Sonntag, 26. Juni 2016

Gelungene Koopertaion

Die Carmina Burana bei den Festspielen in Sondershausen

Auch Markus Frank wird in diesem Sommer das Theater Nordhausen verlassen. Zum Abschied zauberte der Generalmusikdirektor mit dem Loh-Orchester eine monumentale Aufführung mit mehr als 150 Akteuren auf die Bühne der Schlossfestspiele in Sondershausen: Die Carmina Burana von Carl Orff. Das Publikum auf der ausverkauften Tribüne war begeistert.

Carmina Burana? Ach ja, jeder, der in den 1990er Jahren mal Fernsehwerbung oder Boxen gesehen hat, kennt zumindest Teile dieses Werkes. 1934 war Carl Orff auf eine Sammlung von mittelalterlichen Gedicht aus dem Kloster Bendiktbeuren gestossen. Der Bibliothekar Johann Schneller hat dieser Sammlung einst den Titel “Carmina Burana”, Lieder aus Beuren, gegeben.


Frauen links, Kinder mittig und Männer rechts, so
einfach ist die Konzertarchitektur.
 Alle Fotos: tok
Orff war von dem Material so begeistertet, dass die Gedichte innerhalb kürzester Zeit vertonte. Er meinte sogar, dass mit diesem Werk eine neue Zeitrechnung in seiner Biografie beginnt. In aller Bescheidenheit meinte der Komponist, dass seine “Carmina Burana” sogar die Dimensionen der traditionellen Kantaten sprengt.

Um dieses Stück bei den Schlossfestspielen aufführen zu können, bedurfte es vieler Akteure. Neben dem Loh-Orchester und den Solisten Tijana Grujic, Ricardo Frenzel Baudisch und Yonnthek Rhim stehen der Opernchor und die Kantorei aus Nordhausen auf der Bühne. Auch der Mittelstufechor des Humboldt-Gymnasiums ist an der Aufführung beteiligt.

Es ist erstaunlich, wie gut das Zusammenspiel zwischen den Profis und den Amateueren klappt. Eine Abfall in den gesangichen Leistungen kann man nicht feststellen. Hier hat Markus Popp bei der Einstudierung ganze Arbeit geleistet. Zudem wurden die Chöre auf der Bühne gemischt. Die Damen stehen links, die Herren links, in der Mitte die Kinder. Dies erleichtert das dialogische Singen in vielen Sätzen.

Ricardo Frenzel Baudisch macht
den sterbenden Schwan
Auch das Zusammenwirken zwischen den Sängern und dem Orchester klappt wunderbar. Die Instrumente sind kräftig, aber nie dominant und sie beachten das Primat des Gesangs. Markus Frank zaubert einen Klang, alle Bereiche zwischen leise und brüllend beherrscht, aber dennoch transparent bleibt.  Das Loh-Orchester zeigt sich als Einheit, die die Dynamik in diesem Werk umsetzen kann.

Die Carmina Burana ist kein Werk für Musikhistoriker, sondern eine komplette Neuschöpfung. Orff hat den Texten eine Musik beiseite gestellt, die vor allem Stimmungen produzieren soll. Von den etwa 250 Gedichten hat er 24 vertont und dazu die Ode an Glückgöttin Fortuna als Rahmen geschaffen.

Genau diese wummernde und bombastische Ode, die einst omnipräsent im Werbefernsehen und bei der Sportberichterstattung war, eröffnet und beendet auch die Aufführungen in Sondershausen. Somit ist das Gänsehautgefühl beim Publikum von Anfang an dabei. Dazwischen liegen 24 Lieder mit sehr unterschiedlichen Charakter. Die Texte sind alles mögliche nur nicht klösterlich. Es geht um Naturerlebnisse, götter und vor allem um die Liebe und um Sex. Wären sie nicht in Latein oder Mittelhochdeutsch, so bekämen manch Sänger angesichts der Anzüglichkeiten einen roten Kopf.

Grujic, Frenzel Baudisch und Rhim fügen sich nahtlos in den Wechsel von Chor und Solo ein. Tenor Frenzel Baudisch hat seine Sternstunde beim Klagelied des toten Schwans. Er macht den Schmerz eines Tieres auf dem Grill körperlich erfahrbar.

Zum Schluss gab es viel Applaus für den Ex-Chef.
Tijana Grujic gehörte zu den großen Entdeckungen der letzjährigen Festspieloper. In der “Carmina Burana” kann die Sopranistin gleich dreimal Akzente setzen. Das Duett mit  Yonnthek Rhim in “Lieblich ist die Zeit” zeigt einen wunderbaren Wechsel von brachialer Lust und stiller Verzweiflung.

Das Lob an Fortuna schließt den Kreis und das Publikum übt sich stilecht in der Disziplin “Wildes Getrampel”. Nach acht Jahren an Theater Nordhausen verabschiedet sich Markus Frank mit einer Inszenierung, die die Maßstäbe verrückt.


Spielplan der Schlossfestspiele

Das Werk in der Eigenbeschreibung
Das Werk bei wikipedia



Freitag, 24. Juni 2016

Er hat es wieder getan

Gunter Heun überzeugt als Judas Ischariot

Prolog:

Für mich war "Judas Ischariot" das stärkste Stück bei den 57. Domfestspielen. Deshalb hat freute mich die Woiederaufnahme besonders. Eigentlich besuchte ich keine Vorstellung zweimal, aber dieses Mal habe ich großzügig eine Ausnahme gemacht. Mich trieb die Frage: "Was würde ich jetzt mehr sehen? Was würde ich anders sehen?" Um die Antworten  vorweg zu nehmen: Eine ganze Menge. Auf jeden Fall hat es sich gelohnt.

Ende Prolog.

In der Inszenierung von Christian Doll stimmt alles. Text, Darsteller und Spielort faszinieren als Gesamtpaket und das  Stück sorgt dafür, dass Gewissheiten und Klischees, die die Christenheit seit 2.000 Jahre mit sich herumschleppt, innerhalb von 60 Minuten umgekehrt werden. Wie weit geht die Christenheit mit ihre Barmherzigkeit? Kann sie dem verzeihen, deren Messias ans Messer geliefert hat?

Im Klostergarte Brunshausen ist der Sommer angekommen. Es laues Abendlüftchen weht, Vögel zwitschern und die Rosen duften. Doch dann geht es in die Tiefe, zwölf Stufen in den dunklen Keller, dann rechtsherum und gleich wieder linksherum. Dort ist Licht und ein minimales Bühnenbild. Der Gewölbekeller im ehemalige Kloster ist kein Spielort für Klaustrophobiker, aber er ist der geeignete Spielort für “Judas Ischariot” von Lot Vekemans.

Stimmt die Kasse? Hat jeder
bezahlt?
Alle Fotos: Hillebrecht
Die niederländische Autorin hat sich mit dem größten Unsymphaten der Christenheit beschäftigt, mit dem Mann, der den Messias verraten hat. Christian Doll hat daraus ein Stück gemacht, dass an Intensität kaum zu überbieten ist. Mit Gunter Heun hat er einen Darsteller gefunden, der dieser Intensität Stimme und Körper verleiht.

Judas ist wieder da. Wie, das bleibt unklar und ist auch zweitrangig. Auf jeden Fall sucht er das Publikum, um sich zu erklären. So ist die Ausgangslage in diesem Monolog für einen Schauspieler.

Die beengten Verhältnisse im Kellerraum lassen kein Ausweichen zu. Das Publikum ist dem Darsteller ausgeliefert und der Darsteller dem Publikum. Doch dafür ist Gunter Heun genau der richtige Mann. Er versteht das Spiel mit den Zuschauern und den Zuhörern. Er spricht einzelne direkt an und mit Laufe des Abends hat er jedem Anwesenden mindestens einmal in Gesicht geschaut. Der anfängliche Monolog wird zum Dialog

Dies macht “Judas Ischariot” zu einem sehr persönlichen Stück. Rolle und Darsteller verschmelzen. Auch das Publikum wird zu einem Teil der Inszenierung und das ist die hohe Kunst auf einer Studiobühne. Aber es gibt keine Bühne im eigentliche Sinne. Die Stühle sind an den Längsseiten des Gewölbekellers aufgereiht, dazwischen agiert Heun. Mal bewegt er sich wie ein Model auf dem Cat-Walk, mal wie ein Tiger im Käfig. Auf jeden Fall ist er energiegeladen.

Diese Energie steigert sich im Laufe der einstündigen Aufführung. Judas erzählt Judas von sich, von seinen Eltern und Geschwistern und vom ersten Treffen mit Jesus. Anfangs kühl und überlegt steigert sich die Lautstärke merklich. Doch manchmal ist es wichtig, was er nicht ausspricht, was er verschweigt. Dann bricht der Redefluss ab und Heun zeigt sich als Meister der Kunstpause. Warum sollte man etwas erklären, wenn keine Chance auf Einsicht beim Publikum besteht?

Judas Ischariot fühlt sich missverstanden und das muss nach 2.000 Jahren geklärt werden. Nein, er sieht sich nicht als Opfer. Judas hat auch ein These: Er hat gehandelt und mit seinem Selbstmord Verantwortung übernommen, während die Scheinheiligen immer auf die Anderen verweisen. Warum hat niemand den Messias gerettet? Damit stellt Lot Vekemans endlich mal die Frage nach der Mitschuld. Heun schreit sie heraus und das Publikum schweigt betreten.

Manchmal ist der starke Mann ganz verzweifelt.
Foto: Hillebrecht
Ein Anliegen hat er auch. Ischariot möchte seinen Namen zurück. Seit 2.000 Jahren gilt “Judas” doch als unaussprechlich. Doch der Namenstausch mit den Anwesenden klaptt nicht keine übernimmt diese Makel freiwillig

Explosionsartig entweicht die ganze Energie. Judas schreit und zetert und bleibt doch als ein Häufchen Elend zurück. In der Verzweiflung fließen Tränen. Gunter Heun bewältigt diesen Zusammenbruch glaubhaft. Seine Stimme wechselt zwischen Lautsprecher und Flüsterer und die einst dominante Gestik verkümmert schlagartig.

Im Gegensatz zum letzten Jahr verzichtet Doll bei der Wiederaufnahme auf die provokante Pose des Gekreuzigten. Das nimmt zwar die Schärfe aus der Inszenierung, macht die Aufführung aber persönlicher. Am Ende bekennt wenigstens Judas zu sich selbst, indem er seinen Namen in großen Lettern auf den Boden schreibt.

Judas Ischariot” bei den Gandersheimer Domfestspielen ist ein seltener Glücksfall. Das Gesamtpaket stimmt: Hier treffen ein starker Text auf einen Regisseur und einen Dramaturg, die die Herausforderung einer intimen Studiobühne beherrschen. Dazu kommt ein Darsteller, der alle Tiefe einer menschlichen Existenz ausloten kann und ein Aufführungsort, der alle Aussage unterstützt.


Die Kritik zur Aufführung 2015

Spielplan der 58. Domfestspiele
Das Stück

Sonntag, 19. Juni 2016

Erwartungen erfüllt, Chance verpasst

"Anatevka" bei den Schlossfestspielen hat viel Broadway-Flair

Opulente Kostüme, kräftige Stimmen und berauschende Tanzszenen. Bei ihrer Inszenierung von "Anatevka" greifen Jutta Ebnother und Toni Burckhardt in die Vollen. Bevor sie sich nach Schwerin verabschieden, zeigen die Choreografin und der Regisseur noch einmal, was den besonderen Zauber des Genre Musical ausmacht. Dabei können sie vor allem auf eine überragende Leistung von Thomas Bayer in der Rolle des Milchmann Tevje bauen. Bei der Premiere am Freitag war das Publikum berauscht und begeistert.

Schon die Anfangsszene macht deutlich: Das Thema des Abends ist die Tradition in vielfältiger Form. Sie gibt den Menschen im Ort Anatevka, das irgendwo in der Ukraine liegt, den Lebensrhythmus, die Weltsicht und die Verhaltensregeln vor. Ganz in der Tradition des Broadway-Musicals macht Burckhard dies mit einer Massenszene, mit viel Tanz und überbordender Musik eines vollständigen Orchesters.

Die Anfangsszene macht noch etwas anders deutlich: Dies ist der Abend von Thomas Bayer. Er beherrscht die Szenerie durch seine Präsenz, seine stabile Gestik und seinen sonoren Tenor. Kräftig aber klar absolviert er sein erstes Solo und macht damit die Vorgabe für den ganzen Abend.  Er darf seine Nachbarn und ihre Marotten vorstellen und schon ist das Publikum im Bilde und mitten drin.

Tevje spricht gern und ausgiebig mit seinem Gott.
Alle Fotos:; Tilmann Graner
Gottesfürchtigkeit und trotzdem ein wenig Aufmüpfigkeit, jede Menge Lebenserfahrung und trotzdem immer noch optimistisch und alles gepaart mit einer ordentlichen Prise Humor. Thomas Bayer zeigt einen kompletten Tevje, einen glaubwürdigen Menschen. Sein Monolog mit Gott und das anschließend "Wenn ich einmal reich wär"-Solo gehört zu den eindrucksvollsten Szenen des Abends.

Im Grunde sind die Einwohner von Anatevka es alles liebenswerte Menschen, die sich mit ihren Schicksal und ihrer Not abgefunden haben. Ihrem Elend begegnen sie mit jeder Menge Witz. Der Wachtmeister ist zwar der Vertreter der zaristischen Obrigkeit und damit der Büttel eines Unterdrückerregimes, Aber irgendwie ist auch er nur ein Mensch und man hat sich eben arrangiert.

Doch eben dieses Regime wird die Juden von Anatevka im zweiten Akt zwingen ihre Häuser und ihre Heimat zu verlassen. Sie wandern nach Amerika aus, ins gelobte Land. Die Parallelen zu den aktuellen Weltereignissen sind augenscheinlich, aber leider in dieser Aufführung nicht zu sehen.

Burkhardt betreibt das, was andere zur Jahrtausendwende begonnen haben. Er verklärt des Stetl, das Ghettos der Juden in Osteuropa. Die Kostüme von Elisabeth Stolze-Bley unterstützen diese Aussage. Sie ahmen das späte 19. Jahrhundert nach. Man ist zwar arm aber anständig gekleidet. Sogar bis zu den Franzen des Gebetsschals sieht der Sondershäuser Tevje aus wie die Vorlage aus dem Film von 1971. In der Kategorie "Nachspielen einer Filmvorlage" erhält diese Aufführung die volle Punktzahl.

Als Hodel und Perchik entgegen der
Tradition tanzen, bricht das
Unglück über alle herin.
Allein das karge Bühnenbild und die fast schon surrealen Auftritte des "Fiddler on the Roof" kontrastieren die traditionsbewusste Inszenierung. Mit Bauten in Schwarz und Weiß und mit wenigen entlaubten Birken erinnert Wolfgang Kurima Rauschning an die einfachen Verhältnisse der osteuropäischen Juden um die Jahrhundertwende. András Dobi taucht immer dann als stummer Geiger auftauchen, wenn eine entscheidende Wendung ansteht.

Nur einmal wird das Historienspiel unterbrochen: In der Traumszene mit der toten Großmutter und der toten Frau des Metzgers Lazar Wolf. Es ist eine gekonnte Mischung aus surrealen Elemente und Slapstick. Der Mut des Regisseurs wird viel Beifall belohnt und es ist die Szene, die am stärksten in Erinnerung bleibt.

Es geht in dieser Inszenierung um Traditionen und um den Bruch mit dem Althergebrachten. Fast schon mit anthropologischen Eifer werden die Gebräuche der osteuropäischen Juden dargeboten. Selbst der Bezug zu den Geschehnissen der Zeit fehlt. Immerhin befinden wir uns im Jahr 1905, im Jahr des Blutsonntags von St. Petersburg und im Jahr der ersten russischen Revolution. Nichts davon findet sich in diesem Traditionsstück wieder.

Wenn dieses Musical neben dem Erzählen einer amüsanten Biografie noch einen Kern bietet, dann ist es die Auseinandersetzung mit der Tradition und ihrem Zerbrechen. Diesen Kern hat die Aufführung in Sondershausen vollumfänglich erfasst. Der Bruch der Tradition personifiziert sich in Tevjes ältesten Töchtern. Keine folgt dem Wunsch des Vaters, alle drei gehen ihren eigenen Weg. Tevje findet sich damit ab, doch die Strafe folgt auf dem Fuße. Die Juden werden aus dem Paradies Anatevka, aus dem Garten Eden vertrieben. Aber ihnen bleibt die recht konkrete Verheißung des gelobten Landes USA. Das klingt alles nach frühe 1960er Jahre,

Bei der Besetzung konnten Jutta Ebnother und Toni Burkhardt in die Vollen greifen. Auf der Festspielbühne stehen, singen und tanzen viel Darstellerinnen und Darsteller, die das Geschehen am Theater Nordhausen in den letzten Jahren geprägt haben. Uta Haase ist in der Rolle der Ehefrau Golde ist Thomas Bayer als Milchmann Tevje ebenbürtig. Als Sänger beeindruckt an diesem Abend David Johnson. Sein Solo als Russe Sascha hat einen hohen Gänsehaut-Faktor.

In der Wäsche-Szene des ersten Aktes zeigen sich Irene Eggerstorfer als Zeitel, Rebekka Reister als Hodel und Anita Rosati als Chava als Darstellerinnen und Sängerinnen auf Augenhöhe. Auch Philipp Lang in der Rolle des aufmüpfigen Studenten Perchik kann mehrfach Akzente setzen.

Es ist ein komplett gleichwertiges Ensemble, das an diesem Abend auf der Bühne der Schlossfestspiele steht, alle Rolle sind durchweg stark besetzt und das Zusammenwirken mit dem Loh-Orchester klappt bestens. Die Musiker lassen unter der Leitung Sergi Roca den Darsteller eindeutig den Vorrang.

Tänzerisch bewegt sich das Musical auf höchsten
Niveau.     Alle Fotos: Tilmann Graner. 
Swing, Polka und jede Menge Klezmer. Für ein Musical der 60er Jahre verfügt "Anatevka" über eine außergewöhnliche Bandbreite. Das Loh-Orchester stellt alle Spielarten gleichermaßen gut dar. Auch die ungewohnten Klänge des Klezmer kommen transparent und vielfältig daher.

Mit ihre Choreographie kann auch Jutta Ebnother  dieser Produktion ihren Stempel aufdrücken. Die Tanzszenen. ob Masse oder Solo, beleben den Geist des klassischen Broadway-Musical wieder. Spektakulär wird es bei der Verbrüderung von Russen und Juden und so viel Kasatschok gab es noch auf der Bühne des Schlossfestspiele. Die Aussage ist klar: Alle Mensch wären Brüder, ließe man sie nur miteinander tanzen.

Diese Inszenierung hat genau das, was Musical-Freunde suchen: Musik, Tanz und Romantik. Auf der technischen Ebene ist alles bestens und der Unterhaltungswert erreicht Spitzenwerte.
Mit dieser Inszenierung trifft Burkhardt den Kern der literarischen Vorlage von Scholem Alejchem. Zudem erfüllt er die Erwartungen des Musical-Publikum voll und ganz. Diese Stück steckt voller technischer Höhepunkte. Aber Zeiten, in denen Flucht und Vertreibung wieder zum Alttag gehören, hätte ein wenig Mut zu mehr Gegenwart nicht geschadet.

Dienstag, 14. Juni 2016

Eine Schreckensmär mit Happy End

Theater der Nacht zeigt die Frau von Bath

Der Titel lautet "Die anderes Seite der Nacht", aber die andere Seite des Festivals wäre wohl richtiger. Mit einer poetischen Aufführung aus den Canterbury Tales verzauberte das Theater der Nacht am Montag das Publikum bei den Domfestspielen. Diese Commedia dell'Arte ist ein stiller Gegenentwurf zu den überbordenden Musical-Inszenierungen der 58. Spielzeit in Bad Gandersheim.

"Die Frau von Bath" ist eine Erzählung aus den Canterbury Tales. In dem Werk versammelte Geoffrey Chaucer ab 1378 Geschichten und Legenden aus dem mittelalterlichen England. Es sind Erzählungen, die sich zumeist um Macht, Gier und menschliche Charakterschwächen. Auch wenn die Verpackung mittelalterlich anmutet, hat Bernd Witte für das Theater der Nacht eine Inszenierung erarbeitet, die ganz modern die Fragen nach sexueller Selbstbestimmung und nach Frauenrechten stellt.

Heiko Brockhausen hat viel Spaß an der Figur des
Comte.   
Alle Fotos: tok
Bereits 1999 feierte das Theater der Nacht damit die Premiere vor der Stiftkirche. Seitdem ist das Ensemble aus Northeim mit dem Werk immer wieder zu Gast in Bad Gandersheim. Die Aufführung am Montag war die 101.

Ritter Gernot von Schwarzenstein ist ein echtes Ekelpaket: arrogant, gewalttätig, hinterlistig und unbelehrbar. Er begehrt das Herz der Gräfin Anemone, die aber nicht von ihm wissen will. Nachdem Gernot in der Gestalt des Blauen Ritters mit List und Tücke das Turnier der Gräfin gewonnen hat, vergewaltigt er die Angebetete. Die Schandtat kommt ans Licht und Gernot wird zum Tode verurteilt. doch der Delinquent erhält eine letzte Chance. Innerhalb eines Monats muss er ergründen, "was das Herz eines Weibes zumeist begehrt".

Es ist ein Schauspiel für vier Darsteller, mit neun Rollen und jeder Menge fantastische Figuren wie die verfluchte Tier-Frau Ragnell, den doppelköpfigen Richtern oder den Tod. Im schnellen Wechsel springen die Darsteller von Maske zu Maske. Überhaupt tragen die Masken aus den Händen von Heiko Brockhausen einen großen Teil zum Zauber dieser Inszenierung dar. Jede Rolle steht für eine menschliche Eigenschaft und die Masken unterstreichen den Charakter kongenial.

Es sind die traumhaften Großfiguren, die für ein stilles Staunen sorgen. Der doppelköpfige Richter ist Autorität pur, die drei Geier verbreiten Grusel und Gevatter Tod ist mit seinen 3,50 Meter Größe imposant und furchteinflössend zugleich.

Ritter Gernot muss vor den Richter
treten.
Angekündigt als Commedia dell'Arte ist "Die andere Seite der Nacht" eher eine Mischung unterschiedlichster Theaterformen. Realtheater und Figurentheater verschmelzen miteinander. Es gibt ein wenig Klamauk und Satire und einen ironischen Spiel mit dem Versatzstücken des Amateurtheaters. Die nicht funktionierenden Musikeinspielungen und laut gesprochene Regieanweisungen werden zu running gags.

Der Erzählstrang ist chronologisch aufgebaut und bleibt beruhigend konventionell. Ernste und heitere Szene wechseln sich ab und dann sind da noch die finsteren Traumszenen mit einer eindeutigen und eindringlichen Symbolik. Die Texte weist nur wenige Stellen auf, die man für so unbedingt mittelalterlich und höfisch hält.

Die Puppenspieler verfügen über erstaunliche Kompetenzen in Sachen Sprechtheater. Alle vier können ihre Stimmen variabel und glaubwürdig einsetzen. Auch die Restmimik funktioniert so gut, dass man stellenweise glaubt, die Masken würden lebendig.

Die eindeutige Zuweisung erleichtert die Identifikation. Da sind Magd Clara und Diener Bruno, die mit ihren reinen und unbeschwerten Liebe als Gegenentwurf zum höfischen Geplänkel und zur Minne dienen. Das ist der bösartige Ritter Gernot, der selbst noch in höchster Lebensgefahr nicht von seinem hohen Ross herunterkommt. Das ist der altersstarrsinnige Chevalier de Rochefort  und vor allem der trottelige Comte de Souffle.

Man merkt, dass Heiko Brockhausen sehr viel Gefallen an dieser Figur findet. Er spielt den trotteligen Galan mit so solcher Freude, dass das Publikum viel zu Lachen hat und auch an Zeitgenossen erinnert wird. In der Maske des Diener Bruno, der für die nutzlose Unterwürfigkeit steht, und mit Ruth Brockhausen als Magd Clara geben sie den Stück die notwendige Erdung. Auf dieser Basis funktioniert das mittelalterliche Mythenspiel umso besser.

Die verfluchte Ragnell hat die Lösung

für Gernots Problem.
Aber natürlich ist Ritter Gernot die zentrale Figur der Inszenierung. Christoph Buchfink legt hier soviel Arroganz und Übermut in die Person, dass man ihn bestimmt nicht zum Nachbarn haben möchte. Er macht aus der Geschichte der geschändeten Frau ein Parabel aus mangelnder Empathie und Unbelehrbarkeit. Es ist fast zu spät, dass die Antwort auf die Frage, was eines Weibes Herzen zumeist begehrt ähnlich schwierig ist wie die Suche nach dem Heiligen Gral.

Deswegen kommt die Läuterung ein wenig überraschend. Einsicht kommt erst, wenn man sich aller Dinge entledigt. Dies wird traumwandlerisch mit fliegenden nackten Puppen dargestellt. Die "Kampfszene" bei der Rückkehr in die bekleidete Welt nimmt dieser Weisheit ein wenig die Schwere.

Bei allen philosophischen Aspekten und trotz aller düsterer Mystik ist "Die andere Seite der Nacht" doch ein Märchen mit Happy End. Ritter Gernot entgeht seiner Hinrichtung, weil er sich in letzter Minute an die weise Frau Ragnell wendet, auf der seit 101 Jahren ein Fluch lastet. Er wendet sich an sie und er bekennt sich zu ihr. Also muss der Henker sein Schwert wieder einstecken und unverrichteter Dinge abziehen. Ach ja, es ist eine Win-win-Situation. Mit Gernots Hilfe wird Ragnell erlöst. Der Ritter erkennt, was des Weibes Herz zumeist begehrt: Selbst entscheiden.

Mit diesem Stück zeigt das Theater der Nacht die anderes Seite des Festivals: Poesie gepaart mit Philosophie. Das Theater der Nacht trifft die anschauliche, meisterhafte Sprache Chaucers und damit seine humorvolle und realistische Weltsicht auf eine zeitgemäße Art.


Der Spielplan der Domfestspiele


Das Theater der Nacht
Das Stück  


Die Canterbury Tales

Montag, 13. Juni 2016

Musical mit 2-Takter

Highway to Hellas ist vor allem ein Festival des Schüttelreims

Das dürfte neuer Rekord auf dem Applauso-Meter der 58. Domfestspiele sein. Mit satten 15 Minuten Beifall belohnte das Publikum am Freitagabend die Premiere des Musicals „Highway to Hellas“. Regisseur Achim Lenz und das Autorenteam Doll, Wolff und Schimkat haben wohl den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Mischung aus Klischee, Klamauk und Männerfreundschaft erfüllt das Bedürfnis nach Unterhaltung auf hohen Niveau.

Das Buch von Moses Wolff und Arnd Schimkat war 2014 der Überraschungserfolg auf der Spiegel-Bestsellerliste. 2015 folgte die Verfilmung von „Highway to Hellas“ mit Christoph Maria Herbst in der Hauptrolle. 2016 setzten sich die Autoren mit Intendant Christian Doll und Komponist Heiko Lippmann zusamen, um aus der Geschichte über den deutsch-griechischen Kulturkampf ein Musical zu machen. Somit war die Premiere am Freitag zugleich eine Welturaufführung.

Es ist klar: Ein deutscher Banker trinkt keinen
Ouzo.      Alle Fotos: Hillebrecht/Foto-Maus
Es ist nicht weniger als ein „Clash of Culture“. Deutsche Geschäftstüchtigkeit trifft auf griechische Lebensart., Zahlengläubigkeit trifft auf Schlitzohrigkeit. Dies manifestiert sich im Gegeneinander von Jörg Geissner und Panos. Der eine wurde von seiner Bank auf die Insel Paladiki geschickt, um die ordnungsgemäße Verwendung eines Kredites zu überprüfen. Der andere ist dort Besitzer eines Minimarktes , Lebemann, Touristinnenbeglücker und bester Freund des Bürgermeisters. Von diesem erhält er den Auftrag, Geissen in die Irre zu führen.

Natürlich haben die Hellenen mit dem Geld aus Deutschland ganz was anderes vor. Darauf spekuliert sogar Dr. Laichinger als Geldgeber. Denn könnte er die Zweckentfremdung nachweisen, dann fällt vertragsgemäß der Strand der Insel an seine Bank und Laichinger könnte dort ein Urlaubsresort bauen.

Was als Geschichte über die Griechenland-Krise angekündigt ist, ist vor allem ein Kleinkrieg zwischen zwei Männer. Dementsprechend sind Dirk Weiler als Jörg Geissner und Ron Holzschuh als Panos die Pole dieser Inszenierung. Für Brecht war die Gründung einer Bank das größere Verbrechen als das Ausrauben derselbigen. Für Wolff und Schimkat scheint das Arbeiten für ein Geldhaus das noch größere Delikt zu sein. Damit wird das Thema deutlich entpolitisiert, aber immerhin haben Panos und seine Nachbarn einen recht sympathischen Weg gefunden, die Bank auszunehmen.

Es scheint ein Naturgesetz zu sein. Wenn der deutsche Intellektuelle gen Süden blickt, dann schaut er in ein vermeidliches Paradies. Wolff, Doll und Schimkat spielen mit diesen Aussteigerambitionen und den Träumen vomm einfachen Leben auf eine sehr einfache Weise. Auch das Erzählmuster "Konflikt - Annäherung - Krise - Friede, Freude, Eierkuchen" ist auch ein Standard für Musicals und das Publikum erwartet ja auch ein Happy End. Zwischen dem Anfangs- und dem Endpunkt wird ein dörfliches Idyll entblättert, das hart an der Grenze zwischen Klischee und Klamauk liegt. Manche Zeichnung gerät dabei aber arg karg.

Mit der Zündapp geht es auf den Highway.
Weiler und Holzschuh personifizieren den Konflikt hervorragend. Sie lassen kein Klischee aus, aber das erledigen sie augenzwinkernd. Braucht der Deutsche sein Smartphone, um das Hotel zu finden und natürlich sitzen die Griechen den ganzen Tag in der Taverne. Wenn sie nicht gerade Ouzo trinken, dann tanzen sie. Dirk Weiler beherrscht das „mürrisch Gucken“ auf großartige und ausdauernde Weise. Seine Rhetorik, Gestik und Mimik erheben Verklemmung zur Kunstform. Das grau in Grau seiner Kostümierung macht ein Gesamtwerk daraus.

Ron Holzschuh ist der passgenaue Antipode. Seine raumgreifende Gestik und die verbalen Tiraden verdeutlichen dem Macher. Aber die stillen Töne des ach so typischen Beiseite Nehmens zeigt Holzschuh überzeugend.

Trotzdem schaffen es Weiler und Holzschuh das Zusammenwachsen von Banker und Filou glaubhaft zu verkörpern. Aus dem Gegeneinander wird eine Miteinander. Der Höhepunkt ist ohne Frage die Spritztour mit der Zündapp über die Festivalbühne. Der Zündfunke der griechischen Lebensfreude springt auf den vereinsamten Deutschen über. Alexis Zorbas lässt grüssen.

Überhaupt ist es ein Musical im hektischen Ton eines Zweitakters. Gag reiht sich an Gag und es gibt nur wenige Momente im Leerlauf und im ruhigen Tuckern. Musical ist halt Unterhaltung und die gelingt den Autoren allemal. Da schaden auch ein wenig Schwarz-Weiß-Malerei und einfach Identifkationsangebote nicht.

Panos kann nicht nur Frauen beglücken, sondern
auch Faxe lesen.   Alle Fotos: Hillebrecht
Dazu tragen auch die Songs von Heiko Lippmann bei. Der Hofkomponist der Domfestspiele bedient sich in einem großen Fundus an musikalischen Traditionen. Da passen Pop, Swing, Blues und Sirtarki durchaus nebeneinander. Auf jeden Fall ist der Ohrwurm-Faktor bei vielen Songs durchaus hoch anzusetzen. Das liegt natürlich auf an den eingängigen Texten, dir vor keinem Schüttelreim Halt machen. Es werden nicht nur Baden und Kykladen miteinander verwoben.

Achim Lenz kann auf ein Musical-erprobtes und glänzendes Ensemble bauen. Seine Truppe hat Spaß am Spiel und der Funke springt schneller als ein Zweitakter auf das Publikum über. Christine Dorner in der Rolle des Bösewicht Dr. Laichinger erinnert erfrischend an den Bösewicht Montgomery Burns. Ja, das ist jener Miesling aus der Simpsons-Serie.

Für Tabea Scholz in der Rolle der Hotelbesitzerin Maria ist die Wutrede der Höhepunkt der Aufführung. Nicht nur betrogenen Gattinnen bietet diese Szene Identifikationsmaterial. Ja, in Highway to Hellas geht es nicht nur um Männerfreundschaft. Es geht es auch noch um Frau-Mann-Beziehungen und um eine Vater-Sohn-Geschichte. Aber zum Schluss wird auch dieser gordische Knoten gelöst.

Mit Highway to Hellas haben die Domfestspiele Kurs genommen Richtung Unterhaltung.Dem Publikum hat es gefallen. Wie gesagt, 15 Minuten düftten neuer Rekord auf dem Applauso-Meter sein.



Der Spielplan der Domfestspiele
Das Stück in der Selbstbeschreibung

Sonntag, 5. Juni 2016

Einfach mal nett geplaudert

Friedrich Schorlemmer und Gregor Gysi vertragen sich

Ein Hauch von Geschichte wehte durch den Kreuzgang Der kapitelsaal wird bis auf den letzten Platz ausverkauft, als Friedrich Schorlemmer und Gregor Gysi dort aufeinandertreffen. Wer nun hitzige Debatten erwartet hatte, weil die Protagonisten in der DDR einst auf unterschiedlichen Seiten standen, wurde enttäuscht. Vom Aufeinandertreffen kann also nicht die Rede sein. Es war eher ein Wiedersehen alter Bekannter.

Es wehte eher ein Hauch von Klassentreffen durch den Kreuzgang in Walkenried. Was auch am Moderator lag. Hans-Dieter Schütt ist nun auch kein Unbekannter. Als Chefredakteur der FDJ-Zeitung "Junge Welt" wetterte er einst gegen die kirchliche Opposition  in der DDR. Heute zeigt er sich ganz versöhnlich. Seit seiner Autobiographie "Glücklich beschädigt" von 2009 gilt Schütt als geläutert. Er ist immerhin Co-Autor des Buches "Was bleiben wird" und dieses war der Aufhänger für die Gesprächsrunde im Kapitelsaal.

Um den Verlust von Utopien in der bleiernen Zeit der DDR und um den Verlust der Utopien aus der Zeit der Wende geht es in dem Buch und damit auch in diesem Driegespräch. Doch erst ist das Gespräch ganz gegenwärtig.

Voll und erwartungsvoll war es im 
Kapitelsaal.   Alle Fotos: tok
Friedrich Schorlemmer macht den Anfang in der Klagerunde. Etwa 10 Jahre hätten die Euphorie und die Hoffnungen nach der Wende angedauert. Vom Verschwinden der weltweiten Konflikte und vom Ende der Kriege habe man damals geträumt. Das habe man sich als Friedensdividende erhofft. Doch nun habe die Globalisierung  für eine Verschärfung der Konflikte gesorgt. Der Aufstieg von Donald Trump sei das beste Beispiel für die aufbrechenden Konflikte.

Gysi sieht es ähnlich, aber eben doch ein wenig anders und startet seinen ersten Monolog. der Er betont Aspekte, die auf den ersten Blick, auf das erste Hören nur als Nuancen erscheinen, aber doch die unterschiedliche Antwort bei der Frage nach der Verantwortung deutlich. Der Westen konnte nach 1989 nicht mit dem Siegen aufhören, das sei der Grund für die derzeit missliche Lage. Der Westen und das Siegen, Gysi ist immer noch der Terminologie des Kalten Krieges verhaftet. In der friedvollen Stimmung des Abends fällt es nicht ins Gewicht.

Es lasse sich eine klare Linie ziehen aus der Nach-Wende-Zeit bis in die Gegenwart. Der Jugoslawien-Krieg war der Sündenfall weil er ein klaren Bruch des Völkerrechts war, dem weitere Brüche folgten. Zur Entstehung des Krieges auf dem Balkan, zu den gescheiterten Friedensverhandlungen kein Wort. Zum Hinterfragen ist niemand ins Kloster Walkenried gekommen.

Aber dann entdeckt Gregor Gysi dann doch, dass auch er seit 1990 zum Westen gehört. Bei aller Kritik an der Europäischen Union müsse man diese Institution doch retten. Nicht zuletzt die Entsolidarisierung in der Griechenland-Krise zeige Handlungsbedarf.

Parteiübergreifenden Handlungsbedarf gibt es für Gregor Gysi im Kampf gegen den Rechtsextremismus. Wie der aber aussehen könnte, dazu kommt kein einziger Nebensatz. Überhaupt ist der gesamte Abend konkret Unkonkret. Alle drei Diskutanten stochern größtenteils im Nebel. Sie machen Andeutungen und setzten voraus. Deutlich wird dies bei der "Schwerter zu Pflugscharen"-Aktion", nicht ein erläuterndes Wort, aber immerhin liegt das Ereignis mittlerweile 33 Jahre zurück und fand auch nicht im Westen statt.

Gregor Gysi hat immer einen  Gedanken parat
Das ist das Dilemma. Schütt, Schorlemmer und Gysi verharren in den Verhaltensmustern der DDR. Dort genügte die Andeutung und alles war klar. Die Kritik fand meist im still Mitgesagten statt. Zuhörer aus der Generation U 40 hätten wohl Probleme, das Nichtgesagte zu verstehen. Doch deren Vertreter sind dem Abend sowieso fern geblieben.

Dann wird Gysi doch noch konkret: "Der Kapitalismus kann nicht die letzte Antwort sein", lautet sein Credo und damit erntet er noch nicht einmal Widerspruch. Aber die gesamte Linke kümmere sich leider zu wenig um wirtschaftliche Themen.

Aber dann geht es ans Eingemachte. Woran ist die DDR gescheitert? An der Mittelmäßigkeit und daran, dass sie die Intellektuellen verjagt hat, nach der Phase der Utopie und des Aufbaus. In den 70er Jahren gab es im Wsten die Floskel dass der Kommunismus ja eine tolle Sache sei, die Menschenheit dafür aber noch nicht reif genug. Gysis Diktum erinnert fatal an die Phrase. Was ein System wert, für das die Menschen nichts taugen, diese Frag stellt Gysi nicht. Die Goethische Genie-Theorie paart sich mit Hegelscher Dialektik.

Aber Gysi spricht auch vor den anderen Lebenslügen der DDR und zeigt damit, dass er weiter ist in der Trauma-Therapie als viele seiner Genossen. Da ist die Lebenslüge des Anti-Faschismus. Auf der einen Seite war der aktive und historische Kampf gegen die Nationalsozialisten ja Rechtfertigung für die DDR und Gysis Vater Klaus selbst Widerstandskämpfer, auf der anderen Seite haben viele Nazis ihren Weg in die SED gefunden.

Zum Schluss gab es Schierker für alle.
Alle Fotos: tok
Aber Gysi schafft auch den Sprung in die Soziologie. Bis zu ihrem Ende hätte die DDR die Verhaltensmuster der 50er Jahre konserviert. Es war ein Gesellschaft ohne Dynamik und die Führung orientierte sich an den proletarischen Ansprüchen der 20er Jahre: Arbeit, satt, Dach überm Kopf.

Friedrich Schorlemmer bleibt es überlassen, über den Umgang mit dem Mangel und den Repressalien zu berichten. Er spricht vom Wert des Zweifel und vom Unwert des Verzweifelns, davon, dass es auch gut sein kann, Gott zu zweifel. Gefährlich sein lediglich der Nichtzweifel, das ist ein Satz wie fürs Poesie-Album. Schorlemmer berichtet von den vielen Begegnungen mit der Staatsmacht, auch von den Begegnungen mit Klaus Gysi. Er spricht von dem fein austarierten Systemen, von den vielen Nebenbedeutungen des Nichtgesagten, von einem Katz und Maus-Spiel, bei dem niemand den anderen wirklich weh getan hat.

Er bestätigt den Ruf der DDR als Nischen-Gesellschaft. Aber auf dem Podium sitzen ja keine Soziologen oder andere Wissenschaftler, sondern drei älterer Herren, die sich über das unterhalten, was den größten Teil ihres Lebens ausgemacht hat. Da sind Zeugen und nicht die Richter auf der Bühne, das ist kein Historiker-Konvent.

Darin liegt der Reiz der Veranstaltung: eine nette Plauderstunde über die Vergangenheit. Es fehlen nur noch ein Kamin, drei Gläser-Whiskey und der Satz, dass unterm Honecker doch nicht alles schlecht war.
      


Das Interview mit Gregor Gysi
Gregor Gysi bei wikipedia

Friedrich Schorlemmer bei wikipedia

Co-Autor Hans-Dieter Schütt bei wikipedia
"Glücklich beschädigt", Schütts Autobiographie beim perlentaucher

Das Buch "Was bleiben wird" beim Aufbau Verlag und bei google books


Das Programm der Kreuzgangkonzerte

Samstag, 4. Juni 2016

Es gibt keinen Wege zurück in den Kirschgarten

Christian Doll verabschiedet sich mit Tschechow-Stück von den Domnfestspielen


Seit 2012 ist er künstlerischer Leiter der Domfestspiele, doch im Herbst wird sich Christian Doll  aus Gandersheim verabschieden. Mit Anton Tschechows „Der Kirschgarten“ bringt er seine achte Produktion auf die Bühne vor der Stiftskirche. Bei der Premiere am Donnerstag zeigte er, dass die Vergangenheit nicht als Idylle taugt. Die poetische Inszenierung präsentiert Handelnde, die in Zeiten des Wandels zu Zuschauern werden.

Schon die erste Szene verzaubert. Im Bühnenbild von Sandra Becker sind Möbel wie bei einem Umzug planlos verteilt. Die dezenter Hintergrundmusik gehört in die Kategorie “Ambient” ist aber elektronisch kühl. Requisiten und Darsteller sind in Plastikfolie eingeschweißt und nur schemenhaft zu erkennen. Erst klettert Dominika Szymanska als Dienstmädchen Dunjascha aus ihrem Kokon, dann enthüllt sich Gunter Heun und das Spiel beginnt.

Ljubow Andrejewna kehrt nach Hause zurück,
um zu retten, was nicht zu retten ist.
Das Motiv des “Folie abreißens” wiederholt sich am Abend mehrfach. Es steht für Auspacken der Vergangenheit ebenso wie für das Freilegen der verborgenen Seelen. Mit diesem Kunstgriff gelingt Doll ein Einstieg mit überzeugender Metaphorik. Diese dunkle Lyrik hat nichts mit Schmetterlingen gemeinsam.

In der Rolle der Charlotta Iwanowa steht Franziska Becker für die strahlenden Seite der Poesie. Wie eine  Zauberfee taucht sie auf, vollführt Magiertricks und entschwindet ohne bleibende Spur. Das ist eine Essenz dieser Inszenierung. In ihrem Hauptberuf als Gouvernante ist die Iwanowa überflüssig geworden, da ihr Zögling Grischa schon vor Jahren starb, aber niemand hat ihr gekündigt. Sie ist nur Erinnerungsstück an ein verlorenes Paradies.

Das andere Erinnerungsstück ist der Kirschgarten, der Garten Eden, dessen Verlust nun droht. Das einstige Prunkstück ist zwecklos geworden. Niemand weiß mehr, wie man sein Früchte gewinnbringend verarbeiten kann. Als Diener Firs die alten Fähigkeiten, wieder entdeckt, ist es längst zu spät.

Irgendwo in der russischen Provinz um 1900: Die Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna Ranjewskaja muss nach Hause zurückkehren, weil ihre Tochter Anja um Hilfe gerufen hat. Das Hab und Gut der Familie ist bedroht. Nach dem Tod ihres Sohnes hatte sich Ranjewskaja mit ihrem jüngeren Liebhaber nach Paris abgesetzt. In der Zwischenzeit hat ihr Bruder Leonid Andrejewitsch Gajew das Gut heruntergewirtschaftet und das Vermögen verprasst. Es droht der Konkurs.

Alle leiden an Beziehungsunfähigkeit.
Alle Fotos; Hillebrecht
Die einzige Rettung ist der Kaufmann Lopachin. Der ehemalige Leibeigene der Ranjewskaja ist zu Geld gekommen. Er möchte den berühmten Kirschgarten der Familie kaufen, in Parzellen zerlegen und Ferienhäuser errichten.  Doch  Ranjewskaja und ihr Bruder wollen davon nichts hören. Sie geben sich lieber weiter ihren Gefühlen und Sehnsüchten in und schwelgen in Erinnerungen und Liebesträumen. Am Schluss kommt alles unter dem Hamme. Die Gutsbesitzerin kehrt zu ihrem Liebhaber nach Paris zurück und die Familie zerfällt in lauter Einzelteile. Jeder geht allein seines Weges. Nur Firs bleibt zurück. Man hat ihn einfach vergessen.

In Deutschland ist Tschechows letztes Werk als Satire über hoffnungslose Träumer interpretiert worden. Dabei fiel es ab 1906 der Zensur im zaristischen Russland zum Opfer. Die Angriffe auf die alte Oberschicht waren zu deutlich. Erst die Wiener Inszenierung von Peter Zadek legte alle Schichten dieser Farce frei. In der Zeit eines radikalen Umbruchs sind die alten Eliten nicht in der Lage, die Situation richtig zu erfassen und sich mit den Aufsteigern zu arrangieren. Der Adel verschwindet zu Recht.

Doll setzt andere Schwerpunkte. Er verlegt die Gründe für das Scheitern in den Bereich des Persönlichen. Seine Inszenierung zeichnet sich durch feine Psychogramme. Auf der Bühne stehen Existenzen, die zumeist in die Kategorie “gescheitert” fallen und dienicht aus ihrer Haut können. Selbst der Aufsteiger und Modernisierungsgewinner Lopachin braucht lange, bis er sich aus den Verhaltensmuster eine ehemaligen Untergebenen lösen kann. Mehr durch Zufall als mit Absicht wird er zum Schluss der neue Herr auf dem Gut.

Trofimow schwingt gern große Reden.
Alle Fotos; Hillebrecht
Dolls Anti-Helden haben noch einen zweiten Defekt. Sie sind emotionale Autisten. Keiner von ihnen kommt mit seinen Gefühlen klar und niemand ist in der Lage sich zu binden. Trotz gegenseitiger Liebe können weder Warja  und LTroopachin zueinander, noch werden Anja und Trofimow ein Paar. Letzter betont ja immer wieder, dass er über der Liebe stehe.

Für seine Inszenierung hat Christian Doll noch einmal in die Vollen gegriffen. Dafür spricht schon die Besetzungsliste. Mit Luise Schubert, Alice Susan Hanimyan, Christine Dorner, Gunter Heun, Mario Gremlich, Dirk Weiler und Moritz Fleiter setzt Doll auf Mimen, die unter seiner Ägide in Gandersheim einen bleibenden Eindruck hinterlassen haben.

Doch die zentrale Figur ist Martina Maria Reichert. Bei ihrer Rückkehr nach Bad Gandersheim zeigt sie eine Gutsbesitzerin, die selbst nicht weiß, wo sie hingehört. Der Tod ihres geliebten Sohns Grischa hat sie aus der Spur geworfen und auf eine rasante Abwärtsfahrt gebracht.

Reichert legt alle widersprüchlichen Schichten dieser Figur frei. Die Verklärung der Vergangenheit, die Unfähigkeit der Gegenwart, die Furcht vor der Zukunft und die Unfähigkeit zur Bindung. Alles zusammen mündet in einem Wechselbad der Gefühlsausbrüche von Verzweiflung bis Raserei. Reichert verleiht der Psyche einer Enttäuschten eine Transparenz, die fast schon weh tut. Das ist theatralische Schwerstarbeit, die sie dennoch filigran bewältigt. Für ihr Elende findet sie viele Worte, aber nicht die passenden. Das wird deutlich, als sie, ihr Bruder, Dauerstudent Trofimow und Lopachin quälend lang anschweigen.

Trofimow will Anja aus dem gewohnten Trott heraus-
reißem. Foto: Hilllebrecht
Ebenso überzeugend agiert Gunter Heun in der Rolle des Kaufmanns Lopachin. Vom anfänglichen Selbstzweifel über Wutausbrüche bis zur selbstbewussten Inbesitznahme zeichnet er die Emanzipation das Aufsteigers glaubwürdig nach.  Dabei kommt ihm seine Körperlichkeit und seine Präsenz zu gute und vor allem seine vokale Kunstfertigkeiten. Wie kaum ein anderer kann Heun seine Stimme in allen Tonlagen und Lautstärken einsetzten, vom Flüstern bis zum Brüllen. Damit ist er sowohl Bittsteller wie auch Berserker zugleich. Seine rasende Umgestaltung der Bühne gehört zu den eindruckvollsten Szenen.

Die Beziehungsunfähigkeit aller Beteiligten kristallisiert sich in der Person der Pflegetochter Warja. Das beeindruckende Spiel von Alice Susan Hanimyan ist ein einziger stummer Schrei nach Liebe. Das fehlende Echo führt zu rasenden Gefühlsausbrüchen, die die Spirale der Ablehnung nur noch weiterdrehen. Schon in der ersten Szene wirdihr Leiden an der Distanz deutlich. Sie muss ihre Stiefschwester Anja geradezu zu zärtlichen, unterstützenden Berühungen nötigen. Dieses Motiv des erzwungenen Handauflegens taucht mehrmals auf. Es ist in Dolls Inszenierung das Handlung gewordene Symbol für die Beziehungsunfähigkeit.

Der Umgang mit dem Wandel, das Bewältigen von epochalen Herausforderungen, dies ist das Thema von Tschechows Werk. Christian Doll und Dramaturg Florian Götz zeigen die Parallelen zur aktuellen Weltlage und zu aktuellen Handelnden oder Nicht-Handelnden immer wieder auf.  Dies gelingt ihnen auf eine Art, die nicht belehrend daherkommt. Deutlich wird dies, wenn die Schauspieler die Regie übernehmen und mit der Tontechnik in Dialog treten

Diese Inszenierung schafft beides: Sie verzaubert mit einer ganz eigenen Poesie und sie ist dennoch eine eindeutige Aussage zur Jetztzeit. Moralisieren und Reden statt Handel und Personen, die wie aus dem Sammelalbum der Generation Y wirken.



Der Spielplan der Gandersheimer Domfestspiele
Das Stück in der Eigenbeschreibung

Der Kirschgarten bei wikipedia