Mittwoch, 30. Oktober 2013

Auf der Fahrt ins Unglück nirgendwo ankommen

Peter Grimes am Theater Nordhausen klärt die Schuldfrage nicht wirklich

Prolog: Es gegebenen Anlass hier noch mal die Rezension zur Inszenierung von Peter Grimes am Theater Nordhausen im Frühjahr 2012.

Der Vorhang geht nicht auf. Das Ensemble wartet auf das Publikum, Peter Grimes steht am Rande. Die Fronten sind klar: Hier kämpft einer gegen die Masse. Der, der am Rande steht, gegen die, die Bühne beherrschen. Deswegen gilt die Rolle des Fischer Grimes als eine der anstrengendsten in der zeitgenössischen Oper. Ständig muss ergegen jemanden ansingen. Aber Joshua Farrier in der Titelrolle kann das, er hat genug Stimme dafür.
Was das Auge beim zweiten Blick fesselt, das ist das Bühnenbild. Karg und variabel wird es vom Wasser beherrscht. Mal kämpft Grimes gegen das Element, als Anti-Held in Ölzeug, mal ist die Wasserfläche der Spiegel der verzweifelten Seele und Ort der Sehnsucht. Die Bühne ist auch Weite und Leere, Haltlosigkeit und Verlorenheit. Ohne Umbau dient die Bühne mal als Gerichtssaal, mal als Hafenspelunke, ein anderes Mal als Kirche oder als Fischerhütte. So werden die klaustrophobischen Bedingungen eines ostenglichen Fischernest verbaut, in dem sich - wie in allen Käffern der Welt - immer wieder die selben Menschen um die selben Orte drehen. Wirklich, hier ist Wolfgang Kurima Rauschning ein großer Wurf gelungen.
Man sitzt über Peter Grimes (Joshua Farrier, links)
zu Gericht. alle Fotos: Theater NDH/ Tilmann Graner

Es wird über Peter Grimes verhandelt. Der Fischer soll schuld sein am Tode seines Lehrjungen. Von Misshandlung ist die Rede, aber Grimes übersteht die Verhandlung ohne Strafe. Doch es ergeht der weise Rat, dass er künftig auf einen Lehrling verzeichten soll. Doch dies heieß für Grimes, auf seinen Traum von einer gesichertern Existenz und die Ehe mit der Lehrerin Ellen Orford zu verzichten. Wie weit darf eine Gemeinschaft die Lebensentwürfe ihrer Mitglieder kontrollieren? Welches Glück des Einzelnen ist höher zu bewerten? Der zwielichte Apotheker Ned Keene besorgt dem Fischer einen Lehrling aus dem Waisenhaus. Der Junge wird verschachert wie ein Stück Vieh. Sein Leid muss er klaglos ertragen. Wieland Lemke versteht es, alle Aspekte dieses scheinbaren Ehrenmannes Keene zu beleuchten.
Ellen Orford trifft auf John und überall sind
Wasser und Schiffe. Foto: Tilmann Graner
Ihren stärksten Auftritt hat Sabine Mucke als Ellen Orford am Beginn des zweiten Aktes, als sie Spuren der Mißhandlungen an Grimes Lehrling John   feststellt. Alle Hoffnungen auf eine wundersame Wendung fahren dahin. Gegen das Beharrungsvermögen des Geliebten kommt sie nicht an. Einen Neuanfang anderswo will und kann Grimes nicht wagen, den ersten Ratschlag seines Freundes Balstorde will er nicht akzeptieren. Die Präsenz des Gastsänger Kay Stiefermann ist beeindruckend, seine kurzen Auftritte beherrschen die Szene. Durchsetzen kann er sich trotzdem nicht. Wie in der griechischen Tragödie kann der Weg nur in den Abgrund führen. Dieser ist erreicht, als John zu Tode kommt.
Wenige Andeutungen der Witwe Sedley reichen, um den Mob zu wecken. Die Menge will mit Lynchjustiz Sühne erzwingen. Grimes entgeht diesem Schicksal nur, weil Balstrode den Konflikt lösen kann. Der Fischer fährt mit dem Boot hinaus, um nirgendwo anzukommen. Alles, was bleibt, ist ein einsames Papierschiff; dieses Schlussbild prägt sich ein
Der Mob sinnt auf Lynchjustiz. Foto: Graner
Auch die Rolle der neurotischen Witwe Sedley ist mit Jie Zhang hervorragend besetzt. Sie bringtalle Facetten kleinbürgerlicher Bigotterie zu glänzen. Am November wird die vielfache prämierte Sängerin in der selben Rolle am Theater für Niedersachsen in Hildesheim zu sehen sein.
Es ist ein herausragendes Merkmal dieser Inszenierung von Toni Burkhardt, das alle Positionen bis in den Chor hinein auf hohem Niveau ausgefüllt werden. Nicht einzige Rolle fällt gegen einen anderen Part ab. Einzel- und Kollektivleistungen ergänzen einander.
Mit der Uraufführung im Jahre 1945 fällt die Oper von Benjamin Britten in die Glanztage der Massengesellschaft. Dennoch bleibt die Auseinandersetzung zwischen dem Einzelnen und den Anderen nicht bei einfachen Schuldzuweisung stehen. Nach 30 Jahren Ego-Gesellschaft erscheint die Auseinandersetzung eher wie das Aufbrausen des Sturrkopfs gegen die Schwarmintelligenz. Doch das Opfer ist der stimmlose John.


Die Website von Toni Burkhadt
Die Besetzung
Die Website von Wolfgang Kurima Rauschning
Das Theater Nordhausen

Premiere am 9. November: Peter Grimes am TfN in der Selbstdarstellung
Zum Vergleich: Besprechung zu Peter Grimes in Hildesheim

Mittwoch, 23. Oktober 2013

Der Flut nicht ganz freiwillig entkommen

TfN und Kinderchor inszenieren Brittens Noah

Zwischen den Oper-Titanen Wagner und Verdi wird Benjamin Britten in diesem Jahr fast zerrieben. Wenigstens das Theater für Niedersachsen setzt einen eigenen Schwerpunkt zum 100. Geburtstag des Erneuerer des Musiktheaters . Auftakt der Britten-Tage in Hildesheim war am 19. Oktober die Inszenierung der Kinderoper "Noah und die Flut" in der Lamberti-Kirche. Die Koproduktion von TfN, TfN-Kinderchor und Musikschule Hildesheim schafft den Spagat zwischen altersgerecht, ansprechend und anregend. Der härteste aller Kritiker, sieben Jahre alt, theateraffin und theatererprobt, bestätigt das Urteil.
Die Einführung in das Werk macht der musikalische Leiter Achim Falkenhausen. Er erzählt von Brittens Absicht, auch das Publikums beziehungsweise die Gemeinde aktiv in das Stück einzubinden. Bei der Premiere 1958 sicherlich ein Novum. Falkenhausen verweist noch auf die mittelalterlichen Mysterienspiele als Vorlage, die dem unbelesenen Volk die Geschichten der Bibel näher bringen sollten. Das muss als Einführung reichen. Der härteste aller Kritiker ist zufrieden. "Ich mag es nicht, wenn die Leute am Anfang so viel reden", ist seine Begründung. Die sollten lieber gleich zur Sache kommen und die Zuschauer nicht vom Zuschauen abhalten.
Der Schöpfer erscheint Noah und dem ist
wohl schwindelig. Fotos: Hartmann/TfN
Es erscheint der Schöpfer, aus der Tiefe des Kirchenraums, begleitet von schwarzen Engeln. Er beginnt sein Werk,wirft die Gestirne an die Bühnenwand und bläst den Erdenball auf. Die Animation erzählt in einfachen, fast kindlichen Bildern biblische Geschichten im Zeitraffer vom Sündenfall bis zum Tod Christi. Der Kritiker schaut fasziniert zu und versteht sofort. Doch der Herr schlüpft aus dem Rauschgewand und legt den Bart ab, denn es kommt ein Rollenwechsel. Nun ist er nicht mehr der gütige Schöpfer, sondern ein Dompteur, ein Lebemann und ein Gott der Rache angesichts der menschlichen Verfehlungen. Dieter Wahlbuhl grantelt sich so richtig in Rage, dass es eine wahre Freude ist, ihm beim Ärgern zuzuschauen.
Herr und Frau Noah treten auf den Plan, Gott sei dank nicht in Sack und Asche gewandet, sondern gekleidet wie ein Paar von nebenan, wie gute  Nachbarn eben. Levente György beweist in der Titelrolle von Beginn an Stimmgewalt, schließlich gilt es die gotische Hallenkirche auch bis in die letzte Sitzreihe auszufüllen. Das wird an diesem Abend nicht allen gelingen. György Stimme ist klar und deutlich, während Theresa Hoffmann sich erst im Laufe der Veranstaltung an den ungewohnten Veranstaltungsort heransingen muss.
Wer vom Herr auserwählt wird, zumindestens einen Teil der Schöpfung zu retten, der reagiert angesichts der Größe der Aufgabe verständlicherweise mit einer ordentlichen Portion Skepsis. Diese Reaktion und den Unglauben des Noahs an die eigene Leistungsfähigkeit vermittelt Levente György in der Regie von Sascha Mink glaubwürdig. Als er zu Handeln beginnt, zeigt sich hier die Einsicht in die Notwendigkeit. Auch diesen Wandel kann Levente György dem Publikum vermitteln.
Frau Noah (Theresa Hoffmann, Mitte) möchte der
Einladung zur Schiffsreise nicht folgen.
Der Glaube an die Alternativlosigkeit, der geht fehlt der Gattin völlig ab. Ihre Weigerung ist aber nicht die Suche nach einer anderen Lösung, sondern ist das Beharren in alten Verhaltensmustern, selbst angesichts der Katastrophe, die sichtbar am Horizont aufzieht. Vielleicht auch, weil die Gewohnheiten Schuld sind an der Rache des Herrn. In der Rolle der widerspenstigen Gattin lebt Theresa Hoffmann sichtbar. Es ist aber auch der Anreiz für die Erwachsenen, aber über das eigene Verhalten zu reflektieren. Hier liegt das Besondere dieser Inszenierung. "Noah und die Flut" ist kein Singspiel nach biblischen Motiven. Sascha Mink und Dramaturgin Bettina Braun zeigen  Spannungen und machen Konflikte deutlich. Das erwachsene Publikum hat etwas zum Nachdenken, das junge Publikum versteht es auch. Das ist die Stärke dieser Aufführung. Deswegen schaut der härteste aller Kritiker gebann zu und möchte auch nicht gestört.
Schon die räumliche Trennung macht diese Distanz deutlich. Statt auf der Hauptbühne im Mittelschiff mit der Familie am Bau der Arche zu arbeiten, trifft sich Frau Noah lieber mit den schwarzen Damen auf der Nebenbühne im linken Kirchenschiff zum Kaffeeklatsch. Dabei taucht das Licht die Szenerie in ein mystisches Lila und zeichnet monströse Schatten an die Wand.
Währenddessen arbeiten Sem, Ham, Jaffet und ihre Frauen frohgemut am Bau des Rettungsbootes. Als Chor funktionieren David Hauschild, Christopher Schreiber,Claudio Gottschalk-Schmitt, Rebecca Faider, Marie Krieger und Ruth Wilken erstaunlich gut. Gerade die drei jungen Damen singen ihre Tatkraft überzeugend in den großen Raum.
Dieses Boot ist eindeutig voll.
Theater für Kinder braucht keine naturalistische Darstellung. Besser als Erwachsene verstehen sie symbolisches Handeln und die Bededutung der Requisiten. Dies ist keine neue Erkenntnis, aber es ist schön, sie in dieser Aufführung wiederzutreffen.
Auch das Zusammenspiel zwischen den Profimusikern des TfN und den Nachwuchskräften der Musikschule Hildesheim funktioniert reibungslos. Mit Dynamik unterstreicht das Ensemble die dramatischen Momente. Dabei  übertönt das Orchester im Sturm selbst die Sänger. Dies ist aber geplant und wurde von Achim Falkenhausen zu Beginn angekündigt. Deswegen bat er die Gemeinde um stimmliche Unterstützung.
Bei der Ankunft der Tiere zeigt sich kein Zug der Verdammten. Der Reigen der Passagiere erinnert eher an einen Karneval der Tiere, das liegt sicher auch an dem ungewöhnlichen Instrumentarium Brittens, in dem auch eine Teetasse schon einmal eine Rolle übernehmen darf. Alle Beteiligten strahlen puren, wunderbaren Optimismus aus. Trotz aller Gefahren wartet ja am Ende des Regenbogens ein neues, reines, unbeschwertes Leben auf die Überlebenden. Dies ist eine weitere Gewissheit aus dieser Aufführung.
Kühe brauchen keine Hörner, um als Rindviecher erkannt zu werden. Es reichen ein paar Kuhflecken in schwarz-weiß. Die einfache Symbolik der Kostüme von Elisabeth Benning lädt die Zuschauer viel mehr zu einer Erkundungstour ein. Der härteste aller Kritiker nimmt diese Einladung gern an und macht dabei viele Entdeckungen.
Sein Fazit fällt kurz und knapp aus. "An diesem Stück gibt es nichts auszusetzen", lautet dasUrteil des härtesten aller Kritiker. Somit ist es dem TfN gelungen, Brittens Versuch, das junge Publikum an das Musiktheater heranzuführen und es damit auf natürlichem Wege zu erneuern, 55 Jahre nach der Uraufführung zeitgemäß fortzuführen.

"Noah und die Flut" in der Selbstdarstellung

Der Spielplan im Theater für Niedersachsen

Brittens "Peter Grimes" am TfN

Zur Bildergalerie

Was der härteste aller Kritiker sonst noch zu sagen hat

Sonntag, 13. Oktober 2013

Das Leben wohnt im Herz

Dominique Horwitz liest Momo im Kreuzgang


Man kann eine Geschicht  mit Musik erzählen und man kann diese Geschichte mit Musik auch mal ganz anders erzählen als alle anderen. Dies stand am Ende des Momo-Abends mit Dominiqaue Horwitz und dem David Orlowski Trio im Kloster Walkenried am 12. Oktober. Für die neue Sicht auf den Kindebuchklassiker bedankte sich das Publikum mit anhaltendem Applaus.
Dominique Horwitz liest Momo, lautete die Ankündigung. Dominique Horwitz las aus Momo,wäre richtiger. Das Konzept des Abend ist nicht das chronologische Vortragen eines allseits bekannten Textes. Schließlich ist Momo von Michael Ende seit 40 Jahre das Manifest der Entschleunigung, auch wenn es diesen Begriff in den 70er Jahren noch nicht gab. Anstatt also Kapitel an Kapitel zu reihen konzentrierte sich Horwitz auf drei Passagen, die exemplarisch für Handlung und Botschaft des Werkes stehen. Da ist das Eindringen der grauen Herren in die unbekümmerte Gemeinschaft, der Versuch des Friseur Fusi durch den Vertrag mit der Zeitsparkasse dem eigenen Leben Bedeutung zu verleihen und das Treffen vom Momo und Meister Secundus Minutius Hora.
Selbst das Licht spielt eine Rolle
in dieser Lesung. Fotos: tok
Auf diesen drei Pfeiler kann jeder die Geschichte weiterspinnen. Ach ja,in der Zugabe erklärt Dominique Horwitz noch die Besonderheit des Mädchen Momo. Weil sie so gut zuhören kann, erzählt ihr jeder mal als er eigentlich wollte. Merke: Zur gelungenen Kommunikation gehört auch das Zuhören.
Zuhören kann man Horwitz gut. Der Mime hat eine angenehme Stimme, deren Breite sich durch die Akustik im Kreuzgang erst richtig erschließt. Fünf Rollen liest Horwitz an diesem Abend, aber alle mit einer Stimme. Er hat nicht für jede Figur eine eigene Tonlage, wie manch anderer Vorleser. Er variiert seine eine eigene Stimme mit feinen Nuancen. Und er ist der Meister der Kunstpause. Er schafft dort Lücken zum Nachdenken, wo andere im Text weitergehen würde. So hat der Zuhörer nicht nur die Gewißheit, dass das Leben im Herzen wohnt, sondern dass das Abenteuer im Kopf stattfindet.
In diese Lücken stößt das David Orlowsky Trio. Es bereitet nicht nur den Klangteppich, auf dem Horwitz und das Publikum ihre Sicht von Momo auslegen können. Es greift den Faden auf und erzählt die Geschichte mit seinen Mitteln weiter, lenkt sie sogar in eine andere Richtung.
Diese Lesung ist keine Veranstaltung der Gattung: Künstler liest aus einem Buch, das auf einem Tisch ausgebreitet ist. Es gibt keinen Tisch und keine Schranken. Das Ensemble ist gleichberechtigter Partner. Ihm bleibt auch der Auftakt vorbehalten. Noch bevor ein Wort gelesen ist, haben David Orlowsky, Jens-Uwe Popp und Florian Dohrmann deutlich gemacht, dass sie nicht vorhaben, dieses Manifest der Toskana-Fraktion mit musikalischer Larmoyanz zu untermalen. Es geht gleich ab. Orlowskis Klarinette hetzt durch alle Tempi des Klezmer, sie brummelt in den Bässen und kreischt in den Höhen, angetrieben von Popp an der klassischen Gitarre. Sind das nun drei Jazzer, die Klezmer spielen oder drei Klezmatiker, die gerade jazzen. Egal! Beide Musiken funktionieren nach dem selben Muster: Man einigt sich auf ein Thema, auf Phrasen, die in ausgiebigen Soli variiert und ausgebaut werden, und am Ende treffen sich alle wieder. Deswegen taucht das Motiv des ersten Lied zum Schluß eben noch einmal auf.

Zum Schluss gab es Blumen für alle
Leider sind diese Solo-Anteile sehr ungleich verteilt. David Orlowski lässt seinen Mitspieler kaum Raum, sich selbst zu entwickeln. Fast meint man, er ist bestrebt, die anderen unnötigerweis an die Wand zu spielen. So ist doch Jens-Uwe Popp ein hochprämierter Mann an den Saiten.
Doch warum Klezmer? Nein, es ist nicht der Versuch, die mediterrane Handlung in ein osteuropäisches Stetl zu verlegen. Klezmer ist Trotz. Klezmer ist die Musik, die angesichts aller widrigen Umstände sagt: Es geht auch anders und das Leben macht Spaß. Damit ist das David Orlowski Trio ein bestimmender Teil dieser überraschenden Interpretation eines Werkes, das immer wieder gelesen oder gehört werden sollte.

Die Kreuzgang-Konzerte.

Die offizielle Horwitz-Website.

Das David Orlowsky Trio.
 

Samstag, 12. Oktober 2013

Desdemona hat nicht geredet, aber getanzt

Ballettkompanie Nordhausen zeigt Shakespeare, wie er hätte auch sein können

William Shakespeare und Prince haben Gemeinsamkeiten. Sowohl der Theater-Titan aus dem frühen 17. Jahrhundert und der Pop-Gott aus dem späten 20. Jahrhundert kennen diese schwere Enttäuschung, die in tiefe Verzweifelung mündet. Beide können sie so ausdrücken, das auch jeder sie versteht, und beide kennen sich mit theatralischen Momenten aus. Das ist nur eine Gewißheit aus "Shakespeare. Ein Ballett". Diese Eigenproduktion der Ballettkompanie Nordhausen sprüht vor Ideen aus der Kategorie "Es hätte auch so ausgehen können". Doch die Erzählung mit vielen Wendungen und Überraschungen glänzt auch mit humorvollen Seiten und mit Bildern voller Klarheit und Optmismus. Bei der Premiere im Theater Nordhausen bedankte sich das Publikum mit langanhaltenden Applaus.

Shakespeare und seine Figuren bleiben sich
anfangs
fremd. Fotos: Tilmann Graner/Theater Ndh
Zu den bekannte und unbekannten Seite des Mannes aus Stratford-upon-Avon und seines Schaffens stellt Jutta Ebnother  eine Choreographie, die viele  Möglichkeiten des Tanztheaters nutzt. Michael Ellis Ingram ergänzt das gemeinsame Werk mit einer Musikauswahl, die Shakespeare durch die Jahrhunderte transportiert, von den varocken Klängen des Henry Purcell bis zur Polyrhythmik eben jenes Prince Rogers Nelson. Somit ist klar: Der Mann aus dem elisabethanischen Zeitalter wirkt noch heute.
Das Bühnenbild ahmt das legendäre Globe-Theatre nach, auch ein  Balkon darf nicht fehlen. Die Bühne erinnert an eine Stierkampf-Arena und liegt damit nicht so falsch. Shakespeare heißt immer Kampf und meist endet dieser tödlich. Auch der Titelheld wird bald in den Kampf gegen das Eigenleben seiner Figuren treten.
Das Duett von Romeo (David Roßteutscher) und Julia
(Irene Lópes Ros) ist Hingabe pur
. Foto: Graner
Für ihre Hommage an den großen Dramatiker hat sich Jutta Ebnother auf sechs seiner Werke und dessen Hauptfiguren konzentriert. Aus den Büchern befreit, entwickeln die elf Figuren Handlungen, die so nicht im Skript stehen und die sicht der SChöpfer auch ganz anders gedacht hat. Da wird gemobbt und gefoppt, gefightet und  gerungen, geliebt und geliebt, wie wir es bisher noch nicht kannten. Anfangs wirkt Shakespeare wie Goethes Zauberlehrling, der den Kampf mit den Geistern, die er rief, nicht gewinnen kann. Nur sind es eben nicht die Geister sondern die Helden seiner Werke, die ein Eigenleben entwickeln. Doch Shakespeare wächst mit seinen Aufgaben. Wird er anfangs noch zum Esel aus dem Sommernachtstraum gemacht, beherrscht er Stück für Stück das Geschehen immer, kann seine Figuren hin- und herschieben und die letztendlich die Geister, die er rief, auch wieder wegschicken. Da ist es logisch, dass Shakespeare der einzige ist, der zum abschließenden Hochzeitsmarsch von Mendelssohn Bartholdy noch die Hosen anhat.
András Dobi gelingt es in der Titelrolle, all diese Wandlungen im Laufe des Stückes auch glaubwürdig umzusetzen. Er ist Geck, Grübler und Geschichtenlenker in einem oder auch hintereinander. Bester Ausdruck der zurückgewonnen Souveränität ist Dobis letztes Solo. Die Lichtführung erlaubt ihm die Zwiesprache mit seinen eigen Schatten. Wer mit dem Licht spielen kann, der wird auch mit seinen eigenen Erfindungen fertig.
Das hat der Dichter nich gewollt: Jago
und Petruccio streiten um Ophelia.
Zum einen verbleibt "Shakespeare. Ein Ballett" in bekannten Mustern: Die Romanze von Romeo und Julia endet in einem Duett, dass an Hingabe und Liebe kaum zu übertreffen ist, trotz eines zwischenzeitlichen Zickenkriegs. Kirill Kalashnikov ist ein Puck, der das Treiben der schwermütigen Menschen um sich herum nicht ernst nehmen mag.
Zum anderen entwickeln Ebnother und Dramaturgin Anja Eisner Szenen, die durch den unkonventionellen Umgang mit den Vorlagen überzeugen. Hamlet kommt eher per Zufall an seine berühmte Requisite, weil weder Shakespeare noch Puck eine Verwendung für einen Schädel haben. Es ist Titania und nicht Oberon, die anderen die Eselmaske aufsetzt. Romeo und Ophelia tanzen dermaßen verliebt, dass man denken mag "Mädel, nimmt lieber den Jungen aus Verona und nicht den schwindsüchtigen Dänen-Prinz. Dann bekommt die Geschichte vielleicht doch ein glückliches Ende." Doch alles Hoffen hilft nichts, denn Shakespeare hat Ophelia schon zuvor in der "When Doves Cry"-Szene zum Leiden ausgewählt.
Zum Schluss ist Shakespeare wieder der Herr im Haus.
"Shakespeare. Ein Ballett" ist keine Hommage im herkömmlichen Sinne, sondern eine Auseinandersetzung mit sechs Werken des Dramatikers und mit seiner Person. Doch die Auseinandersetzung verbleibt nicht im Historismus. Kreative stehen immer noch vor demProblem, dass ihre Kreaturen ihnen eines Tages über den Kopf wachsen. Die Frage, ob ein Autor wirklich alle Aspekte seines Werke überblicken kan, ist ja auch ein rhetorische Frage. Wer aber alle Zitate und alle Gegenentwürfe verstehen will, der muss in diesem Konzentrat des Shakespeareschen Werkes schon mit den Grundlinien vertraut sein. Wer sich da unsicher fühlt, kann vor der Aufführung von "Shakespeare.Ein Ballett" die Einführung im Rangfoyer nutzen.

Das Stück in der Selbstdarstellung.

Der Spielplan im Theater Nordhausen.

Hamlet in Nordhausen.

Othello bei den Domfestspielen Gandersheim.

Der Sommernachtstraum im Jungen Theater Göttingen

Shakespeare mal im Marx-Brothers-Modus gespielt.

Dienstag, 1. Oktober 2013

Goethe in mächtigen Bildern

Zurmühle zieht alle Register beim kompletten Faust

Für Johann Wolfgang von Goethe war der Faust in wahrsten Sinne sein Lebenswerk. Die Legende vom Doktor Faustus, der an seinen eigenen Ansprüchen scheiterte, begleitete den Dichterfürst  über 60 Jahre lang von  1770 an. Schließlich sollte es das Stück sein, welches das Leben, das Universum und den ganzen Rest erklärt. Aus der Erkenntnistragödie wird die Gretchentragödie und die wird zur Menschheitsparabel, fürwahr ein ambitioniertes Programm.

Von ähnlichen Ambitionen muss Mark Zurmühle getragen worden sein. Zum Schluss seiner Intendanz am Deutschen Theater in Göttingen fasste er den kompletten Faust komplett in eine Neuinszenierung.Auch das ist fürwahr ein ambitioniertes Projekt, daswohl allen Beteiligten viel abverlangt. Die Premiere in der Lokhalle beeindruckte mit monumentalen Bildern, die manchmal den Blick auf die Schauspieler verstellen.
Selbst am  Ostersonntag gelingt Faust und Wagner der
Kontakt mit der einfachen Freude nicht. Fotos: DT
Faust ist immer noch das meistgespielte Werk an deutschen Bühnen, aber beide Tragödien hintereinander zu spielen, dieses Wagnis gehen nur wenige ein. Die inhaltlichen Differenzen sind nicht ohne weiteres glattzubügeln. Beide Werke an einem Abend zu spielen ist ein gigantisches Vorhaben, dass die herkömmlichen Räume des Theaters sprengt. Damit ist die Verlegung in die Weite der Lokhalle nur logisch. Vier Stätten können dort bespielt werden, das Publikum muss Platz und Perspektive wechseln und so wird die Halle selbst und der Gang durch die Räume zum festen Bestandteil der Inszenierung. Aber die intelligent Lichtführung setzt die Akzente, rückt in den Fokus, verhindert das Verlieren im Endlosen,konzentriert sich aus das Wesentlich und bewahrt das Publikum vor der Dominanz der Architektur. Trotzdem hält sich Eleonore Bircher angenehm zurück. Der Verzicht auf die Möglichkeiten und die Reduktion auf das Notwendig erleichtert dem Publikum die Konzentration auf das Wesen. Doch wie sieht dieses Wesen aus? Was wird transzendiert?

Faust (oben) läßt sich vom
Pudel den Kern erklären.
Für das "Ich erkläre euch alles und die ganze Welt dazu"-Stück hat Mark Zurmühle  das ganz große Besteck ausgepackt und serviert alles, was das Theater des 20. Jahrhunderts zu bieten hat. Der Regisseur übernimmt die Logik des Autors und setzt die Vorlage konsequent um. Albrecht hat den Soundtrack für dieses Theater geliefert und er lotet alles aus zwischen den Polen "still und besinnlich" und "bombastisch und erdrückend". Dies verstärkt die Bilder, die bleiben, und Ziepert rundet so die Göttinger Inszenierung in der dritten Dimension konsequent ab.
 Goetthe griff auf den Knittel- und den Madrigal-Vers des ausgehenden Mittelalters zurück, um Anachronismen zu nutzen. Warum Zurmühle bei aller Jetzt-Zeitigkeit der Mittel sprachlich fünf Jahrhundert nach hinten verfällt, ist nicht schlüssig, bleibt ein unmotiverterKontrast, der nicht aufgelöst wird. In diesem Punkt verharrt die Inszenierung auf der Stelle und verschenkt Entwicklungspotential.
Der Auftakt erfolgt in Studio-Ambiente.Es gibt keine Bühne, das Publikum wird auf Papphockern platziert und sitzt im Prolog zu Füßen des Gottes.Mittendrin statt nur dabei erlaubt eine ungewöhnliche Perspektive. Andreas Jeßling spielt den Alten als Moderator eines überirdischen Meetings, eines Briefings zum Stand der menschlichen Glückseligkeit. Selbst die Wette mit Mephistopheles erledigt er zwischen Tür und Angel. Der Vorstandsvorsitzende des Universums hat offensichtlich kein Interesse mehr an seinen Mitarbeitern.
Szenenwechsel = Sitzplatzwechsel, das Ensemble sagt es an und wird damit zum Weggefährten  des Publikum oder auch zu den Steward bei allen Wechseln an diesem Abend. Die Trennung zwischen Künstler und Zuschauer wird im Ansatz aufgehoben. Das Studierzimmer ist keine enge Klause. Der blanke Beton versprüht den Charme einer Turnhalle, in der Faust seine rastlosen Runden drehen kann. Doch zuvor muss er erst von seinem Podest hinabsteigen und im Grund genommen hat er schon beim Bodenkontakt verloren. Denker, wärst du doch in deiner Stube bgeblieben, mag man da sagen.
Die Wanderungen durch die Szenen wird zur Führung durch das Labor des Lebens. Das ist auch eine Form des An-die-Hand-nehmens. Doch der Faust verleirt sich in der Weite des Lokhallens-Foyers und er verliert sich in seiner eigenen Trübseligkei.Florian Epppinger spielt einen Faust, der an seiner Verzweifelung verzweifelt und sich selbst nicht die Chance gibt, aus seinem Jammertal aufzusteigen. Selbst in den kurzen Augenblicken des Glücks lauert immer noch die Larmoyanz unterhalb der Bettkante.  
Faust kann sein Gretchen nicht erreichen.
Ähnlich ergeht es Marie-Kristin Heger als Margarete. Sie scheint nie so recht von dieser Welt und eben dieser Welt steht sie nur staunend gegenüber und Verzweifelung scheint ihr zweiter Vorname zu sein. Einzig der Entschluss, nicht mit Faust zu flüchten und doch dne Weg aufs Schaffot zu gehen, ist ihr einziger freier Entschluss. Beide zusammen ergeben eine permanentes Verzweifelungsniveau jenseits der 150 Prozent.
In dem Duo Faust - Mephistopheles, dass auch diese Inszenierung dominiert, ist Meinolf Steiner als Teufel ohne Frage der stärkere Part. Gegen die ständige Verteidigungshaltung von Florian Eppinger als Faust setzt Steiner souveräne und ruhige Momente, wenn er die Stimme herunternimmt. Dennoch ist er jederzeit der Herr der Lage. Somit bleibt es Jeßling und Steiner vorbehalten, neue Nuancen im Altbekannten herauszuarbeiten.
Mit diesem Faust I und II hat Zurmühle in Göttingen eine Inszenierung in die Lokhalle gestellt, die den gigantischen Anspruch des Autors mit gigantischen Bildern weiterentwickelt. Doch dieser Monolith droht auch, die Schauspieler und das Publikum mit vorgefertigten Deutungsmustern zu erschlagen.


Das Stück in der Selbstdarstellung.

DT Göttingen, der Spielplan.

Zum Vergleich:

Der Faust in Hildesheim.
Der Faust bei den stillen hunden.