Donnerstag, 7. November 2024

Viel Abwechslung mit nur einem Instrument

Vier Cellisten beim Kammerkonzert im Kunsthaus

Wer Piazzolla spielt, kann kein schlechter Mensch sein. Schon gar nicht, wenn´s gleich zweimal Piazzolla ist. Bis es soweit ist, darf das Publikum einige andere Highlights beim Kammerkonzert der vier Cellisten im Kunsthaus Meyenburg erleben.

Das Programm ist zweigeteilt. Vor der Pause gibt es bedächtige Romantik, nach der Pause wird es rhythmusbetont. Kein Grund zur Besorgnis: Das Cello schafft das schon. Das Instrument und das Ensemble bringen dafür ausreichend Potential mit.

Erst klassisch, ....

Den Auftakt macht Joseph Haydn und sein "Divertimento in D-Dur". Dies hat er einst für eben die Besetzung des Abends geschrieben, für vier Celli. Im zweiten Satz ist das Quartett das erste Mal gefordert. Das Allegro di molto verlangt ein präzises Zusammenspiel, damit der Dialog der Instrument funktioniert und er funktioniert.


Im Allegretto des anschließenden Menuetts zeigt Sebastian Hennemann, dass ein Cello tanzen und hüpfen kann. Das sorgt für wohlwollendes Nicken im Publikum. Im Finale darf Melissa Hart den Part übernehmen, den man wohl als Solo bezeichnen könnte, wenn man so etwas in diesen Kollektivwerk ausmachen darf. 

Danach wirkt "Elsas Brautgang zum Münster" aus Wagners Lohengrin als Spaßbremse. Aber ein Kammerkonzert gibt es eben nicht ohne kalkulierte Innerlichkeit. Dies zeigt sich später noch einmal beim Ave Maria von Fitzenhagen.

Dagegen ist der Konzertwalzer von eben jenem Wilhelm Fitzenhagen ein Aufputschmittel für Musiker und Zuhörer. Schon die Einleitung verlangt flinke Finger und mit vielen Noten im Achtel-Bereich und zahlreichen Tempowechsels geht es weiter.

Dvorak hat Unrecht, das ist nichts von wegen oben kreisen und unten brummen. Im dritten Satz des Konzertwalzers entlockt Hennemann seinem Instrument einen glockenklaren Klang, der an Transparenz nix vermissen lässt und das Publikum in höhere Sphären trägt, aber nur ganz kurz. das überraschend kraftvolle Pizzicato holt das Auditorium zurück auf das Parkett im Kunsthaus. 

Ein ähnliche Herausforderung ist die "Polonaise de concert in d-Moll" von David Popper. Das Werk für vier Celli ist ein Kessel Buntes, was die Tempi anbelangt, und ein Hochgeschwindigkeitsstück, das den Musikern und den Zuhörern sichtlich Freude bereitet

... dann wird es rhythmisch ...

In seinem "Quartett A-Dur" hat Jacques Offenbach seine Freude an der Abwechslung in Noten gegossen. Es zeichnet sich durch ein reiches Spiel mit den Formen und Techniken aus. Das Ensemble hat die Möglichkeit, sein Können zu zeigen und es nimmt die Einladung gern an. Vor allem lotet das Werk den vollen Tonumfang der Celli aus.

Davon profitiert das "Oblivion" von Astor Piazzolla eindeutig. Im Lento führen Matthias Weicker und seine Mitspieler zu dem, was der Titel verspricht. Die Welt vergessen, nix ist mehr wichtig außer der Musik. So wird der Abend zu einer Urerfahrung.

Aber Astor Piazzolla steht für Tango und für Tempo. Davon gibt es beim "Adios nonino" reichlich. Tango ist die gelungene Mischung von Ekstase und Melancholie und die vier Cellisten zeigen an diesem Abend im Kunsthaus Meyenburg, dass das Cello dafür das beste Instrument ist, besser als Violine oder Bandoneon Weil das Cello nämlich alles kann.  Denn beiden anderen Instrumenten geht jener dunkle Unterton ab, der so typisch ist für die Grundeinstellung des Tangos. 

Unten brummt das Cello melancholisch und dann macht Sebastian Hennemann diesen ganz bestimmten Aufwärtsstreicher. Mit einer Bewegung geht es aus den Mitten bis ganz nach oben. Das nimmt den Druck, es erleichtert und macht froh und zuversichtlich. So ist Tango.

Diese besondere Eigenschaft haben auch die beiden Musikpädagogen Eduard Pütz und Franz Haldenberg erkannt und mit dem "Tango passionata" und der "Rumba" Werke geschrieben, die die Fähigkeiten des Cellos außerhalb der klassischen Musik ausnutzen. eerzeile

... und zum Schluss heavy

Das Publikum erklatscht sich an diesem Abend zwei Zugaben und die zweite überrascht sehr. Matthias Weicker zeigt, der Klassiker "Nothing else matters" von Metallica in der Version für Streicher punkten kann. Er entlockt der Ballade Nuancen, die man den Schwerstmetallern gar nicht zugetraut hat. Dabei profitiert das Ensemble davon, dass man Celli auch als Rhythmusgruppe einsetzen kann. Man muss sie nur zu spielen wissen. Alles andere ist wieder "Welt vergessen, der Musik hingeben", denn nothing else matters. 

Das nächste Kammerkonzert im Kunsthaus Meyenburg findet am 15. Januar 2025 statt. Ab 19.00 Uhr steht dann die Querflöte im Mittelpunkt.

 




Montag, 4. November 2024

Eine Inszenierung auf Tratsch-Niveau

 Im DT Göttingen bleibt "Der junge Mann" an der Oberfläche

Zu viel Narrativ, zu wenig Analyse. Die Inszenierung von Jette Büshel leidet an Oberflächlichkeit. Die Figuren werden nicht ausgelotet. Deswegen war die Premiere von "Der junge Mann" am 3. November zwar unterhaltsam, ging aber nicht unter die Haut. Das ist schade für das Ein-Personen-Stück auf der Studio-Bühne.

In der autofiktionalen Erzählung "Der junge Mann" berichtet Annie Ernaux von ihrer zurückliegenden Beziehung zu einem 30 Jahre jüngeren Mann. Das Buch liegt seit dem Frühjahr in deutscher Übersetzung vor und postwenden haben Jette Büshel und Michael Letmathe ein Stück für das DT Göttingen draus gemacht.

Strube bereit zur Berichterstattung.
Alle Fotos: Lenja Kempf/DT GÖ
Der erste Ansatz verpufft gleich. Seit der Ehe von Brigitte Trogneux und Emmanuel Macron haben Beziehungen zwischen älteren Frauen und jungen Männer so gar nix skandalöses mehr an sich. Auch das Duo Klum-Kaulitz hat null Skandal-Faktor.

Das Werk von Annie Ernaux spielt Mitte bis Ende der 90-er Jahre. Da war die Aufregung über solch eine Beziehung noch eine andere. Soziologisch gesehen damit ist es eher ein Historienstück und damit wäre ein Psychogramm das Gebot der Stunde gewesen. Doch die Motivation der Beteiligten an dem einst außergewöhnlichen Treiben und die Konsequenzen schimmern in  der Textflut nur gelegentlich durch.

Auf Augenhöhe

Das Publikum und die Schauspielerin begegnen sich auf Augenhöhe in der Bistro-Atmosphäre des DT-Kellers. Schon der Start ist auf Plauderei angelegt. Andrea Strube trägt Business-Dress und mit dem Textbuch vor sich, wirkt sie so, als wollte sie mal so eben zwischen zwei Crémants einen Geschäftsbericht abgeben.

Sie berichtet aus der Retrospektive, dennoch erfährt das Publikum nicht, wie das erste Treffen zustande kam und von wem die Initiative ausging für die Affäre. Das Wort passt schon, denn es gibt wohl immer noch einen Ehemann und anfangs eine Lebensgefährtin.

Es ist ein wenig die Rede von verliebten Spielchen im hohen Alter und jedem Menge Sex. Soll der Aufreger darin bestehen, dass auch Menschen über 50 noch Geschlechtsverkehr haben? Dreiviertel des Publikums wissen das ohnehin, denn sie haben diese Altersgrenze längst hinter sich gelassen. Das andere Viertel quittiert diese Tatsache mehrfach mit einem Kichern auf Backfisch-Niveau.

Liegt es an den Schmetterlingen im Bauch? Auf jeden Fall ist Andrea Strube als Ich-Erzählerin ständig unterwegs zwischen Bühne und Parkett. Die Grenze zwischen Akteurin und Zuschauern aufzuheben ist ein probates Mittel, aber es wirkt besser, wenn es dosiert eingesetzt wird. Es erschließt sich nicht immer, warum die Schauspielerin nun jetzt schon wieder ihren Platz verlässt. Was macht sie am Tresen. Ahhh, sie holt sich eine Limonade. Die Strandszene wird dreifach durchgespielt und damit künstlich in Länge gezogen, ohne neue Perspektiven zu liefern.

Was möchte die Regisseurin dem Publikum damit sagen? Sex mit 54 Jahren sorgt für ADHS bei Seniorinnen? Da hilft auch der große Schluck aus der Rotweinflasche nicht. Die Autorin teilt durchaus intime Momente mit der Leserschaft und dem Publikum. Doch die Inszenierung kennt keine stillen Augenblicke. Da helfen auch die wenigen Kunstpausen nicht.

Die Geschichte der älteren Frau, die mit einem Mann ins Bett geht, der ihr Sohn sein könnte, ist nach 30 Minuten auserzählt. Spätestens jetzt müsste Analyse kommen und die tieferliegenden Schichten frei gelgelegt werden. Es geht immerhin um Traumata, Vergangenheitsbewältigung, Abhängigkeiten und  Machtgefüge und das was, man heute gern Identität nennt. In diesem Bereich wirkt die Selfmade-Frau als Anachronismus zu den Konzepten der Jetztzeit, die sklavisch an Herkunft, Geschlecht und Hautfarbe hängen

Machtverhältnisse geändert

Nicht der Tratsch ist das Sensationelle am "Jungen Mann", sondern die Tatsache, dass Annie Ernaux offen zugibt, ihn, den Namenlosen, benutzt zu haben. Sie dreht die Machtverhältnisse um. "Alter Mann benutzt junge Frau" kennt man zu Genüge. Hier läuft es eben anders herum. Der Kern der Erzählung liegt im offenen Umgang der Autorin mit ihrem Zweckverhältnis.

Kühle Berechnung statt Altersromantik ist das Thematik von Ernaux und nicht die Schmetterlinge im Bauch. Den Anderen zum Werkzeug der Eigentherapie zu machen, dies ist das Innovative an diesem Bericht aus den 90-er Jahre. Das Publikum muss sich dies aber selbst erarbeiten, wenn es der Tratsch-Ebene entfliehen will.

Da ist nix mit Augenhöhe und nix mit "über sich keine Herren und unter sich keine Sklaven sehen". Ganz im Gegenteil. An seiner ärmlichen Herkunft zelebriert sie noch einmal ihren Aufstieg aus dem Proletariat in die Belle Etage des Literaturbetriebs. Sie erfreut sich an seinen mangelhaften Tischmanieren, um sich die eigene Noblesse zu verdeutlichen. Mit den Ausflug in sein studentisches Milieu verarbeitet sie die Defizite ihrer Jugend, doch seinen Aufstieg aus den Banlieues befördert sie nicht. Es gehört nicht zum Plan der Ich-Erzählerin Klassenschranken zu überwinden, immerhin das wird klar. Es könnte aber deutlicher herausgearbeitet werden, dass solch ein Verhalten eben nicht mehr männliches Privileg ist.

Warum steht Strube am Tresen? Will sie
Getränke holen? 
Alle Fotos: Lenja Kempf/DT GÖ
Die Trennlinie in diesem ungleichen Paar ist nicht das Alter. Es ist der soziale Status. Kommt der Bruch schleichend? Hat der junge Mann seine Schuldigkeit getan und kann gehen? Was motiviert ihn zu diesem Verhältnis, das zumindest einmal als inzestuös bezeichnet wird? Die Dramaturgie gibt keine Antworten und wer es wissen will, muss eben in die Vorlage schauen.

Auch das Licht schafft es nicht, Akzente zu setzen. Der gesamte Raum ist auf Bistro-Beleuchtung geschaltet. Das gibt die Möglichkeit, die Reaktionen des Gegenübers und der Mitseherin zu registrieren. Das ist durchaus besichtigt. denn soziale Kontrolle und die Reaktionen der Gemeinschaft auf solch ein ungleiches Paar sind Bestandteil des Werks.;

Schnelle Bewegungen, raumgreifende Gesten, eine flotte Mimik und verstohlene Blicke, die Mitwisserschaft herstellen wollen. Andrea Strube gibt der Inszenierung die passende Figur. Doch was fehlt, ist das Spiel mit der Stimme, die leisen Töne. Deswegen fällt es schwer Empathie herzustellen. Selbst die Erzählung über die illegale Abtreibung in den 60-er Jahren wirkt wie ein Geschäftsbericht. Trotz aller Betriebsamkeit fehlt der Inszenierung damit die Lebendigkeit.  Wie heißt es so schön am Anfang des Stücks? Mit den Erwartungen ist es so`ne Sache.



   

 

Sonntag, 3. November 2024

Loh-Orchester nutzt die zweite Chance

 Ballett Compagnie macht einen Riesenschritt

Mit "Friedrich" und "Le Sacre du Printemps" machen Ivan Alboresi und sein Ensemble einen weiteren großen Schritt in der Entwicklung. Der Doppelabend zeigt nicht nur den State of Art im Tanztheater, sondern gibt auch die Richtung für die Zukunft vor. Das Loh-Orchester nutzt die Zweitaufführung für die Wiedergutmachung.

Nach der Premiere sah sich das Orchester unter der Leitung von Julian Gaudiano harscher Kritik ausgesetzt. TA-Rezensent Wolfgang Hirsch schrieb in seiner Besprechung sogar von unprofessionellem Verhalten und brachte damit Intendant Daniel Klajner auf die Zinne und das Orchester in Erklärungsnöte. 

Noch ist das Individuum oben. 
Alle Fotos: Ida Zenna/TNLos

Die Kritik hat geholfen. Bei der Zweitaufführung zeigte sich das Orchester von seiner glänzenden Seite. Der Klang war strukturiert und filigran. Jede Gruppe war deutlich zu erkennen und gerade die zuvor abgewatschten Streicher konnten überzeugten. Als Beleg diente das Pizzicato im 2. Satz von Beethovens 4. Sinfonie. 

Nur bei der Lautstärke gibt es noch Optimierungspotential. 3 dB weniger wären mehr, das gilt vor allem für den zweiten Teil des Abends, als sich die Paravents öffnen und sich das Orchester mit voller Kraft in den Vordergrund drängt. 

Hauptsache Ballett

Mit seiner Choreographie "Friedrich" macht Ivan Alboresi das, was er am besten kann, nämlich Grenzen verschieben. Dabei ist die Ausgangssituation nicht einfach. Zwar liegen Ludwig van Beethoven (1770) und Caspar David Friedrich (1774) nur wenige Jahre auseinander. Aber sind sie deswegen Zeitgenossen? Der Komponist gilt als Vollender der Klassik, der Maler als Wegbereiter der Romantik. Der Mann aus Bonn als Hohepriester klanglicher Urgewalt, der Mann aus Greifswald als schönheitstrunken entrückt.

Alboresi und Gaudiano lösen den Widerspruch, indem sie auf Beethovens ein wenig vergessene 4. Sinfonie setzen. Zu Beethovens Lebzeiten war es sein populärstes Werk wegen seiner gelegentlichen romantischen Anklänge. Betonung liegt auf gelegentlich.

Das war es dann auch schon mit Romantik. Die Bühne und die Kostüme von Yoko Seyama verzichten auf Rüsche und Tütü. Die Kleidung wirkt Arbeitskleidung in karstweiß, die gelegentlich mit schwarzen Accessoires ergänzt wird. Das Bühnenbild ist einfach. Nur eine Projektionsfläche grenzt die Tanzfläche gegen die Hinterbühne ab.

Dazu kommt das Licht, das mehr verbirgt als zeigt. So korrespondiert das optische Konzept durchaus mit den häufig nebulösen Bildern, die hier vorgestellt werden. 

Starre Bewegung

Temporäre Bewegung zur Musik ist das Mittel des Balletts. Malerei ist auf alle Zeiten starr. Wie bringt man dies in Einklang? Alboresi wagt die Melange zwischen Erzählballett und Ausdruckstanz. Es ist wie ein Besuch im Atelier, ein getanztes work in progress. Erst darf das Publikum an der möglichen Gefühlswelt des Malers teilhaben, dann tauchen die Figuren auf, die als lebende Bilder den Abschluss jedes Satzes bilden werden. Das Konzept ist einleuchtend und es entwickelt sich Vorfreude auf das fertige Bild. 

Die Choreographie ist modern dance durch und durch. Der Verzicht auf klassisches Ballett, die Absenz von Spitze und Arabesque, transportiert die Choreographie in die Gegenwart. Friedrich gilt mit der Entwicklung der Perspektive als Entdecker des bürgerlichen Individuums in der Malerei des 19. Jahrhunderts und Alboresi und sein Publikum begeben sich auf diese Spur. Bisher lag die Stärke des Nordhäuser Ballettdirektors im organischen Ganzen, im wogenden Ensemble, das ein Gesamtwerk abgibt. Nun lässt er lauter Einzeltänzer auftreten, lauter Individuen, die erst in der Summe, also kurz vor dem Ende des jeweiligen Satzes ein Gesamtbild abgeben.

Die raumgreifenden Bewegungen bisheriger Inszenierungen werden eingedampft und die Gruppenszenen auf ein Minimum gebracht. Der Pas de deux im zweiten Satz ist Bewegung gewordene Innerlichkeit. Damit erweitert Alboresi seine Sprache und das Publikum profitiert davon. Fast zwangsläufig  muss die Uraufführung mit dem Wanderer über dem Nebelmeer, dem Sinnbild der schönheitstrunkenen Innerlichkeit deutscher Romantik enden. Das dynamische Solo von Thomas Tardieu bewahrt das Publikum zum Glück vor zu viel Sentimentalität.

Schluss mit Romantik

Der Expressionismus beendete die Phase der künstlichen Innigkeit in Malerei und Musik und damit entspricht Strawinskys "Le Sacre du Printemps" als zweite Choreographie an diesem Doppelabend einer gewissen Logik. In seiner Erzählweise kehrt der Ballettdirektor wieder zu seinen gewohnten Mitteln und Themen zurück. Das Ensemble als wogender Organismus auf der Bühne im Streit mit der Solistin. Denn das Thema ist das Individuum, das Kollektiv und der Konflikt.

Ungeschliffen und archaisch, Strawinsky verstand seine Musik schon als Affront gegen das Artifizielle, das Gekünstelte des Fin de Siècle und der Jahrhundertwende. Dennoch ist die Alboresis Choreographie ein Kommentar zur Jetztzeit. Die Digitalmoderne ist genauso gekünstelt wie das verlängerte 19. Jahrhundert. Es heißt bloß nicht artifiziell sondern virtuell. Egal auf welchem Ende des Hufeisens man sich befindet, Mythen und gefühlte Wahrheiten haben die Realität längst verdrängt.

Dazu steht das die Eigenständigkeit des Individuums immer stärker unter Druck. Den ersten Ansatz verdeutlicht das Bühnenbild von Yoko Seyama. Die Reihen farbiger LED-Leuchten erinnern an die Requisiten-Computer der katastrophenfilme aus den 80-er und 90-er Jahren. These Nummer gewinnt im Opfer menschliche Gestalt.

Es ist eine Ringerzählung. Sie beginnt mit dem Auftauchen des mystischen Lichts und sie endet mit dem Verschwinden diese Leuchtkörpers. Dazwischen liegen viele lebende Bilder, die jene Konflikte zwischen dem Archaischen und dem Artifiziellen, zwischen Individuum und Kollektiv mit den Mitteln des Modern Dance augenscheinlich machen. 

Die Reduktion des Balletts lassen diese Trennlinien deutlich werden, weil es sich auf das Wesentliche konzentriert. Die Spannung zwischen dem Ursprünglichen und dem Gekünstelten setzt Alboresi in den Massenszenen immer wieder gefällige und einleuchtend um. Damit bietet der Doppelabend  "Friedrich" und "Le Sacre du Printemps" nicht nur einen ästhetischen Kosmos zum Thema Individuum, sondern er zeigt auch, dass Nordhausens Ballettdirektor und  seine Compagnie wieder auf dem Weg zu neuen Formen und Ausdrucksweisen sind. Man darfg gespannt bleiben, wo die Reise noch hinführen wird.

Die Termine

Die nächsten Aufführungen im Theater Nordhausen finden am 15. und 24 November und am 1. Dezember jeweils um 19.30 Uhr statt.  Ab Januar gibt das Ballett mehrere Gastspiel in Rudolstadt, dann aber ohne Orchester.