Große Chance glatt vertan

Marco Storman inszeniert einen zähen Liliom am DT Göttingen

Häusliche Gewalt und männliches Selbstverständnis sind aktuelle Themen. Häusliche Gewalt und männliches Selbstverständnis sind Themen, die Ferenc Molenár 1909 mit seiner Vorstadtlegende "Liliom" auf Tapet gebracht hat. Starr, zäh, umständlich. Mit seiner Inszenierung am Deutschen Theater in Göttingen vergibt Marco Storman die Chance, klassische Moderne und Jetzt-Zeit zu verbinden. Die Aufführung bleibt zu sehr der Stilistik des Expressionismus verbunden.  
Störung beim Stell-Dich-Ein im Stadtwäldchen.
Alle Fotos: DT/Aurich
Liliom ist Ausrufer am Karussell der Frau Muskat im Budapester Vergnügungspark Stadtwäldchen. Zugleich ist der junge Mann auch ihr Geliebter. Als Raufbold, Frauenheld und Kleinkrimineller hat er sich einen Status auf dem Rummelplatz und bei der Polizei erarbeitet. Das Gleichgewicht gerät ins Wanken, als er sich in das Dienstmädchen Julie verliebt und seine Anstellung verliert, Das Paar bezieht ein Hinterhofwohnung, sie wird schwanger, er lernt den Einbrecher Fiscur kennen. Beide Hallodris planen eine Überfallauf den Kassierer Linzmann, doch der Raubzug geht schief. Liliom begeht Selbstmord,kommt vor das himmlische Gericht und erhält nach 16 Jahren Fegefeuer noch einmal die Chance, mit einem Besuch bei seiner Tochter Besserung zu dokumentieren. Doch auch das geht schief.
Frederik Schmid ist um die Rolle des emotionalen Krüppels Liliom nicht zu beneiden. Meist muss er geistesabwesend in die Ränge starren, muss er sich auf die Gestik einer Barlach-Statue beschränken und sich stimmlich in den Mitteltönen bewegen. Nun gut, seine Aufgabe ist nun mal die Darstellung eines Mannes, der nicht aus seiner Haut kann, dessen Verunsicherung in Gewalttätigkeit umschlägt, aber mit dieser auferlegten Limitierung gerät die Titelrolle sehr eindimensional. Dadurch erschließt sich die Zwangsläufigkeit des Handlungsstranges nur teilweise. Eine Therapiesitzung mit Ecki Thalkötter hat mehr Dynamik.
Erst im Schlussbild darf er aus sicher herausgehen, seine Verzweifelung herausschreien. Doch wie in der Vorlage ist es auch in der Aufführung zu spät. Vor allem wirkt der Monolog furioso an dieser Stelle einfach unmotiviert, fällt gewissermaßen vom Himmel.
Beim Finale für einen Sprecher ist es schon zu
spät für die Wende zum Guten. 
Elisabeth Hoppe hat in ihren Mehrfachrollen als Frau Muskat, als Erzählerin, als Kassierer und  als sonst irgendwer weitaus mehr Möglichkeiten, die sie auch nutzt. Damit wird sie zur tragenden Person in der Inszenierung.
Molnár hat seinen größten Erfolg als Schaustück in sieben Bilder angelegt, in denen das Wort und das Nichtgesagte wirken sollte. Weil Storman nun die Anzahl der Darsteller von 22 auf fünf reduziert, nimmt er aber der Vorlage jegliche Dynamik. Anstatt die Stilistik des frühen 20. Jahrhunderts in das frühe 21. zu transponieren, zementiert den Expressionismus. Doch Andeutungen, die 1909 für Aufsehen und Nachdenken sorgten, laufen 106 Jahre später in einer schonungslosen Zeit ins Leere. Die Codes der Kultur haben sich eindeutig verschoben. Mit der Reduzierung der Liebesgeschichte zwischen Julies Freundin Marie und dem Dienstboten Wolf auf stückhafte Berichterstattung nimmt Storman dem Werk das kontrastierende Element. Alles was bleibt, ist das Elend des schlagenden Liliom, der damit aber auch an Schärfe verliert.
Die Göttinger Inszenierung bleibt leider auch der Erstübersetzung von 1912 verhaftet. Die Austrizismen und die Archaismen erschweren die Rezeption deutlich und nageln die Aussagen eben im Milieu der K.u.K-Monarchie fest. Dazu kommt das Übermaß an Kunstpausen, die das gerade Gesagte wirken lassen soll, ihm Gewicht verleihen soll und doch nur hemmend und statisch wirken.
Fiscur und Liliom bereiten den Überfall auf
Linzmann vor.
Der Blick in Reclams Schauspielführer trägt deutlich zum Verständnis der Inszenierung bei. Die Symbole erschließen sich nur, wenn man sich eine Übersicht der Personen und Orte angelesen hat. Damit wirkt die Aufführung am DT in Göttingen eher wie ein Beitrag zurMolnár-Exegese eines Fachpublikums.
Der Pluspunkt der Inszenierung ist das Bühnenbild von Dominik Steinmann. Die rohe Bretterwand mit dem spiegelverkehrten Schriftzeug macht auf den ersten Blick deutlich, dass man sich auf der Rückseite des Rummelplatzes, auf der Schattenseite des Lebens befindet. Der Schienenstrang auf dem Boden weckt Assoziationen zur Achterbahn und ermöglicht den Wechsel der szenische Bilder durch das Hineinschieben und Herausziehen der Waggons.
Liliom ist ein Exemplar der Gattung Homo europiensis, der mit seiner Hilflosigkeit, die in Gewalt umschlägt, und mit den gescheiterten Ansprüchen an sich selbst schon zur Entstehungszeit keine singuläre Erscheinung war. Doch man sprach nicht darüber. Nun bevölkern seine Nachkommen  die Fußgängerzonen und Selbsthilfegruppe und männliche Verunsicherung schlägt in noch ganz andere Formen der Gewalt nun. Doch Storman schafft die Transformation nicht, sein Liliom ist eher ein historischer Beitrag.


Der Spielplan am Deutschen Theater
Der Regisseur

Das Stück
Der Autor

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