Donnerstag, 5. November 2020

Getanzter Zorn

Die Räuber zwischen Kain, Abel und Ödipus

Mit einer Räuber-Trilogie wollte Olaf Graf in sein Amt als Intendant des TfN starten. Nach Schauspiel, Oper, defekter Brandschutzanlage und geflutetem Theater feierte nun der letzte Teil des Triptychon Premiere im Ausweichquartier "Halle 39". Die Räuber-Choreografie von Marguerite Donlon lässt staunen und macht atemlos. 

Sie ist vor allem rasant und schnell, und bringt doch neue Perspektive. Donlon präsentiert eine neue Version von Kain und Abel und von der verlorenen Unschuld. Damit steht am Ende die Gewissheit, dass die Geschichten mit dem alten Grafen, seinen Söhnen und der schönen amalia nicht anders als tödlich ausgehen kann.

Franz hat den Vater in der Gewalt. 
Alle Fotos: Quast
Seelenleben oder Erzählballett? Innerlichkeit oder Action? Die Wahlberlinerin verknüpft in ihrer Choreografie beide Möglichkeiten und die vier Tänzer und Annick Schadeck als Amalia setzen dies einsdruckvoll um.  Das verwundert nicht, denn sie sind das Donlon Dance Collective

Doch ganz so einfach macht es Marguerite Donlon dem Publikum nicht. Ihr Franz ist gewalttätig und durch und durch böse. Aber Marioenrico D'Angelo liefert in dieser Rolle eine überzeugende Erklärung: Unerwiderte Liebe und Zurückweisung.

Der Liebesentzug durch den Vater verursacht konvulsivische Krämpfe. Es ist abrupte Bewegungen in viele Richtungen. Der ganz Körper zuckt und krampft. D'Angelo bringt den Schmerz auf die Bühne und das Publikum leidet mit. Es hätte nie gedacht, dass der Umgang mit der Requisite Brief solche Folgen haben können. 

Das Mienenspiel ist trotz MNS beeindruckend. Immer mehr Zorn mischt sich in das Gesicht. die entlädt sich in Gewalt gegen den Vater. Das Publikum wird Zeuge einer tänzerischen Folter. Laios hatte Glück, Ödipus tötete ihn sofort. Der alte Graf wird in Etappen sterben, das wird schnell klar.

Die Choreografie bipolar. Marguerite Donlon hat das Gewicht abermals verschoben. Sie rückt die Figur der Amalia stärker in den Fokus. In der blütenweißen Optik ist sie der Kontrapunkt zum schwarzen Franz. Ihr bleiben die raumgreifenden Bewegungen, die nicht ins Leere gehen, sondern immer wieder auf sie zurückführen. Da steckt jede Menge klassischer Ausdruckstanz drin, der kontrastierte zu den Jazz Dance-Elementen der Räuberbande.  

Amalia ist stärker als die Männer,
aber das hilft ihr nur bedingt. 


Damit liegen die Höhepunkte des Abends im Aufeinandertreffen von Amalia und Franz. Diese sind energiegeladen, die Spannung entlädt schlagartig. Dem Prinzip von Zorn und Gewalt stellt Annick Schadeck Selbstsicherheit und Entschlossenheit entgegen. doch dieses Spiel kann kein gutes ende nehmen. Es endet auch für Amalia tödlich.

Die Musik von Michio Woirgardt ist eine Mischung aus Industrial Beats und Klangcollagen. Satte Streicher werden von Textzitaten gekontert. Sie liegt irgendwo zwischen Laurie Anderson und Art of Noise und ist ein Motor in dieser bombastischen und atemlosen Choreographie. 

Doch die stärksten Momente sind die Momente der Stille, des Innenhaltens vor dem Abgrund. Es sind die Soli von Annick Schadeck, die Gänsehaut erzeugen und so in Erinnerung bleiben. 

Das vielschichtige Spiel spiegelt sich im Bühnenbild von Belen Montoliu wieder. Es sind vier Elemente aus Holz auf Rollen. Manchmal wirkt ihr Stangenwirrwarr wie ein Baumhaus als sicherer Beobachtungsposten und mal wie ein Gefängnis. Ineinander verschoben ergeben sie aber auch ein labyrinthisches Dickicht. Das ist ganz große Kunst.

Das einzige Manko? Der Zeitpunkt ist denkbar ungünstig für Tanztheater in der Klasse. Aber dafür kann das TfN nichts. 


Die nächsten Aufführungstermine sind noch nicht festgelegt.  

Sonntag, 1. November 2020

Flucht vor sich selbst

 "Die Winterreise" als Ballett im Theater Nordhausen

Meistens kommt es anderes als man manchmal denkt. Mit einer Aufführung von "Die Winterreise" als Ballettabend hat sich das Theater Nordhausen in die Winterpause verabschiedet. Dabei überzeugt die Choreographie von Ivan Alboresi owohl sie doch einige Längen aufweist. 

In diesem Jahr diktiert erstmal das Corona-Virus den Spielplan. Eigentlich wollte Alboreso die "Carmen" in Szene setzen, doch die zahlreichen Auflagen stoppten das Vorhaben. Doch "Die Winterreise" mit der Musik von Franz Schubert ist mehr als nur Ersatz. Sie passt besser in diese Zeit als die extrovertierte und erotische Carmen.

Mit der affektierten Larmoyanz und dem maßlosen Selbstmitleid in einer konstruierten Realität, die mit der Wirklichkeit nur bedingt deckungsgleich ist, ist die Winterreise die Vorlage für die aktuelle Gemütslage. Statt des grandiosen und tödlichen Finale der Carmen gibt es hier endloses Siechtum. 

Mal eine weibliche Perspektive: 
Gony ist die gefrorene Träne.
Alle Fotos: TNLos
Winterreisen gibt es viele. Auch die Lieder von Franz Schubert ist nur von mehreren zeitgenössischen Vertonungen der 24 Gedicht von Johann Ludwig Müller. Wie es sich für einen Schwerromantiker gehört, konnte er den Ruhm aber nur postum genießen. 

Alboresi schafft es, dem Standardwerk wichtig Ergänzungen hinzuzufügen. Mit dem Untertitel "Stationen einer Flucht" verschiebt sich die Perspektive auf das Seelenleben des Ich-Erzählers. Es ist nur schade, dass sich einige Stationen doch gleichen. Besonders in der zweiten Hälfte wirken einige Szenen redundant. Da unter den derzeitigen Bedingungen eine Pause zur Verarbeitung auf Seiten des Publikums nicht möglich ist, wäre eine Straffung durchaus ratsam. Denn anderthalb Stunden Seelenpein, das  ist schon ein Brett. 

Eigens für die Inszenierung in Nordhausen hat der Komponist Davidson Jaconello Klangcollagen und Electrobeats geschaffen. Diese transportieren die Inszenierung nicht nur 200 Jahre in Richtung "Jetzt". Diese Brücken in die Gegenwart sind auch wichtige Ergänzungen und Kontrapunkte zur traditionellen Instrumentierung. Hier kann sich das Ohr erholen von der Dominanz von Flügel und Bariton.

Dabei profitiert die Choreografie durchaus von der Tradition. Der Bariton hat die Rolle des Ich-Erzählers und Handlungsträger. Deswegen muss Alboresi keinen Gedanken an das Erzählballett verschwenden. Er kann sich auf das konzentrieren, was er am Besten kann und am Liebsten macht: Innere Zustände in Bewegungen umsetzen. 

Philipp Franke hat die Winterreise schon seitz längerem in seinem Repertoire. In dieser Zeit ist die Darbietung gereift. Franke ist nun in der Lage, seinen Bariton akzentuiert einzusetzen. Damit weiß er die schwankenden Stimmungen des Erzählers umzusetzen. Dadurch gewinnt die Winterreise deutlich an Tiefe.

"Stationen einer Flucht" und damit verwundert es nicht, dass das Ensemble immer wieder in Diagonalen über die Bühne hastet. Diese Zurschaustellung innerer Unruhe liegt auf der Hand. Aber ansonsten greift Alboresi in seiner Choreografie in gewohnter Weise auf den gesamten Fundus  tänzerischer Ausdrucksmittel zurück. Klassik trifft auf Moderne trifft auf Break Dance.


Die Grenzen zwischen Musik und Tanz verschwinden.
Alle Fotos: TNLos!
Klassisch drehen sich die Tänzer um sich selbst. Die Pirouetten in den weiten Mäntel wecken Assoziationen an die Derwische. Gelegentlich wird auch gesprungen.  Es sind gewissermaßen Pas de deux mit sich selbst. Das ist nicht nur den Corona-Bedingungen geschuldet. Das alleine zu machen, was sonst nur zu zweit klappt, auch das ist eine Aussage zur Zeit. 

Aber es findet eben auch viel auf dem Boden statt. und dann drehen sie sich auch wieder um sich selbst.

Dadurch gewinnen die Soli an Bedeutung und der Auftritt von Otylia Gony an der dritten Stationen bringt eine zusätzliche Ebene in die Rezeption. Seit der ersten Szene steht sie bewegungslos rechts hinten im Spotlicht. Nun tanzt sie mit sparsamen Platzverbrauch die gefrorene Träne. 

Genau genommen war die Winterreise bisher der Ego-Trip eines verkappten Machos. Junger Mann macht sich falsche Vorstellungen über eine Beziehung, enttäuscht macht er sich über alle Berge und singt anschließend der Welt von seinem verqueren Seelenleben vor. 

Dank Ivan Alboresi kommt nun die Verlassene zu Worte. Warum hat es zweihundert Jahre gedauert, bis endlich jemand fragt, was die Trennung bei der jungen Frau auslöst? Allein für diese neue Opfer-Perspektive gehört Nordhausen Ballettchef in den Olymp. 

Das Bühnenbild von Wolfgang Kurima Rauschning entblättert seine Stärken erst im Laufe der Vorstellung. Damit liefert es aber eine eigenständige Aussage. 

Grün trifft auf Schwarz, aber die Phase der
Hoffnung ist nur kurz.  Alle Fotos: TNLos!
Anfangs verstört es mit seiner sperrigen Do-It-Yourself-Optik. Das ist pure Klaustropobie gezimmert in 45 mal 75er Kantholz. Ab Station vier wird es im Gegenlicht zur Projektionsfläche und dann  öffnet sich die Kulisse Stück für Stück. Die Grenze zwischen Tänzer und Musiker verschwindet sukzessive bis Philipp Franke vom Sänger zum Akteur wird.

Doch die Öffnung retardiert. Die Kulisse senkt sich wieder häppchenweise und Zum Schluss herrscht wieder Klaustrophobie und Einsamkeit und ein Ich-Erzähler der in sich versunken in der Ecke hockt. 

Unterstützt wird dies durch das Farbkonzept der Ausstattung. Baut Birte Walbaum erst aus Schwarz mit einem Hauch weiß, so kommt zwischenzeitlich lindgrün dazu. Die schweren und weiten Romantikermäntel werden vom Tänzerdress abgelöst. Doch die Phase der Hoffnung ist nur kurz. Die Kostüme landen wieder im Monochromatischen. Die Schlussszene sieht Tänzerinnen und Tänzer im schwarzer Regen. Alles was bleibt ist Traurigkeit. 

Es ist fantastische Bilder, die das Ensemble in Tateinheit mit Ausstattung und Licht auf die Bühne des Theater Nordhausens bringen. Bilder, in die man als Zuschauer zu gern versinkt. Aber einige diese Bilder wirken wie Kopien ihrer selbst. Für die Post-Corona-Zeit wäre eine Straffung durchaus angebracht.  





    



 

 

Mittwoch, 7. Oktober 2020

Gegen Corona antanzen

Breites Spektrum bei der Ballettgala im Theater Nordhausen

Manchmal bringt die Not die besten Ergebnisse hervor. Das zeigte die Ballettgala im Theater Nordhausen. Der Schlussapplaus erreichte die Stärke der Vor-Corona-Zeit. 
Intendant Daniel Klajner und Ballettchef Ivan Alboresi begrüßten die drei neuen Mitglieder der Compagnie vor. Diese stellten sich dann mit eigenen Choreographien vor und nachdem Klajner seinen Ballettchef ausreichend gelobt hatte, gab dieser preis, dass er mindestens noch bis 2024 in Nordhausen bleiben wird. 
Spots brennen Lichtkreise auf den Tanzboden. Es sind Platzanweiser. Tänzer kommen auf die Bühne und wissen, wo sie hingehören. Nur so kann Ballett in den Zeiten des "Abstands halten" funktionieren und irgendwann ist das gesamte Ensemble auf der Bühne.
Den ersten Applaus gibt es, als alle ihre Masken aufsetzen. Tanztheater lässt sich nicht von einem Virus aufhalten. Das ist doch ein Statement. 

Es darf wieder getanzt werden.
Alle Fotos: Marco Kneise

Sind es wirklich nur Nummer, wie der Titel des Stücks nahe legt? Alboresi schafft es, aus dieser Ansammlung von einzelnen einen Corpus zu schaffen. Die Solisten finden sich mit den anderen Mitglieder des Ensemble immer wieder zu diesen organischen und wogenden Bewegungen zusammen, die so typisch für die Werke von Alboresi sind. 
Die zweite Choreographie ist der pure Kontrast. Immer wieder legt Luca Scaduto überraschende Wendungen hin, so dass man meint, ihm wären diese Bewegungen eben erst durch den Kopf geschossen. Es ist eine Choreographie, die mit ihrer Spontanität und Dynamik begeistert. 
Luca Scaduto ist Urgewalt und Naturtalent zugleich. Der 25-Jährige hat erst mit 18 Jahren mit dem Tanzen begonnen und seitdem einige bedeutende Wettbewerbe gewonnen. Allein schon sein Auftritt macht den Abend zum Gewinn. Choreografieren kann er wohl auch.

Corona-Zyklus


Hier Emotion, dort Ratio. Mit seinen fünfteiligen Corona-Zyklus wendet sich Ivan Alboresi vom Erzählballett ab und kehrt zu dem zurück, was er am allerbesten kann: Gemütszustände in Tanzschritte umsetzen. Dies geschieht aber mit analytischer Genauigkeit. Das fängt schon mit der Kostümierung an. Die Jogginghose ist zum universellen Kleidungsstück geworden. Lagerfelds Kontrollverlust lässt hier grüßen.
Die fünf Einzelteile beschäftigen sich mit den unterschiedlichen Phasen seit dem Ausbruch der Epidemie. In “Schau nicht zurück” wirkt Thibaut Lucas Nury überraschend introvertiert. Er verkriecht sich immer wieder in die Retrospektive, um am Ende dann doch den dunklen Raum zu verlassen. 
Man darf auch wieder zu zweit tanzen, zumindest Martina Pedrini und Joshua Lowe.
Alle Fotos: Marco Kneise

Martina Pedrini und Joshua Lowe zeigen in “Eins”, was die Krise aus einem Paar machen kann. Mit großen Gesten durchtanzen sie die unterschiedlichen Stadien, die Beziehung durchlebt, wenn man aufgrund äußerer Umstände ganz auf sich selbst bezogen und zurückgeworfen ist. Da steht der Wunsch nach Nähe und Unterstützung gleich neben der vorübergehenden Ablehnung des anderen. 
Ähnliche Phasen durchleben Camilla Matteucci und Urko Fernandes Marzana in “Strange feelings”. Hier treffen zwei nach langer Trennung wieder aufeinander. Es ist ein Abtasten und Hände reichen, auf die Abstoßen und wieder Näherkommen im Wechsel folgen.
Doch den stärksten Eindruck in diesem Zyklus hinterlässt Ayako Kikuchi mit “Zum letzten Mal”. Das ist getanzte Einsamkeit. 
Die anderen Neuen in der Nordhäuser Compagnie sind Alfonso Lopez Gonzalez und Kino Luque. Ihr Pas de deux “Inefable” beschreibt auch eine Zweierbeziehung. Dabei setzen die Spanier auf wohl überlegtes Licht und erzeugen ein Schlussbild, das sich wegen seiner Dringlichkeit ins Gedächtnis brennt. 

Der Ausblick

Im letzten Teil des Abends gibt es den kompletten Wechsel. Haben bisher elektronisch Klänge und Klangcollagen dominiert, ist der Ausblick ein Zurück in die tiefste Romantik. Im Zentrum der diesjährigen Ballettproduktion steht Schuberts “Winterreise”. vorgesehen war "Carmen", aber dann kam ja Corona dazwischen.
Inefable, unbeschreiblich: Kino Luque tanzt.
Foto: Marco Kneise


In der Ballettgala gibt es drei kurze Proben aus der "Winterreise". Es ist Erzählballett, dessen Opulenz im Kontrast zur sparsamen Musik mit Flügel und Bariton steht. Verbunden ist damit die Rückkehr zu klassischen Tanzelementen. Schuberts Alter Ego dreht eine Pirouette nach der anderen. Ist es Ausdruck seiner Verwirrungen und Verzweiflung? Oder tanzt er sich im wallenden Mantel wie ein Derwisch in die Trance? Beide Antworten bleiben bis auf weiteres zulässig.

Die nächste Aufführungen  ist am Samstag, 10. Oktober, ab 19.30 Uhr. Die Premiere des Balletts “Die Winterreise” ist am Freitag, 23. Oktober, um 19.30 Uhr im Theater Nordhausen.

Sonntag, 27. September 2020

Am Ende sind alle verzaubert

Eine fantastische "Fairy Queen" am Theater Nordhausen

Oper ist möglich und sie kann Spaß, sogar in Zeiten von Corona. Das ist die wichtige Botschaft, die von der "Fairy Queen" im Theater Nordhausen ausgeht. Regisseur Achim Lenz und der musikalische Leiter Henning Ehlert haben nicht trotz, sondern gerade wegen der Beschränkungen eine Inszenierung geschaffen, die eine eigenständige Aussage liefert. Dafür gab es bei der Premiere am Freitag donnernden Applaus.

Im Frühjahr schwächelte Lenz "Zauberflöte" noch an der Angst vor der eigenen Courage. Hier hat er nun konsequent gearbeitet und eine überzeugende Arbeit abgeliefert. So ist diese "Fairy Queen" keine weitere Adaption eines bekannten Stoffes. Auf der breiten Basis vieler Einflüsse ist eine eigenständige Interpretation eines Verwirrspiels mit neuen Perspektiven entstanden. 

Die Corona-Auflagen sind fast ein Zwang zur historischen Aufführungspraxis. Doch aus dem Zwang wird ein Gewinn. Das Orchester ist deutlich reduziert. Fünf Streicher, sieben Bläser und ein Cembalo. Diese ungewöhnliche Instrumentierung entspricht in etwa den Vorgaben, die Henry Purcell am Ende des 17. Jahrhunderts für seine Oper gemacht hat.

Das Dreigestirn: Fee, Kuchen und Handwerker.
Alle Fotos: Julia Lormis

Das Klangbild profitiert nur davon. So laufen die filigranen und einfallsreichen Kompositionen nicht Gefahr, in der Klanggewalt eines Symphonieorchester unterzugehen. Ganz im Gegenteil, so poetisch und zart muss es einst im Feenwald geklungen haben, Dafür sorgen die Hölzer. Das wird schön kontrastiert mit dem barocken Stolz der Blechbläser. 

Die aktuelle Sperrung der Orchestergräben ist ein weiterer Schritt hin zur historischen Aufführungspraxis. Das Ensemble sitzt auf der Bühne und das haben Musikerinnen und Musiker jahrhundertelang getan, bevor sie vor 150 Jahre von einem überschätzten Sachsen in die Unsichtbarkeit verbannt wurden. Nun sind sie wieder da, wo sie hingehören und der direkte Weg zwischen Instrument und Ohr des Publikums tut dem Genuss des filigranen Werks gut. 

Das Libretto ist allseits bekannt. Die "Fairy Queen" von Henry Purcell ist die musikalische Umgestaltung von Shakespeares Sommernachtstraum. Weil  Purcell der Feenkönigin Titania eine größere Rolle zugesteht als Shakespeare, hat er diesen doch als untalentierten Dichter in dieser Oper verewigt.

Das Werk eignet sich bestens für Corona-Zeiten. Denn die "Fairy Queen" ist das Glanzstück der in England sehr beliebten Semi-Opera. Schauspiel, Tanz und Gesang waren hier gleichberechtigt. Bekannte Erwartungen werden von vornherein überarbeitet. An dieser Stelle macht Lenz in seiner Inszenierung weiter. Sprech- und Gesangsrollen gehen in einander über, doch die Darstellung muss den Auflagen geschuldet reduziert werden. Bewegen ist nicht erlaub. Die Sänger und der Schauspieler stehen und sitzen wie bei einer konzertanten Aufführung fast nur an der Bühnenrampe. 

Die Bewegung wird ersetzt durch das muntere Spiel mit den Requisiten, die jede und jeder in ihrem oder seinem Köfferchen mit sich herum trägt. Ein kurzer Griff in die Kiste und mit einer Kopfbedeckung wird aus Amelie Petrich als Hermia ganz schnell Amelie Petrich als Fee. Aus Gustavo Edo als Handwerker wird ganz schnell Gustavo Eda als Elfenkönig Oberon. 

Zettel kann auch zaubern.
Alle Fotos: Julia Lormis

Die eigenständige Leistung besteht erst einmal in der erneuten Verschiebung der Gewichte. Aus der "Fairy Queen" wird "Zettels Traum", Arno Schmidt lässt hier deutlich grüßen. Das ganze erzählt Lenz in dem rasanten Tempo von Urs Widmer in seinen "Shakespeares Geschichten". Der Plot ist auf das wichtigste eingedampft. Es ist kein Verlust, sondern ein Konzentrat.

Dabei fügt Lenz den drei Ebenen der Verwirrung aus der Shakespeareschen Vorlage noch eine vierte hinzu. Die antiken Animositäten der schauspielernden Handwerke verlängert er in die Jetztzeit. Frotzeleien und Sticheleien begleiten das Spiel der fünf Darsteller auf der Nordhäuser Bühne. Die sind so gut gesetzt, dass man dem Irrglauben erliegt, sie seien spontan und real.

Dabei ist Lenz mit der Besetzung ein echter Coup gelandet. Er hat die fünf passenden Mit- und Gegenspieler gefunden. 

Dennoch ist es vor allem der Abend von Sven Mattke. Der zeigt die ganze Breite seines Könnens und das ist wirklich breit. Von Komik bis Tragik ist hier alles drin, ohne dass er je ins Lächerliche abrutscht. Mattke, löst die Versprechen ein, die Zettel gibt. So überrascht es nicht wirklich, dass er auch Blumen herbeizaubern kann, wenn es denn sein muss. Dabei setzt er immer wieder die eine oder andere Plattitüde mit einen Hauch Selbstironie ab. So werden Rolle und Darsteller zu einem Ganzen. 

Mattke glänzt mit wohl gesetzten Betonungen, die ganz langsam die Doppeldeutigkeit mancher Formulierung wirken lässt. In den Floskeln verschmelzen 17. und 21. Jahrhundert. Aber der große Augenblick ist das Solo als Esel. Selbst noch unter dieser dominanten Maske glänzt Mattke und ersetzt die Mimik durch die feinen Nuancen der Gestik.

Der zweite Pfeiler der brillanten Besetzung ist Gustavo Eda. Das neue Mitglied zeichnet sich nicht nur durch eine ganz besonderen Tenor aus. Der Mann hat auch schauspielerisches Talent und davon eine ganze Mange, vor allem im komödiantischen Fach. Er ist in der Lage, eine Szene mit wenigen  Gesichtszügen und mit wenigen Gesten aufzulösen und seinen gesanglichen Vortrag gewinnbringend zu unterstützen. 

Solo für einen Elf: Gustavo Eda
als Oberon.
Alle Fotos: Julia Lormis

Dazu hat er eine Stimme wie Samt. Sie schmeichelt, betört und verzaubert und bleibt selbst in den Koloraturen rund. Damit hat Nordhausen nicht nur einen Tenor, auf den das Etikett "lyrisch" bestens passt. Edo hat zudem eine Stimme, die die Poesie dieser Inszenierung noch einmal unterstreicht. Er wandelt zwar Oberon vom rächenden Macho zum staunenden Waldbewohner. Aber wenn Elfen singen können, dann singen sie bestimmt so. Deshalb wünscht man sich am Ende auch mehr Einsätze für Gustavo Eda.  

Auch Amelie Petrich begeistert mit ihrer Stimme. Ihr Sopran ist mit einem kleinen Timbre unterlegt. Das nimmt ihm die Spitzen und macht ihn so rund, wie man es von einer Feenkönigin erwartet. Dabei muss das Publikum aber nicht auf Umfang und Dynamik verzichten. Zum lyrischen Tenor Edo ist Amelie Petrich eben die kongeniale lyrische Sopranistin. Wenn es diese Etikett nicht gibt, dann muss es eben erfunden werden.

Der Reiz diese Inszenierung liegt auch im Verhältnis von Gestern und Heute. Wie es sich für die historische Aufführungspraxis einer Barockoper gehört, steckt diese Fairy Queen voller Symbole und Anspielungen. Die versteht das Publikum nicht immer oder erst auf den dritten Blick.  wie zum Beispiel die Kopfbedeckung des Oberon, die Anja Schulz-Hentrich direkt den barocken Vorlagen entnommen hat. Aber das macht nichts. Es gibt viel zu entdecken und man genießt die Aufführung auch so. Dann sind da ja auch noch die Symbole der Gegenwart, die jeder versteht, wie eben Barby und Ken als Hermia und Demetrius

Mit diesen wenigen Komponenten schafft es Lenz, den ganzen Zauber einer Barockoper wiederzubeleben. Es ist eben eine ganz eigene und eine komplette Welt. Hier gibt es Freude, Verwirrung, Verzweiflung, Enttäuschung, Zauber, Zank und Vergeben und zum Schluss löst die Liebe alles auf. Weil das nötiger denn je ist, liefert Lenz auch eine Aussage für die Jetztzeit.




Gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht

 "Die Hauptstadt" ist ein vor allem ein Wunschland

Es bleibt dabei: gut gemeint ist das Gegenteil von gut gemacht. Das gilt vor allem für "Die Hauptstadt"  am Deutschen Theater Göttingen. Statt Impulse zur Gegenwart zu geben, reiht

Donnerstag, 27. August 2020

Eins sein mit sich und den anderen

Festival schließt mit Tanzabend ab

Das Theaternatur-Festival ist dann am besten, wenn es etwas wagt und neue Wege beschreitet. Das hat der Tanzabend "UnEins" unter Beweis gestellt. die drei Choreographien konnte auch die begeistern, sich sich sonst nicht so für Tanztheater erwärmen können. Damit bekam das Festival einen gelungenen Abschluss. 

Es war durchaus ein Wagnis von Intendant Janek Liebetruth. Bisher ist Ballett in Benneckenstein nur auf begrenzten Zuspruch gestoßen. Das er mit der dreifachen Aufführung an den letzten Festivaltagen richtig lag, belohnt den Mut. 

Die Klammer war das gemeinsame Thema. Das Individuum und die Gesellschaft, das Ich und das Ihr stand im Mittelpunkt der drei Beiträge. Damit verbunden war ein Querschnitt durch das, was moderenes Tanztheater ausmacht. Klassik. Modern Dance, Break und ein wenig Akrobatik fanden an den drei Abenden zusammen. Dies ermöglichte die Vielfalt an ausdrucksformen 

Ein Solo, eine Quadrille und ein Ensemble. Auch hier waren die Formen vielgestätigund auch widersprüchlich.

Das Solo

Eine leere Bühne, links ein Stuhl, der aus einem Dorfgemeinschaftshaus zu stammen scheint. In seiner Choreographie verzichtet Yotam Peled auf Requisiten. Der Tänzer lässt in seinem Werk seinen Körper sprechen. 

Aber erst einmal muss man die Stille aushalten. Fast zwei Minuten lang kein Ton und keine Rührung ehe er sich in  Bewegung setzt. Aus der Stille wird ein penetranter Sinus-Ton. Es sind Bewegungen, die beim Zuschauen schmerzen. Peled scheint nicht Herr über seine Gliedmaßen zu sein. Er zuckt, er streckt sich, er dreht sich. Mediziner würden einen tonisch-klonischen Krampfanfall vermuten. Auf jeden Fall wirkt die Figur auf der Bühne fremd bestimmt. 


Aus dem Sinus-Ton wird Rhythmus und die Bewegungen verlaufen nun synchron. In seinem Militärdress vollführt Peled Übungen, die eindeutig Drill sind. Immer noch ist er fremdbestimmt.

Es ist jede Menge Breakdance und Akrobatik in dieser Aufführung. Immer wieder dreht und windet sich Peled auf dem Kopf. Er leidet. Er verdreht sich, weil andere, unsichtbare an ihm drehen. Das lässt den Schmerz fühlen. Aber mit diesere Kombination überwindet er auch die Grenzen etablierter Tanzformen. 

Doch der Tänzer und Choreograph erzählt hier in Etappen die Geschichte einer Emanzipation. Aus dem Gruppenmitglied wird ein Individuum. Stück für Stück, Windung für Windung  pellt er sich aus der Uniform. Er entpuppt sich bis aus der Larve ein schillerndes Insekt geworden ist.

Doch Peled geht weiter. Zum Schluss ist er nackt und verletzlich, aber er selbst. Wie Phönix erhebt er in einem starken Schlussbild aus der Asche seiner Uniformität. Auch hier muss man die Stille wieder aushalten können. Dazu zwingt das reduziert Licht geradezu zur Konzentration  Weil seine Geschichte nicht im Mief des Persönlichen bleibt, sondern über das Ego hinau transzendiert und Anknüpfungspunkte für jedem im Publikum bietet, ist dieses begeistert.

Viererbande

In der Choreographie von Xenia Wiest steht die Dynamik einer Gruppe im Vordergrund. Es geht um das Zueinander positionieren, das Zueinander finden und das sich Voneinander entfernen. Das  

Vier Menschen, ausgestattet mit Klappstühlen, bilden ein Geviert, das die Größe eines Boxrings hat. Jeder verbleibt in seiner Ecke und beschäftigt sich mit sich selbst. Das bietet zwar schöne Einzelleistungen, wirkt aber nicht harmonisch. 



Ein Klavier spielt Tonlinien aus der Romantik, die man vor allem mit Einsamkeit assoziiert. Auch die Sprache der Tänzerinnen und Tänzer verbleibt im klassischen Tanztheater. 

Dann tritt die Tänzerin Alice Gaspari an die Rampe und dreht an einem Radio. Die Lautsprecher spucken das Kratzen eines manuellen Suchlaufs aus, bis die Suchende bei einer klassischen Soul-Nummer. Alle sind wie verzaubert. Auf einmal klappt das Miteinander. Aus den vier Solisten ist ein Ensemble geworden. 

Aus der Klassik wird Jazz Dance. In Geviert ohne Stühle begeben sich die Tänzerinnen und Tänzer auf die Suche nach dem verbindenden Wesen der Musik. Ob man dabei so viel mit den Armen rudern muss, sei dahin gestellt.Tänzerinnen und Tänzer aus der Klassik wirke ein wenig hüftsteif für den beckenfordernden Soul.

Doch jeder Zauber ist schnell zu Ende. Der nächste Sendersuchlauf endet im Feuilleton und einem Vortrag über das paradoxe Verhältnis von Individuum und Gruppe. Daher der Name Füße aus, Kopf an, Stühe aus der Ecke. Alle vier finden sich nun in einem Stuhlkreis wieder. Was die Vier deutlich machen: Man redet mit Händen und Armen über einander. 

Xenia Wiest hat eine feine Beobachtung in eine passende Sprache umgesetzt. Aus dem Diskurs wird schnell ein Nachäffen. Es wird nicht klar, wer den Ton angibt. Die Vier sind synchronisiert als sie aus dem Stuhlkreis heraus wieder den Tanzboden erobern. 

Doch die Harmonie der zweit Szene ist verschwunden. Nun folgt der letzte Bruch. Marco Rizzi verlässt die Gruppe und markiert sich selbst als Außenstehenden. Das ist das letzte Bild, das in Erinnerung bleibt. 

Die Compagnie

Die Choreographie "Konsequenzen" hat Ester Ambrosino bereits 2017 erarbeitet. In der Corona-Krise wird die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, nach Handeln, Unterlassen und Folgen immer wieder neu gestellt. Deswegen hat die Arbeit des Tanztheaters Erfurt schlagartig an Aktualität gewonnen.

Es ist eine surreale Reise ohne Ziel über viele Stationen durch dieses weite Feld, das aber keinen Erzählstrang folgt. Hätte Buñuel Ballett gemacht, es hätte wahrscheinlich so ausgesehen. Es sind überwältigende Bilder, die sich der üblichen Logik entziehen.Es ist vor allem ein gelungenes Zusammenspiel aus den Elementen Tanz, Sprache, Musik und Licht und an diesem Abend der Beitrag mit der meisten Reife.   

Nicht alles erschließt sich dem Betrachter, einiges bleibt im eigenen Code der Gruppe verborgen. Andere Szenen sind von beeindruckender Eindeutigkeit. Das gilt vor allem für die Fesselszene, in der das Individuum im Netzwerk über den Tanzboden geschliffen wird. Oder die "Reise nach Jerusalem", die Inklusion und Exklusion in Bewegung und Gruppendynamik umsetzt. Soziale Prozesse werden durch Tanz verdeutlicht. Was will man mehr? 

 


Der Dreiklang lautet Geheimes, Eindeutiges und Ambivalentes. Damit ist die Inszenierung komplett und gibt jedem die Chance für die eigene "Konsequenz". Dazu gehört der geschlechtslose Riese. Ist es ein Figur aus Pink Floyds "The Wall" oder ein Verwandter von Harry Potters Dementoren? Was macht der Reise eigentlich? Ist das die heilige Konsequenz? Manche Fragen muss man sich selbst beantworten und das ist gut so, denn die Choreographie von Ester Ambrosino  setzt eben auf erwachsene Zuschauer.

Genauso vielfältig sind die Formen. Das Tanztheater Erfurt verbindet in dieser Aufführung Modern Dance mit Jazz Dance und macht Anleihen beim Break Dance. Es sind immer raumgreifende Bewegungen, als wollten die Tänzerinnen und Tänzer selbst in der Klaustrophobie die ganze Welt umarmen. 

Dabei können sowohl die Solisten überzeugen als eben auch die Compagnie als Gruppe. Die Spannung entsteht in aller Regel aus den Einzelleistung im Kontrast zum Ensemble, dass wie ein Körper agiert.

Dennoch hätte konsequente dramaturgische Arbeit der Aufführung gut getan. Bei einer Dauer von 65 Minuten als dritter Teil eines Tanzabend ist die Aufnahmefähigkeit im Plenum dann schon erschöpft. Auf jeden Fall weckt dieser Tanzabend die Vorfreude auf Theaternatur 2021  



Material #1: Mehr Fotos - hier

Material #2: Theaternatur - Das Festival

Montag, 10. August 2020

Der Sandmann fährt Porsche

 Es ist noch nicht soweit: Viele Ansätze, die nicht alle tragen

Es bleibt dabei: Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht. So geht es auch dem Hauptstück “Es ist noch nicht so weit” beim diesjährigen Theaternaturfestival in Benneckenstein. Es steckt voller vielversprechenden Ansätze, die aber nicht immer umgesetzt werden.

Es ist ein Zwei-Jahres-Programm auf der Waldbühne in Benneckenstein. Nachdem 2019 die Wende unter die Lupe genommen wurde, soll es in diesem Jahr um die Folgen der deutschen Einheit gehen. Auch dafür erging ein weiterer Auftrag an den Autoren Sören Hornung. Während seine letztjährige “Legende von Sorge und Elend” eine Anhäufung von Klischees war, kommen die Figuren in “Es ist noch nicht soweit” wesentlich differenzierter daher.


Sandmann West, Achim und Kassandra am Dachfenster. 
Alle Fotos Frank Drechsler

Es ist ihm hoch anzurechnen, dass er für diesen Anlass das gewohnte Narrativ von Gewinner West und Verlierer Ost durchbricht. Sein Stück kennt nur einen Gewinner und das ist der Sandmann Ost. Immerhin kann der jetzt Porsche fahren, während sein Kollege aus dem Westen seit 30 Jahren arbeitslos ist. Gewissermaßen eine Retourkutsche auf die ehemals noblen Gefährte des Westvertreters. 

Diese schöne Arbeitsgrundlage hat nur einen entscheidenden Fehler. Der Sandmann West hat die Wende nie erlebt. Er wurde schon im März 1989 von der ARD aus dem Rennen genommen. Ein Treffen der Deinhardt-Drummerin und der Rotkäppchen-Schaffnerin oder der Ampelmännchen wäre also authentischer gewesen. Aber eben nicht so lyrisch. Sekt trinkende Frauen erzählen, selten Geschichten die Kinder verzaubern.

Nun lebt der Sandmann West also mit seiner Tochter Kassandra in einer Dachgeschosswohnung im Osten. Weil es dort günstiger ist. Während er seiner Misanthropie freien Lauf lässt, versucht sie stets, das Gute in den Menschen und der Situation zu sehen. auf jeden Fall will der Sandmann keine Geschichten mehr erzählen und auch keinen Gesichten mehr glauben.

Das Bühnenbild von Hannes Hartmann ist eine Wucht. Es zeigt die Dachgeschosswohnung mal von innen, mal von außen und beherrscht das Geschehen. Gedreht wird es immer und immer wieder mit Muskelkraft und das gibt den Bühnenhelfer den Status von inoffiziellen Mitarbeitern im Sisyphos-Modus.

Wie eine Sternschnuppe taucht Achim auf. Er ist arbeitsloser Straßenbahnfahrer, informiert den Sandmann und dessen Tochter Kassandra über die Supersendungsshow, bei der jeder eine zweite Chance erhält. Dann verglüht Achim wie eine Sternschnuppe.

Erst später wird klar, dass diese Show in der Sandmann-Wohnung stattfinden soll. Ihm steht  de facto eine Enteignung bevor, wie sie viele Ostdeutsche nach 1990 empfunden haben. 

Auch Sissy Foss wird es wie Achim ergehen. Ihr Auftauchen ist nur ein Beitrag zur langwierigen Vorbereitung des vermeintlichen Showdowns. Auch ihr Faden verleirt sich ohne Folge. Während es Benjamin Kramme gelingt,seiner Figur unfreiwillige Komik zu geben, bleibt Carolin Wiedenbröker durchweg blass.

Sissi Foss oben und Kassandra unten
Alle Foto: Frank Drechsler

Das liegt auch daran, dass nur die wenigsten im Publikum verstehen, welch Abstieg mit dem Weg aus Bietigheim-Bissingen im Stuttgarter Speckgürtel in die ostdeutsche Pampa verbunden ist. Man muss schon sehr bewandert sein, in Zeitgeschichte und Soziologie, um alle Anspielungen in diesem Stück deuten zu können. Das gilt insbesondere für die Showeinlage der Kartoffeln, die im Südeuropa gern als Synonym für Deutsche gesetzt wird.

So gelingt es Jennifer Sabel in der Rolle der Kamerafrau Frauke auch nicht, das Tragische am Tod ihres Lebensgefährten herauszuarbeiten. Der Mann aus Ostdeutschland wurde in Afghanistan von einer sowjetischen Hinterlassenschaft des Kalten Kriegs getötet. 

Es ist Patchwork, der Flickenteppich will nicht zu einem Gesamtwerk werden. Es sind zuviele Fäden und es fehlende die ordnende Hand. Das Nähkästchen bietet dem Publikum immerhin viele Möglichkeiten der Identifikation. 

Regisseur Janek Liebetruth gelingt aber eine gekonnte Vermischung von Schauspiel, Videoprojektionen und Klangcollagen. Seine beiden Hauptdarsteller Hans Klima als Sandmann West und Achim Wolff als sein Kontrahent zeigen große Schauspielschule. Leider dauert es aber 60 Minuten, bis es soweit ist, bis die Titanen des Kinderfernsehens aufeinandertreffen. Etwas mehr Dramaturgie hätte da sicherlich geholfen.

Schon mit der Gestik und Mimik zeigt Klima, wie weit der Verlierer sich in sich selbst zurückgezogen hat. Erst als er auf seinen Widerpart trifft, überwindet seine Stimme den Grummelton. Mit allen Teilen kommt er aus sich heraus.

Gleich knallt's. Alle Fotos: Frank Drechsler


Wolff hingegen schmeichelt akustisch, beschwichtigt salbungsvoll als käme er gerade von Predigerseminar. Er macht die großen, raumgreifenden Gesten, die Posen eines Mannes, der auch im Moment des Siegs noch auf Versöhnung setzt. Da ist es schon tragisch, dass sein Vorhaben einer Nachlässigkeit mit dem Gesäß zum Opfer fällt. Das sorgt aber immerhin für einen deutlichen Knalleffekt.

Mit den Programmen der Jahre 2019 und 2020 wollte das Theaternaturfestival einen Beitrag zur Zeitgeschichte liefern. Doch “Es ist noch nicht soweit” kommt zu spät. Im Jahre 30 der deutschen Einheit laute der Konflikte nicht mehr "Ost und West". Das zeigt schon die Tatsache, dass die Hauptsponsoren für das Festival im Westharz zuhause sind.

Die Trennlinien im digitalpostmodernen Deutschland verlaufen mittlerweile an anderen Stellen, zwischen urban und ländlich, zwischen alter Industrie und neuer Dienstleistung, zwischen Aufsteigern und Abgehängten. Damit ist das Stück aber immerhin eine amüsante Nabelschau.

Freitag, 7. August 2020

Futter fürs Kino im Kopf



Ein Stück Filmgeschichte als Buch: Die “Goldfinger Files” sind erschienen

192 Seiten und 2,5 Kilo für 6 Minuten 37 Kinokunst. Mit “The Goldfinger Files” haben Steffen Appel und Peter Waelty ein Werk vorgelegt, das sich um eine Legende der Filmgeschichte dreht, die Schweizer Episoden aus dem Bond-Film „Goldfinger“. Dabei setzt das Buch selbst neue Maßstäbe.

Den Autoren ist mit den „Goldfinger Akten“ eine beispielhafte Mischung aus Detailwissen und dem Blick fürs Ganze gelungen. Cineastische Fakten werden in die zeit eingeordnet, in den gesellschaftlichen Kontext gestellt und Entwicklungen aufgezeigt. Letztendlich steht so die Figur des James Bond für die vielfältigen Umwälzungen der 60-er Jahre.

Dazu kommt die gelungene Präsentation. Die Texte sind auf das Mindestmaß reduziert. Ein Buch über einen Film braucht Bilder und mit 346 Abbildungen gibt es reichlich davon. Dabei schöpfen Appel und Waelty aus einem reichen Fundus. Es sind Fotos der Journalisten Hans Gerber, Josef Ritter und Ernst Kocian ebenso wie die privaten Aufnahmen der Statisten, Hoteliers und der Filmcrew. Dazu kommen Repros aus dem Drehbuch.

Das Format von 27 mal 33 bietet vor allem als Doppelseite reichlich Platz, und Gerd Steidl und sein Team haben ihn bestens genutzt. Seiten füllende Bilder zeigen die einmalige Landschaft und gewähren intime Blicke auf die Darsteller. Sean Connery gibt sich geradezu euphorisch. Ahnt er etwas?
Der gut eingesetzte Weißraum vermittelt eine Ahnung von den sonnigen und heiteren Tagen am Oberalppass im Juli 1964. Das ist Kino fürs Kopf und macht aus dem Betrachter einen Zeitzeugen. Mehr geht nicht.

Das Buch gibt nur 6 Minuten 37 “Goldfinger” wieder. Aber das Werk ist der Blick in eine vergangene Zukunft. Bond-Filme gibt es 25, doch “Goldfinger” gilt immer noch als der beste. Erst mit dem dritten Streifen erreichte die Serie den Kultstatus.

Das liegt an den Hauptdarstellern Sean Connery und Gerd Fröbe. Aber auch daran, dass die Figur des Agenten Bond hier endlich ausgeformt ist. Mit “Goldfinger” wird er zum Idol. Dieser Film eröffnete neue Dimensionen und er ist immer noch einer der umsatzstärksten der gesamten Serie.

Der Aufbau

Das Buch ist nach Drehtagen sortiert. In sieben Kapiteln gibt es Einblicke in die Arbeit am Set, aber noch viel mehr vom Drumherum. Dabei zeigen Appel und Waelty zwei widersprüchliche Phänomene.
“Goldfinger” war bahnbrechend auch in Sachen Product Placement und Professionalisierung.

So verdrängte Ford kurz vor Drehbeginn Triumph als Gefährt für den Racheengel Tilly Masterson. Der Film wurde zu der Bühne für den gerade erst angelaufenen Mustang. Der Deal war so kurzfristig, dass das Drehbuch nicht mehr geändert werden konnte. 

Die Schweizer Behörden zeigten sich äußerst kooperativ. Sie wollten den Film als Imagepolitur nutzen. Schließlich galten die Eidgenossen als Eigenbrötler und Geheimniskrämer.

Dieser Vermarktung stehen Drehbedingungen gegenüber, die heute bestenfalls als “unprofessionell” gelten. Von Abschottung und Geheimniskrämerei keine Spur. An allen Drehtagen waren Fotografen am Set und dokumentierten fleißig. Journalisten führten zwischen den Szenen schnell mal Interviews mit den Stars und abends feierte man gemeinsam im Hotel Bergidyll. Die Strategie ging jedenfalls auf. Schon vor dem Kinostart war die Berichterstattung enorm.

Mit Tilly Masterson tritt auch ein neuer Typus Frau auf. Sie ist die erste, die nicht bei Bond im Bett landet. Stattdessen arbeitet am eigenen Plan. Das war wohl selbst für die 60-er Jahre zuviel und deswegen stirbt sie den Filmtod. 

Appel und Waelty machen eine weitere Innovation deutlich. Mit Auric Goldfinger betritt ein neuer Typ Bösewicht die Filmszene. Er will nicht erobern oder zerbomben. Seine Machtbasis ist die Spekulation und seine Waffe die Wette gegen Währungen. Damit bekommt die Bond-Serie das Motiv der Weltherrschaft über den Tatort Börse und Bond den einzigen ernst zunehmenden Gegner. Der Macht des Reichtums kann selbst das britische Empire nicht standhalten. Der Dialog "Do you expect my to talk?" -  "No, Mr Bond. I expect you to die." ist knapp vor der Realisierung

Für Connery war “Goldfinger” ein großer Schritt nach vorn. Fröbe untermauerte seinen Ruf als Charakterdarsteller. Aber für Tania Mallet in der Rolle der Tilly Masterson war es die Endstation. Sie verzichtete auf weitere Filmrollen. Als Model verdiente sie damals ein Vielfaches der Film-Gage.  Damit sind die “Goldfinger Files” ein Erinnerungsstück an eine verpasste Chance. Connery und Fröbe wurden Götter, Mallet verstarb letztes Jahr weitestgehend unbeachtet.

Die Daten

Erschienen sind “The Goldfinger Files” im Steidl-Verlag Göttingen. Das Buch beinhaltet 346 Abbildungen auf 192 Seiten und kostet 38,- Euro. Die ISBN lautet 978-3-95829-746-3.

Montag, 6. Juli 2020

Mit Alice ins digitale Wunderland

Theaterclubs eröffnen neue Dimension des Spiels

Sie haben es wieder getan. Zum zweiten Mal in der Corona-Krise hat das Deutsche Theater Göttingen die Maßstäbe für zeitgemäßes Spiel neu definiert. Mit “Ich sehe was, was du nicht siehst” haben die Theaterclubs eine neue Dimension eröffnet, in der sich Wirklichkeit und virtuelle Realität mischen. Das Urteil des härtesten Kritikers ist eindeutig: "Geil".

Am Sonntag ging das Projekt gewissermaßen online. An diesem Termin sollte eigentlich der Start des Festivals “Am Puls” sein. Doch Corona hat dies und auch die Proben dazu verhindert. Da man aber doch etwas aufführen wollte, haben Gabriele Michel-Frei, Lisa van Buren und Jana Kühner etwas Neues konzipiert. Man könnte es als “Theater on demand” bezeichnen.

Erst scannen, dann gucken,
Alle Fotos: Kügler 
In der Corona-Krise haben sich viele Theaterschaffende mit Streaming abgemüht. die wenigstens Ergebnisse waren länger als 15 Minuten sehenswert. DT-Intendant betont zu Recht, dass hochwertiges Streaming eben auch einen hochwertigen Aufwand erfordert. Zudem macht es die Betrachter zu reinen Konsumenten, die auf die Perspektive der Kamera reduziert werden.
“Ich sehe was, was du nicht siehst” geht einen anderen Weg. Es zieht das Publikum in das Spiel hinein und lässt ihm doch die Freiheit der eigenen Sichtweise. Zudem entsteht im Grenzbereich zwischen Konserve und Jetzt eine neue Dimension des Spiels.

Die Clubs haben in Kleingruppen geprobt und gefilmt. Ihre Szenen spielen um das Haus herum, in den Werkstätten und auf dem Theaterwall. So sind 11 Stationen entstanden, die ein Ganzes ergeben.
Technik braucht man doch schon. Die Szenen werden per Smartphone und QR-Code aufgerufen und in Corona-sichern Gruppen läuft man die Stationen ab. Menschen, die auf Handys starren, gehören nun zum Erscheinungsbild des DTs. Ein Bluetooth-Kopfhörer vervollständigt die Abschottung zur Außenwelt. Jeder ist sei eigener Kosmos, seine eigene Filterblase.

Deswegen sagt der härtestes Kritiker aber auch: "Man kommt sich schon komisch vor, gelegentlich zumindest."
.
In der ersten Szene übernimmt Helena die Begrüßung. Sie fungiert nun als Lotsin durch den Videowalk. Mit einem Rüschenkleid kostümiert erweckt sie Assoziationen an Alice. Weil auch immer wieder ein Kaninchen durch das Bild hüpft, ist der Betrachter schon mit dem ersten Schritt im Wunderland.

Neun Theaterclubs beteiligen sich an dem Projekt. Dementsprechend vielfältig ist das Ergebnis. Es geht um aktuelle fragen, wie den Umgang mit Müll. Shakespeare taucht gleich zweimal auf und Ödipus spielt auch eine Rolle. Es gibt Tanzt und einen Ratgeber für Erwachsene.

Einige Szenen setzen auch leichte Verfremdung und die Perspektiven sind ungewöhnlich. Die Jugendlichen haben mit den Möglichkeiten experimentiert.

Leider fällt der Beitrag des Spielclubs 20+ ab. Er wirkt wie abgefilmtes Theater und passt sich sich nicht in das Gesamtbild ein.die Szene bezieht die Umgebung nicht ein und vergibt damit viele Möglichkeiten.

Endgültig verschwinden die Grenzen im Betrag des Spielclubs 10 - 20. Der Zoom geht in den verwunschene DT-Garten am Wall. Zwischen den alten Bäumen zeigen sie die Ausgangspositionen in Shakespeares “Was ihr wollt”. Der Klassiker landet sprachlich und visuell im 21. Jahrhundert. Da ist es schon schade, dass der Clip nicht länger dauert.

Den ganzen Sommer

Ein Rundgang dauert je nach eigenem Tempo etwa 50 Minuten. Noch bis zum 12. Juli finden täglich Vorstellungen statt. Dabei machen sie sich die Einzelpersonen und Kleingruppen im Abstand von 15 Minuten auf den Weg. eine Anmeldung unter theaterkasse@dt-goettingen.de ist erforderlich.

Der Besuch ist kostenlos, aber ein Spende für das Projekt “Theaterkasse” ist gern gesehen. Damit wird die Theaterarbeit in den Schulen unterstützt.

Ursprünglich war geplant, die OR-Codes während der gesamten Sommerferien zu präsentieren. Ob dies möglich ist, wird derzeit noch geklärt.

Donnerstag, 28. Mai 2020

Ein Dorf wird zur globalen Virenschleuder

Ischgl-Buch von Hechenblaikner im Steidl-Verlag erschienen

Wer wissen will, warum Corona schnell zur Pandemie wurde, der sollte sich dieses Werk besorgen. Mit “Ischgl” zeigt der Fotograf Hechenblaikner eindrucksvoll, wie aus einem Bergbauerndorf in Tirol die Virenschleuder Europas wurde.

Manchmal werden Verlage von den Ereignissen überrollt. Das Buch war schon länger geplant. Nun hat der Steidl-Verlag die Erscheinung nach vorne gezogen. Aus einem Bildband wurde so ein Erklärstück zu Europa und seinen drängendsten Problem.

Ischgl, hinter diesem einen Vokal und seinen fünf Konsonanten steckt das ganze Elend des alpinen Massentourismus. Auf 1.600 Einwohner kommen 25.000 Gästebetten. Das macht 1,4 Millionen Übernachtungen und 250 Millionen Euro Umsatz jährlich. Der Ort ist längst zur Marke geworden und zum Ballermann der Alpen verkommen. Zum Skifahren kommen nur die wenigsten. Hier ist 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche.

Lois Hechenblaikner fotografiert seit den 80-er Jahren vor allem die Natur. Dafür bekam er unter anderem den King Albert Mountain Award. Seit 2012 hat der Tiroler im Steidl-Verlag drei Bücher veröffentlicht, die sich um die Neuentdeckung der Alpen drehen. Doch keins ist so eindrucksvoll wie “Ischgl”. Es ist eine bebilderte Langzeitstudie über die Entgrenzung von Menschen.

Bilderflut

Das Werk folgt einer klaren Dramaturgie. Zeigen die ersten sechs Seiten noch verschneite Bergidyllen in milchigen Tönen, kommt der Schock auf Seite acht. Bis zum Horizont drängen sich Menschen an Menschen. Es gibt ein Konzert auf dem Gletscher. Aus einem Ort der Stille ist eine Krachmeile geworden.

Dabei bedienen sich Gerhard Steidl und Helmut Feroudi eines gestalterischen Tricks. Aus dem vollformatigen Panoramabildern sind Dreiviertelformat geworden. Die Umsicht das Naturfreunds verengt sich auf den Blick durch die Skibrille.

Alle Fotos: Lois Hechenblaikner
Aus Hechenblaikners Sicht hat Ischgl nichts mehr mit Wintersport zu tun. Es reihen sich Partybilder an Partybilder. Schnee und blauer Himmel sind nur die Kulisse für ein permanentes Besäufnis. Das verdeutlicht nichts eindrucksvoller als die Bilder auf Seite 25 und 26. Links stapeln sich leere Bierkisten in den Himmel. Rechts räkeln sich männliche Best Ager auf Hunderten von Fässern, so als wollten sie sagen: Alles das haben wir getrunken.

Erstaunlich ist, dass sich die Menschen so bereitwillig zur Schau stellen. Niemand dreht sich weg. Der Blick geht meist direkt in die Kamera. Hechenblaikner schafft es, diese verquere form des Stolzes einzufangen und schonungslos darzustellen.

Brust raus. Drei junge Männer präsentieren stolz ihre “Fotzen wo”-T-Shirts. Harte Kontraste, kein Weichzeichner und detailreich. Es sind ungeschminkte Bilder, allerbeste Reportagefotos. Damit gelingt Hechenblaikner eine Komprimierung von Dingen, die manchen verborgen bleiben.

Alkohol ist das eine, Sex das andere Thema. Ständig wird blank gezogen und plump anbaggern. In Ischgl scheint es einen heimlichen Wettbewerb der Obszönitäten zu geben. Gummipuppen sind zum allgegenwärtigen Scherzartikel geworden. Die touristische Entgrenzung geht mit der sittlichen Entgrenzung einher.

All das kontrastiert Hechenblaikner immer wieder mit Bildern leerer Pisten. Wer braucht schon Ski wenn es doch Apres Ski gibt? Deswegen tragen auch die meisten Menschen auch Kostüme und keine Sportbekleidung.

Es nimmt und nimmt kein Ende. Mit seinen Bildern dokumentiert der Fotograf wie der Bauboom in Tirol weitergeht und wie die Gentrifizierung rasant an Fahrt aufnimmt. Von Ischgl selbst ist wenig zu sehen. Der Ort ist austauschbar geworden, ist die bittere Erkenntnis. Bewohner kommen auf den Bilder nicht vor. Sind sie an den Rand gedrängt oder so sehr mit Geld zählen beschäftigt, dass die Zeit nicht mehr zum Posieren vor der Kamera reicht?

Die Champagnerhütte war wirklich mal nur eine Hütte. Das zeigt Hechenblaikner mit der Genüberstellung zweier Fotos. Dieser Technik bedient er sich mehrfach. Heute kostet die Flasche dort 2.890 Euro. Das kann sich kein Dorfbewohner mehr leisten. Was bleibt sind Berge von Müll und Menschen, die zwischen Autos schlafen. Damit ist die Inszenierung zu Ende.

Ohne Worte

Bilder sagen mehr als Worte und die Bilder von Hechenblaikner sprechen Bände. Deshalb kommt das Vorwort erst zum Schluss. Stefan Gmünder gibt aber keinen Erläuterungen zum Werk. Er erklärt den Menschen Hechenblaikner. Der Leser erfährt so, was den Fotografen antreibt, wo seine Motive liegen.

Doch Gmünder macht auch die Gründe des Irrsinns deutlich. Armut war die treibende Kraft. Doch bis in die frühen 60-er Jahre haben die Eltern im Planautal ihre Kinder nach Süddeutschland geschickt, damit sie dort für Kost und Logis arbeiten konnten. Heutzutage unvorstellbar in Europa.

Gmünder geht auf die aktuellen Ereignisse ein. Er rekapituliert welche Kette von Fehleinschätzungen Ischgl zur Virenschleuder gemacht haben. Ere berichtet aber auch von einem Umdenken in der Politik, von neuen und alten Werten in der Tourismusbranche. Damit könnte “Ischgl” von einer Situationsbeschreibung zu einem Blick zurück in eine turbulente Vergangenheit werden. 978-3-95829-790-6

Daten 

Lois Hechenblaikner wurde 1958 in Reith im Alpbachtal geboren. Nach einer Ausbildung zum Kfz-Elektriker ging er seit 1985 auf Fernreisen, die er auch dokumentierte. Seit den 90-er Jahren sind die Folgen des Tourismus sein Lieblingsthema. Saulus und Paulus finden sich hier.

Das Buch “Ischgl” enthält 205 Fotografien auf 240 Seiten. Es kostet 38,- Euro und erscheint am 2. Juni im Steidl-Verlag. Die ISBN lautet 978-3-95829-790-6


Material #1: Ischgl - Das Buch

Material #2: Lois Hechenblaikner - Die Biografie

Dienstag, 12. Mai 2020

Die Grenzen des Theaters gesprengt

"Die Methode" am DT Göttingen als Drive-In-Vorstellung

Vergesst das Autokino. Kultur findet in der Tiefgarage statt. Mit „Die Methode“ hat das Deutsche Theater Göttingen ein Stück entwickelt, das die passende Antwort auf die Zeit ist. Es findet eben in der DT-Tiefgarage statt und begeistert mit einem Maximum an Nähe. Das erste Drive-In-Theater ist mehr als nur eine Überraschung.

Das gestörte Verhältnis von Nähe und Distanz sei das sublime Thema der Corona-Krise. Das Fehlen der gewohnte Bipolarität würde die Menschen verunsichern, hatte Intendant Eric Sidler in der Pressekonferenz erklärt. Das wolle man mit dieser Inszenierung aufgreifen. Er hat zu wenig versprochen. „Die Methode“ ist eine geballte Ladung an Intimität und eine Stellungnahme zur Öffentlichkeit zugleich. Hinter allem steckt die Sehnsucht nach Liebe als Triebfeder menschlichen Handelns. Ein zutiefst humanistisches Statement in den Zeiten der Apparatschiks.

Grundlage ist der Roman „Corpus Delicti“ von Juli Zeh. Dieser wirkt nun wie eine Blaupause für die Corona-Krise. Das Individuum verschwindet im Kollektiv. Oberste Maxime ist die Gesundheit des Kollektivs. Jeder ist zum Sport verpflichtet, jeder muss Berichte zu seiner Ernährung abliefern.

Moritz Holl wartet auf der Lichtung.
Alle Fotos: Thomas M. Jauk
Das Leben ist nur in desinfizierten Bereichen erlaubt und Beziehungen müssen von der zentralen Partnerschaftsvermittlung erlaubt werden. Dabei ist der Haupthistokompatibilitätskomplex der entscheidende Faktor. Alles ist in den 27 Artikeln der Präambel in Stein gemeißelt.

Es ist eine Diktatur, die keinen Führer braucht. Es ist weitaus gefährlicher. "Die Methode" ist ein System der Mitmacher, weil die kleinen Rädchen sich als Teil eines Großen und Ganzen empfinden. Das arbeitet diese Inszenierung wunderbar heraus. 

Moritz Holl rebelliert dagegen. Er will frei sein und selbst über seinen Körper entscheiden. Er will angeln, angebrannte speisen essen und nach Schweiß riechen. Holl widersetzt sich dem Zwang zum gesunden Leben, weil dies ein Angebot ist, das man auch ablehnen kann.

Holl ist Individualist bis an die Grenze zur Einsamkeit. Er will den Zwang des Systems nicht durch den Zwang der Oppositionsgruppe RAK, Recht auf Krankheit, ersetzen. Sie ist ihm zuviel Institution, er setzt auf Zweisamkeit und er sucht vor allem die Liebe, die dem System abgeht. Er entzieht sich dem Skylla-oder-Charybdis-Logik und diese Freiheit bezahlt er mit seinem Leben.

Die Inszenierung von Antje Thoms erzählt die fatale Entwicklung in vier Positionen. Dem Ensemble gelingt dabei eine Eindringlichkeit, die angesichts der Umstände überrascht, die aber ohne die besondere Aufführungsform nie möglich gewesen wäre. So viel Intimität wäre selbst auf einer Studiobühne nicht möglich gewesen. Darsteller und Publikum treten in eine Eins:Eins-Situation. Der Zuschauer wird zu einem festen Bestandteil der Inszenierung.

Die Fahrt

Diese beginnt schon bei der Anfahrt. Ein Wesen in Weiß kontrolliert Kennzeichen und Name. Jedem Wagen ist eine feste Zeit, ein Slot, zugewiesen. Wer den verpasst, guckt in den Auspuff. Das System duldet keine Abweichung. Immerhin darf man die Auslastung des eigenen Pkws selbst bestimmen.

Dann geht es zu den nächsten weißen Wesen am Einlass. Im Kassenhäuschen es arbeitslosen Fahrgeschäfts sitzt der Wärter. Gemeinsam geht man die 27 Artikel der Präambel durch. Ohne Zuspruch kein Einlass. Scheinwerfer aus und Innenbeleuchtung an.

Die Bühnenbilder und die Ausstattung von Florian Barth sind großartig. Das quietschbunte und blinkende Kassenhäuschen wirkt wie ein Ufo in dieser sterilen Atmosphäre. Es erinnert sehr deutlich daran, dass Rummel und exaltierte Lebensfreude derzeit nicht möglich sind. Damit ist es der Kontrast zur Klaustrophobie, die in der Tiefgarage wartet. Jede Station verdeutlicht das Eingesperrt sein im System.

Die weißen Wesen lotsen den Besucher zur ersten Position im Dunkel der Tiefgarage. Dort am imaginärer Waldrand wartet Moritz Holl im Auto. Allein schon sein Wagen ist ein klare Absage an das, was andere als vernünftig bezeichnen. Er ist Rebellion auf vier Rädern. Der Chrysler New Yorker Baujahr 1970 hat einen Durst von mehr als 20 Litern im Betrieb.

Ein Dinosaurier-Ei mitten im Wald.
Foto: Thomas M. Jauk 
Im Auto sitzt Volker Muthmann in der Rolle des Gesundheitsrebellen. Er wirkt gehetzt, nervös schaut er sich immer wieder um. Die Worte kommen meist gepresst. Allen großen Reden zum Trotz, die noch kommen werden, ist er alles andere als souverän. Mit dieser zerrissenen Person liefert Muthmann eine Klasseleistung.

Holl stimmt die Gitarre und lädt seine Automatikpistole durch. Er schaut dem Betrachter direkt in die Augen. Damit wird das Spiel auf die persönlichste aller Ebenen getrieben. Der Betrachter wird zum Mitspieler. Kopfschütteln oder nicken, hinschauen oder wegsehen. Die Reaktionen sind zwangsläufig. Man kann sich nicht entziehen. Das wiederkehrende Geräusch eines Helikopters macht deutlich, dass die Gefahr omnipräsent ist.

Das Auto mag ein Faradayscher Käfig sein. Aber hier bietet die Hülle aus Stahl und Glas keinen Schutz. Man ist dem Spiel schutzlos ausgeliefert. Man wird zum Teil der Inszenierung. Zum Abschied klebt Moritz Holl einen blutigen Gruß an das Seitenfenster.

Wie in einer Waschanlage geht es einen Vorhang aus schwarzen Plastikstreifen geht es zur nächsten Station. Florian Barth setzt noch eins drauf. In einem dunklen Wald aus jungen Birken und Buchen steht die Kabine einer Seilbahn. Sie wirkt wie ein Dinosaurier-Ei mit Innenbeleuchtung. Auf alle Fälle ist die Kabine zu eng für die Staatsanwältin. Sie fühlt sich nicht wohl in dieser Haut aus Plastik.

Die Ansprache ist nun direkt und die Rollen haben gewechselt. Aus dem Betrachter wird der Beschuldigte. Man schlüpft in die Rolle von Moritz Holl und damit fällt die letzte Schranke.

Die Staatsanwältin ist gut vorbereitet. Sie weiß alles, was kurz zuvor auf der Lichtung gesprochen wurde. Man fühlt sich ertappt. Sie redet einem ins Gewissen wie die gute Tante Erzieherin in der Kindertagesstätte. Sie strapaziert den Begriff Vernunft und reiht die Argumente der systemimmanenten Logik aneinander. Sie verpflichtet das Individuum auf das Wohl der Gemeinschaft und an die Scheiben gepresst wird aus dem strengen Blick ein Fratze.

Es gibt ein letztes Angebot zur Zusammenarbeit. Sie kann aber auch drohen und damit ist sie “Good cop, bad cop” in einer Person. Mit dieser diabolischen Figur ist Dramaturg Matthias Heid ein ganz großer Wurf gelungen.

Zur nächsten Station. Nun steht der Wagen nicht mehr parallel oder frontal zum Schaukasten, sondern leicht angewinkelt. Das wirkt etwas legerer, schafft Entspannung. Paul Wenning zeigt an diesem Abend die größte Wandlungsfähigkeit. Er ist Holls Anwalt und erfüllt durchweg alle Vorbehalte gegenüber Winkeladvokaten.

Der Winkeladvokat in Person.
Foto: Thomas M. Jauk

Mit vielen wohlfeilen Worten lobt er Holls Mut und schwingt sich zum Bewunderer auf. Der gemeinsame Schluck Billigsekt soll Verbrüderung schaffen. Gemeinsam werde man das schaffen. Dann donnert ein Helikopter über die Szenerie und in die Texte des Anwalts mischt sich die erste Skepsis.

Dann springt eine weiße Gestalt aus der Dunkelheit und klemmt Papier unter den Scheibenwischer. Aussteigen nicht erlaubt, als wird man warten müssen, bis man aus dieser Geisterbahn heraus ist, um zu erfahren, was dort gedruckt wurde. Die Wandlung ist vollendet. Aus dem Bewunderer ist der juristische Abfertiger geworden. Der Der Anwalt bedient sich der Terminologie der "Methode". Das Urteil “Einfrieren auf unbestimmte Zeit” steht fest. Wenning schafft es, alle drei Phasen verlustfrei darzustellen. Sein Wandel wirkt nicht sympathisch aber immerhin verständlich.

Hamsterkäfig oder Tiefkühltruhe? Die in Neonlicht getauchte letzte Position vermittelt vor allem Einsamkeit. Ein Trimmrad wartet auf Bewegung. Andrea Strube spielt Mia Holl. Sie hat nicht nur den Bruder verloren, sondern auch den Glauben an die Methode. Von der Mitmacherinnen ist sie in den Status der Skeptikerin abgestürzt. 

Als Biologin fühlte sie sich dem System verpflichtet, nun hat sie alles verloren. Die Fundamente ihres Lebens sind weg. Die Stimme brüchig, die Schultern gebeugt. Strube gibt dem endlosen Schmerz eine Gestalt. Fast möchte man aussteigen und sie trösten. Das ist Mitleid in Jogginghosen und was dies bedeutet, hat schon Karl Lagerfeld verdeutlicht.

Zurück geht es zum Kassenhäuschen. Der Wärter erklärt dem Besucher dessen Verfehlungen. Er stellt eine Gefährdung dar und muss das Gelände sofort verlassen. Das Spielt wirkt so echt, dass sich nun Erleichterung einstellt.

Zur rechten Zeit

Intensive Bilder und die Intimität zwischen Publikum und Darsteller in einer neuen Dimension. “Die Methode” wäre so im gewohnten Theatermodus gar nicht möglich. Antje Thoms hat mit dieser Inszenierung das Übliche gesprengt. Trotz der Hülle “Auto” sind die Grenzen zwischen Darsteller und Publikum endgültig aufgehoben.

Tiefkühltruhe oder Hamsterkäfig?
Foto: Thomas M. Jauk 
Die Schauspieler wechseln sich regelmäßig ab. Jeder erfährt seine ganz eigene Vorstellung, es gibt keine Wiederholung, nichts wird so sein, wie es eben gerade noch war. Darsteller und Zuschauer kommen sich ungewöhnlich nahe. Damit treibt Thoms die Individualität auf die Spitze in einem Augenblick, in dem das Verhältnis von Öffentlich und Privat gestört ist. Das Theater durchdringt an alle privatesten Raum des Autos. Damit hat sie eine neue Form der Darstellung zur rechten Zeit gefunden.

Der “Corpus Delicti” von Juli Zeh taugt nur bedingt als Blaupause. Die gelernte Juristin zeigt in ihrem Roman, wie das Individuum vom Kollektiv auf alle Zeiten geschluckt wird. Corona ist eine konkrete und singuläre Bedrohung und kein Dauerzustand. Doch dem Deutschen Theater gelingt es, zu zeigen was danach kommen kann, was blüht, wenn aus einem Einzelfall eine permanente Bedrohung konstruiert wird.





Material #1: Deutsches Theater - die Homepage
Material #2: Die Methode - das Stück

Material #3: Corpus Delicti - das Buch

Dienstag, 5. Mai 2020

Gegensätzliches Doppel

Zwei opulente Bücher - Beide anders

Die Parallelen liegen auf der Hand. Karl Lagerfeld und Peter Lindbergh gehören zu den Ikonen der internationalen Modeszene. Beide haben Maßstäbe gesetzt, der eine als Modeschöpfer, der andere als Modefotograf. Ihre Wege haben sich mehrfach gekreuzt und im letzten Jahr sind sie verstorben. Zeitgleich sind nun zwei opulente Bücher, die eine Überblick über ihr schaffen bieten soll.

Zu beiden gibt es derzeit eine Retrospektive als Werkschau. Der eine wird in Halle gezeigt, der andere wird in Düsseldorf ausgestellt. Die beiden Bildbände dazu machen eher die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten deutlich.

Das eine Buch heißt schlicht „Karl Lagerfeld – Fotografie“, das andere „Peter Lindbergh – On Fashions Photograhpy“. Finden sich die Parallelen auch in gedruckter Form wieder?

Lagerfeld

„Gerhard Steidl ist der beste Drucker der Welt.“ Mit diesem Lob hatte Lagerfeld schon vor Jahren den Göttinger geadelt. Schließlich geht die Zusammenarbeit der beiden schon bis in die Mitte der 90-er Jahre zurück. Der passionierte Fotograf Karl Lagerfeld ließ seine Bilder in Buchform in Göttingen veröffentlichen.

„Karl Lagerfeld - Fotografie“ ist eine Rundumschau über sein Schaffen mit der Kamera. Es versammelt Bilder aus den späten 80-er Jahren bis ins Jahre 2018. Es ist nicht mehr als der Katalog zur Ausstellung und damit nur ein Appetithäppchen.

Aber es ist ein Galamahl für Bibliophile., Buchkunst in Vollendung Es ist eine Fest der Sinne und ein weiterer Beweis, warum analoge Haptik digitaler Optik immer noch überlegen ist. Das Format von 24,5 mal 32 ergibt eine Diagonale von 22 Zoll. Das wirkt.

Das ungestrichene Papier in 150er Qualität ist nicht nur warm und angenehm zu greifen. Drucktechnisch nicht ganz einfach, zaubert es aber weiche Farben in unendlichen Abstufungen. Das wird besonders bei den Daguerreotypien und Platinotypien deutlich.

In der Einleitung betont Gerhard Steidl, dass sein Partner Lagerfeld in allen Dingen eine Perfektionist war. Offensichtlich sind hier die passenden Gemüter aufeinander getroffen. Deswegen hielt die Zusammenarbeit über mehr als 25 Jahre und 49 Werke lang.

Der Meister fotografiert sich selbst. 
Fotos: Thomas Kügler
Der Zugang zu Lagerfelds Bilder ist nicht einfach. Er gelingt nur, wenn man die Erläuterungen von Hubertus Gaßner gelesen hat und sich immer wieder vor Augen führt.

Es sind verkopfte Bilder, die man zu schätzen weiß, wenn man antike Mystik und barocke Kunst zumindest ansatzweise im Hintergrund mitführt. Ansonsten bleibt es ein bloßes Betrachten, stellt sich keine Verstehen ein.

Lagerfeld verweigert den Betrachter den emotionalen Zugang zu den Dargestellten. Vielleicht hat der Fotograf Lagerfeld auch nie diesen gewissen Draht zu den Abgelichteten gefunden. Einzige Ausnahmen sind die die Portraits von Brad Kroenig in „Metamorphes of an American“.

Lagerfeld lebt sein Faible für Barockes aus. Er greift das Mittel der Tableaux vivants, der lebenden Bilder auf, und sorgt mit kleinen Brüchen in den Details gleichzeitig für ihre Ironisierung. Alles ist artifiziell, alles ist gestellt, alles ist Pose. Er macht auch kein Hehl aus der Inszenierung und damit ist er ehrlicher als Lindbergh.

Hier ist nichts lebendig und die Models starren am Betrachter vorbei in die Ferne. Da ist keine Beziehung zwischen dem Mensch am Auslöser und den Objekten vor der Kamera. Damit kann auch das Publikum keinen Zugang finden. Lagerfeld bleibt der Modefotografie der 60-er Jahre verhaftet.

Lagerfeld zitiert Feininger, Stettheimer oder Hopper. Es sind gut gemachte Zitate, aber eben nicht mehr. Erst in der Überhöhung des Artifiziellen in der Serie „Fendi“ findet er 2011 einen eigenen Ausdruck. Das vielfache Spiel mit dem Bild, der Kopie und dem Original verwirrt und bezieht dann doch Position: Nichts ist so wie es scheint.

Aber wirklich lebendig werden die Bilder erst dann, wenn Lagerfeld sich selbst porträtiert. Zumindest zu seiner Person findet er einen Zugang. Ungewollt verdeutlicht das Werk damit die Einsamkeit des Karl Lagerfelds.

Lindbergh

“Peter Lindbergh - On Fashions Photgraphy”: Dieses Buch ist ein Hammer und es trifft einen mit voller Wucht. Deshalb sollte man es nur in kleinen Häppchen. Peter Lindbergh hat die Modefotografie geändert und über Jahrzehnte geprägt. Er hat die Grenzen zwischen Kunst und Kommerz aufgehoben. “On Fashion Photography” macht deutlich, warum.

Lindbergh hatte das Glück, das Vorwort zu diesem Werk noch selbst schreiben zu können. Schließlich hat seine Ausstellung "Untold Stories" noch selbst kuratiert. Er gibt dort einige Erläuterungen zu seinem Werdegang und seiner Berufsauffassung. Dazu gehört eben auch der Begriff des Erzählens. Geschichten erzählen mit der Kamera, mit Licht und Schatten, Schärfe und Unschärfe, eben mit den Mitteln der Fotografie.

Anders als im Falle Lagerfeld braucht man diese Worte nicht, um das Werk zu verstehen. Die Bilder sprechen für sich. Der Zugang ist jedem möglich, der sehen kann.


Der Meister und die Models.
Foto: Kügler
Deshalb kann man es in eine Frage und eine klare Antwort fassen. Was macht die Erzählung aus? Niemals die Kleider.

Es ist der Mensch, den Lindbergh ablichtet, den kompletten Menschen gefasst in einen Sekundenbruchteil. Die Grenze zwischen Fotograf und Motiv ist aufgehoben. Der Mann aus Düsseldorf muss ein Magier gewesen sein. Selbst dem spröden Lagerfeld konnte er zweimal ein breites Lächeln entlocken.

Diese Magie wird gleich klar. Der Einstieg erfolgt mit jenen legendären “White Shirts” für die amerikanische Vogue. Das Bild, entstanden 1988 am Strand von Malibu, hat das Genre verändert. Sechs Top-Models im albernen Spiel miteinander, so viel Lebendigkeit gab es in der Modefotografie bis dahin nicht. Danach war alles anders.

Hier verspielte Jugend, dort entspannte Erfahrung. Das Portrait von Pina Bausch ist wie ein Blick zurück auf ein ganzes Leben. Die Kamera taucht hinab das Innerste der Tanzikone. Lindbergh schafft es, eine komplexe Erzählung in ein einziges Bild zu packen. Das ist ganz große Kunst.

Erst spät hat Lindbergh die Farben entdeckt. Selbst dort blieb er noch reduziert. Die meisten Werke sind schwarz-weiß. Im Vorwort erklärt der Fotograf seine Vorliebe zu den tiefen Tönen. So wird die Konzentration auf das Motiv noch einfacher. Wenige Seite hinter Bausch lässt sich Richard Gere in die Seele blicken. Sein Kopf und Schopf tauchen gewissermaßen auf aus einem unbekannten Meer. Das Konzept der Konzentration erreicht hier den Höhepunkt.

Aber man sollte sich nicht täuschen lassen. Man merkt gar nicht, dass es um die Präsentation von Oberbekleidung geht, so sehr stehen die Menschen im Vordergrund. Das Tuch tragen sie  ganz selbstverständlich, sie werden eins.

Auch wenn die Sprache häufig rau und spröde ist, das Make Up unsichtbar bleibt und vieles beiläufig wirkt: Hier wurde nichts dem Zufall überlassen. Alles ist arrangiert. Auch wenn die Bilder wie Schnappschüssen vom Set wirken, sie sind alles, nur kein Beifang. Damit gleichen sich Lagerfeld und Lindbergh dann doch.

Das Buch ist der der Hammer und es trifft einen mit voller Wucht. Die 440 Seiten sollte man häppchenweise genießen. Sonst wird man von den Eindrücken erschlagen.





Material #1: Karl Lagerfeld - Das Buch
Material #2: Peter Lindbergh - Dem sein Buch