Es droht der Konkurs.
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Alle leiden an Beziehungsunfähigkeit.
Alle Fotos; Hillebrecht
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Die einzige Rettung ist der Kaufmann Lopachin. Der ehemalige Leibeigene der Ranjewskaja ist zu Geld gekommen. Er möchte den berühmten Kirschgarten der Familie kaufen, in Parzellen zerlegen und Ferienhäuser errichten. Doch Ranjewskaja und ihr Bruder wollen davon nichts hören. Sie geben sich lieber weiter ihren Gefühlen und Sehnsüchten in und schwelgen in Erinnerungen und Liebesträumen. Am Schluss kommt alles unter dem Hamme. Die Gutsbesitzerin kehrt zu ihrem Liebhaber nach Paris zurück und die Familie zerfällt in lauter Einzelteile. Jeder geht allein seines Weges. Nur Firs bleibt zurück. Man hat ihn einfach vergessen.
In Deutschland ist Tschechows letztes Werk als Satire über hoffnungslose Träumer interpretiert worden. Dabei fiel es ab 1906 der Zensur im zaristischen Russland zum Opfer. Die Angriffe auf die alte Oberschicht waren zu deutlich. Erst die Wiener Inszenierung von Peter Zadek legte alle Schichten dieser Farce frei. In der Zeit eines radikalen Umbruchs sind die alten Eliten nicht in der Lage, die Situation richtig zu erfassen und sich mit den Aufsteigern zu arrangieren. Der Adel verschwindet zu Recht.
Doll setzt andere Schwerpunkte. Er verlegt die Gründe für das Scheitern in den Bereich des Persönlichen. Seine Inszenierung zeichnet sich durch feine Psychogramme. Auf der Bühne stehen Existenzen, die zumeist in die Kategorie “gescheitert” fallen und dienicht aus ihrer Haut können. Selbst der Aufsteiger und Modernisierungsgewinner Lopachin braucht lange, bis er sich aus den Verhaltensmuster eine ehemaligen Untergebenen lösen kann. Mehr durch Zufall als mit Absicht wird er zum Schluss der neue Herr auf dem Gut.
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Trofimow schwingt gern große Reden.
Alle Fotos; Hillebrecht
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Dolls Anti-Helden haben noch einen zweiten Defekt. Sie sind emotionale Autisten. Keiner von ihnen kommt mit seinen Gefühlen klar und niemand ist in der Lage sich zu binden. Trotz gegenseitiger Liebe können weder Warja und LTroopachin zueinander, noch werden Anja und Trofimow ein Paar. Letzter betont ja immer wieder, dass er über der Liebe stehe.
Für seine Inszenierung hat Christian Doll noch einmal in die Vollen gegriffen. Dafür spricht schon die Besetzungsliste. Mit Luise Schubert, Alice Susan Hanimyan, Christine Dorner, Gunter Heun, Mario Gremlich, Dirk Weiler und Moritz Fleiter setzt Doll auf Mimen, die unter seiner Ägide in Gandersheim einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben.
Doch die zentrale Figur ist
Martina Maria Reichert. Bei ihrer Rückkehr nach Bad Gandersheim zeigt sie eine Gutsbesitzerin, die selbst nicht weiß, wo sie hingehört. Der Tod ihres geliebten Sohns Grischa hat sie aus der Spur geworfen und auf eine rasante Abwärtsfahrt gebracht.
Reichert legt alle widersprüchlichen Schichten dieser Figur frei. Die Verklärung der Vergangenheit, die Unfähigkeit der Gegenwart, die Furcht vor der Zukunft und die Unfähigkeit zur Bindung. Alles zusammen mündet in einem Wechselbad der Gefühlsausbrüche von Verzweiflung bis Raserei. Reichert verleiht der Psyche einer Enttäuschten eine Transparenz, die fast schon weh tut. Das ist theatralische Schwerstarbeit, die sie dennoch filigran bewältigt. Für ihr Elende findet sie viele Worte, aber nicht die passenden. Das wird deutlich, als sie, ihr Bruder, Dauerstudent Trofimow und Lopachin quälend lang anschweigen.
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Trofimow will Anja aus dem gewohnten Trott heraus- reißem. Foto: Hilllebrecht |
Ebenso überzeugend agiert
Gunter Heun in der Rolle des Kaufmanns Lopachin. Vom anfänglichen Selbstzweifel über Wutausbrüche bis zur selbstbewussten Inbesitznahme zeichnet er die Emanzipation das Aufsteigers glaubwürdig nach. Dabei kommt ihm seine Körperlichkeit und seine Präsenz zu gute und vor allem seine vokale Kunstfertigkeiten. Wie kaum ein anderer kann Heun seine Stimme in allen Tonlagen und Lautstärken einsetzten, vom Flüstern bis zum Brüllen. Damit ist er sowohl Bittsteller wie auch Berserker zugleich. Seine rasende Umgestaltung der Bühne gehört zu den eindruckvollsten Szenen.
Die Beziehungsunfähigkeit aller Beteiligten kristallisiert sich in der Person der Pflegetochter Warja. Das beeindruckende Spiel von
Alice Susan Hanimyan ist ein einziger stummer Schrei nach Liebe. Das fehlende Echo führt zu rasenden Gefühlsausbrüchen, die die Spirale der Ablehnung nur noch weiterdrehen. Schon in der ersten Szene wirdihr Leiden an der Distanz deutlich. Sie muss ihre Stiefschwester Anja geradezu zu zärtlichen, unterstützenden Berühungen nötigen. Dieses Motiv des erzwungenen Handauflegens taucht mehrmals auf. Es ist in Dolls Inszenierung das Handlung gewordene Symbol für die Beziehungsunfähigkeit.
Der Umgang mit dem Wandel, das Bewältigen von epochalen Herausforderungen, dies ist das Thema von Tschechows Werk.
Christian Doll und Dramaturg
Florian Götz zeigen die Parallelen zur aktuellen Weltlage und zu aktuellen Handelnden oder Nicht-Handelnden immer wieder auf. Dies gelingt ihnen auf eine Art, die nicht belehrend daherkommt. Deutlich wird dies, wenn die Schauspieler die Regie übernehmen und mit der Tontechnik in Dialog treten
Diese Inszenierung schafft beides: Sie verzaubert mit einer ganz eigenen Poesie und sie ist dennoch eine eindeutige Aussage zur Jetztzeit. Moralisieren und Reden statt Handel und Personen, die wie aus dem Sammelalbum der Generation Y wirken.
Der
Spielplan der Gandersheimer Domfestspiele
Das Stück in der
Eigenbeschreibung
Der Kirschgarten bei
wikipedia