Sonntag, 31. Oktober 2021

Aus der Carmen den Don José gemacht

Ballettpremiere am Theater Nordhausen

Endlich wieder Ballett. Das war am Freitagabend die Devise im Theater Nordhausen. Dort stand die Premiere von „Carmen“ auf dem Programm. Nach langer Pause zeigte sich die Choreographie von Ivan Alboresi vor allem als routinierte Inszenierung mit einigen Höhepunkten. Das Publikum bedankte sich am Ende euphorisch für das Ende der Durststrecke.

Mit „Carmen“ ist es ähnlich wie mit „Titanic“. Warum soll man sich das anschauen? Das Ende ist doch bestens bekannt. Weil es auf die Erzählweise ankommt und die ist bei Alboresi vor allem ruppig mit Akzentverschiebung, weg von der Titelfigur hin zu Don José, dem Killer von der traurigen Gestalt.

Er wolle kein Erzählballett machen, hatte Ivan Alboresi einst im Interview gesagt. Nun hat er es doch getan. Seine „Carmen“ ist es Erzählballett par excellence. Klar arbeitet er sich am Erzählfaden entlang, den Prosper Mérimée einst mit seiner Novelle gelegt hat und die von Georges Bizet zur Oper ausgebaut wurde.

Zwei Männer, ein Mädchen und der Tod.
Alle Fotos: Ida Zenna
In der literarischen Vorlage steht eine junge Frau im Mittelpunkt, die einen selbstbestimmten Weg gehen will. Weil sie dabei den einen oder anderen gehörnten Herren zu viel mitnimmt, endet die Reise tödlich. Dieser Drang findet sich in Alboresis „Carmen“ nur noch in Bruchstücken. Die Selbstbestimmung wird ersetzt durch Verführung. Aus der selbstbewussten Carmen der Vorlage wird sogar die Verfügungsmasse  männlicher Fantasie.

Seine Titelfigur wirkt kühl und kalkulierend. Tänzerin Erika Cucumazzo ist eine spröde Schönheit, die Sinnlichkeit nur wohl dosiert versprüht. Eher ähnelt sie den Frauengestalten des Expressionisten Schmidt-Rottluff. Raum für eigene Deutungen lässt nur Carmens Verhältnis zum Gevatter Tod. Ist sie seine Komplizin oder seine Braut?

Zur Zentralfigur wird Don José. Er setzt Anfang und Ende und die Erzählzeit erstreckt sich weitestgehend auf die Phase nach seiner Suspendierung als drei Herren um die Gunst der Dame kämpfen. Hier trifft Carmens Kalkül auf jede Menge Gefühl. Alboresis Choreographie breitete Josés Pein in der gesamten Breite aus. Damit scheint sein Weg vom betrogenen Liebhaber zum emotionalen Killer vorgezeichnet.

Die Inszenierung leidet darunter, dass sie vorhersehbar ist. Was angesichts der Vorlagen nur schwer zu vermeiden ist. Dennoch ist sie arg vom tödlichen Ende her konstruiert. Alle Figuren finden sich vom ersten Takt an auf den Weg in ihre persönliche Hölle.

Das macht sich zuerst personell bemerkbar. Das Mädchen Micaela wurde gestrichen und der Tod tritt in den Ring. Damit fehlt jegliches retardierende Moment. Von einem Wendepunkt ganz schweigen. Auch die hellen und optimistischen Augenblicke sind rar gesät. Alboresi hat die Fallhöhe seiner Protagonisten deutlich reduziert und damit verliert das Finale an Tragik. Es konnte ja nicht anders kommen. Wenn man sich 115 Minuten lang auf einer schiefen Ebene befindet, kann man sich auf den Aufprall vorbereiten.

Die Einführung des Todes als neue Figur verstärkt diese Tendenz. Die Stiermaske als Symbol für ein baldiges Ableben kehrt hingegen die gewohnte Adaption um. So steht der Hornträger bisher als Ausdruck von Kraft und Fruchtbarkeit und nicht als Todesbote.

Das Mädchen und der Tod: Ein Verhältnis
mit 
Interpretationsspielraum.
Foto: Ida Zenna 
Aber spätestens, wenn Gevatter Tod zum zwölften Mal mit majestätischen Schritten die Tanzfläche oder die Arena durchwatetet, verliert dieser neue Impuls an Reiz. Zumal Alboresi hier sichtbar aus seiner 2019er Choreographie zu „Der Tod und das Mädchen“ zitiert.

Das ist ein bis zwei Spuren zu dick aufgetragen. In Zeiten, in denen Untergangsszenarien Hochkonjunktur haben, trifft genau dies den Geschmack des Publikums, wie der frenetische Applaus zeigt.

Die Aufführung beginnt mit einer musikalischen Überraschung. Ivan Alboresi setzt nicht auf das Original, sondern auf die Bearbeitung von Rodion Shchedrin. Dessen Interpretation verzichtet auf die Zuckersüße von Bizet und falsche Folklore. Stakkato und Pizzicato bestimmen das Spiel der Streicher. Mit zwei Musiken von Julia Wolfe erreicht die Inszenierung sogar die Gegenwart.

Alboresis Choreographien zeichnen sich durch einen gekonnten Mix aus klassischem Ballett und Modern Dance aus. Gelegentlich gibt es eine Prise Jazz Dance oder auch Break Dance dazu. Nun hat er sich ein klar für Modern Dance entschieden. Das schränkt natürlich die Möglichkeiten ein. Es folgt eine Aneinanderreihung von bekannten Figuren. Nur selten tauchen Elemente des Ausdruckstanzes aus expressionistischen Zeiten aus. Etwa wenn der Tod seinen langen Mantel kreisen lässt und den Tanzboden feudelt.

Eindrucksvoll wird diese Aufführung, wenn Ivan Alboresi seine Stärken ausspielt. Diese liegen eindeutig in den Gruppenszenen. Er schafft es immer wieder, die Compagnie wie einen Organismus agieren zu lassen. Aber nicht, indem alle dasselbe tun. Jeder macht etwas anderes, dennoch ergibt es ein sinnvolles Ganzes. Das macht die Ballettsaufführungen in Nordhausen immer wieder zum Genuss.

Am stärksten, wenn alle mit dabei sind. 
Alle Fotos: Ida Zenna 

Trotzdem ist diese Choreographie eine Kette von starken Bildern. Dafür sorgen auch das Bühnenbild von Wolfgang Kurima Rauschning, die Kostüme von Birte Wallbaum und die Beleuchtung. Allein schon der Mantel des Todes gibt Anlass für eigene Überlegungen. Seine lange Schleppe erinnert durchaus an ein Brautkleid.

Die Bühnendekoration besteht aus zwei einzelnen riesigen Hörner und gemahnen an den Stierkampf. Aber meisterhaft ist das Spiel mit den Vorhängen. Mal beschränken sie den Raum auf die Vorbühne, mal geben sie Teile der Mittelbühne frei, mal gestatten sie den Blick bis auf die Hinterbühne. Mit dem Wechsel von Enge und Weite wird der Raum zum ergänzenden Teil der Inszenierung und erleichtert die Interpretation deutlich.

Dazu kommt ein Licht, das immer nur Teile der Arena erhellt. Vieles bleibt im Dunkel und unterstützt das visuelle Konzept. Dabei gelingen durchaus Überraschungen. So erscheint der Tanzboden mehrfach blutgetränkt während die Tänzerinnen und Tänzer davon unberührt bleiben. Mit dem scharfen Kontrast von blutrot und tiefschwarz greift Alboresi Merkmale des Expressionismus auf und deutet diese neu. Wie dieser versteift er sich auf den Schmerz als treibende Kraft. Das ist aber eine einseitige Sicht auf die Welt und nimmt der Carmen jegliche Leidenschaft. Somit wird aus einer tragischen Geschichte um die Selbstbestimmung einer Frau die alte bekannte Geschichte um Gevatter Tod. Damit nimmt Alboresi der Carmen ihre Einzigartigkeit und reiht sie eine in die Abteilung Jammergeschichten. 


Sonntag, 26. September 2021

Zwischen Schmunzeln und Gruseln

 Literaturfest Niedersachsen zu Gast im Schloss Herzberg

Von der Mikrobeben zur Makroeben und wieder zurück, Von der Familie zum Diktator und zurück ins Zwischenmenschliche. Mit der Lesung "Herrschaftszeiten!" war das Literaturfest Niedersachsen zu Gast im Schloss Herzberg. Die Veranstaltung mit den Schauspielern Franziska Mencz, Ulrich Noethen und dem Trompeter Markus Schwind zeigte alle Facetten zwischen Humor und Grusel.

Das war ein Verdienst der erstklassigen Künstler, aber auch der Dramaturgin Christiane Freudenstein. Ihre Zusammenstellung der Texte zeigte die vielen Aspekte von Herrschaft und ihrer Ausübung und die auf eine Art und Weise, die alles andere war als akademisch.

Um die Symbole der Macht sollte es gehen. Dafür gibt es wohl keinen passenderen Ort als den rittersaal im Schloss Herzberg. Schließlich hängen hier die Welfen, die das Haus Hannover zur Königswürde gebracht haben. Zwischen dieser absolutistischen Herrlichkeit wirkt Franziska Mencz ein wenig verloren als die weite Bühne betritt.

Dann bläst Markus Schwind aus dem Treppenhaus eine ferne Fanfare. die Schauspielerin trägt die ersten Zeilen aus Elias Caneti "Der Dirigent" vor und die Fanfare kommt näher. Beim dritten Streich steht Schwind zwischen den Stühlen. Die Macht ist da. 

Ungewohntes Duo: Franziska Mencz und
Dorothea Sophia von Celle. 
Alle Fotos: Kügler
Die Musik fügt sich ein in das Gesamtkonzept. Schwind spielt aus Beethovens "Fidelio" und dort geht es eben um die Ausübung der Macht und um Freiheit. Die Musik kontrastiert die Texte. Während Mencz und Noethen in den Texten Herrschaft manifestieren und erläutern, dekonstruiert Schwind sie. Seine Versionen von op 72a sind auf wenige wesentliche Töne reduziert. Es ist ein musikalisches Destillat der Herrschaft. Dieser reduzierte Vortrag ist die kongenial Ergänzung zu den hochtrabenden Themen der Texte.

Die Vielfalt der Herrschaft blättern die Texte auf. Reduziert und fast in sich gekehrt trägt Franziska Mencz Canettis Charakterisierung des Dirigenten als gottgleiche Gestalt vor, als Herrscher über das Orchester und das Auditorium. Doch ihr pointierter Vortrag sorgt auch für den Bruch durch die Verschiebung der Akzente. Der Dirigent wird geerdet: Bei aller Selbstherrlichkeit bleibt auch abhängig vom Applaus des Publikums. 

Einen anderen Tyrannen stellt Ulrich Noethen mit "Die Mahlzeit" von Gisela Elsner vor: Der Hausherr. Der Text behandelt das gemeinsame Mittagessen einer Lehrerfamilie. Elsner entwirft in diesem Text ein Zerrbild kleinbürgerlichen Betulichkeit. Der allesverschlingend Vater ist Herrscher über den Tisch und die Speisen, Ehefrau und Kind haben nur ihm zu huldigen. Er gibt den Ablauf vor und seine Gier sorgt dafür, dass die untergebenen Familienmitglieder an Mangel leiden. 

Noethen verzichtet in seinem Vortrag auf die großen Gesten. Der Kontrast zwischen der reduzierten Präsentation erlaubt die Konzentration auf das gesagte Wort und macht dadurch die Monstrosität des Patriachen erst deutlich. Noethen nimmt sein Publikum ernst und setzt auf dessen Vorstellungskraft. Das Kopfkino funktioniert. Vor den geistigen Augen entstehen Dutzende von feisten Männern, die das Besteck halten wie Waffen.

Überhaupt liegt hier eine Stärke der Lesung. Die schlichte Präsentation lässt reichlich Platz für die Gedanken und Bilder der Zuhörerinnen und Zuhörer. Bewusst verzichten die Künstler auf die Herrschaft über die Fantasie ihre Publikums. 

Damit kann man echte Gruselmomente erzeugen. Franziska Mencz gelingt dies mit "Die Henkersmahlzeit" aus "Tyll" von Daniel Kehlmannn. Gerade ihre wohl gesetzten Pausen lassen die Worte nachhallen. Das Publikum hat genug Zeit, sich die grausame Situation und die noch grausamere Zukunft vorzustellen. Gänsehaut und trockener Hals sind die logische Folge

Mencz gelingt sogar Unglaubliches. Mit ruhigen Worten zwischen verständnisvoll, drängend und flehend weckt sie Sympathien für den Scharfrichter Tilman. Denn der Delinquent hat Macht über das Gewissen des Henkers und Tilman weiß, dass er dem zum Tode verurteilten Müller ausgeliefert ist. Mencz weiß, diese abstruse Situation in ihrer gesamten Tiefe auszuloten. 

Mit dem "Student Michie" von Kingsley Amis gelingt ihr später noch einmal die Umkehr der Abhängigkeit. Mit wenigen Fragen stellt der Student die Hierarchie auf den Kopf und Franziska Mencz gibt der Hilflosigkeit des Professor die passende Stimme und Mimik. 

Auch Ulrich Noethen hat kein Interesse
an der Adligen. 
Foto: Kügler

Literarische Texte liefern bessere Analysen der Politik als politische Analytiker. Das ist die Quintessenz aus Noethens Vortrag von "Die Raute". Roger Willemsen hatte hier nicht nur die Automatismen der Neujahrsansprachen von Angela Merkel offen gelegt. Mit Plattitüden und arg konstruierten Beispielen gelingt es der Kanzlerin immer wieder, Jahr für Jahr, das Publikum auf ihre Seite zu ziehen. Am trifft sich auf Allgemeinplätzen und weil man sich gern dort trifft, bekommt sie immer wieder eine neue Chance. Noethens fast monotoner Vortrag stellt man Ende die Frage "Warum hat man sich solch eine inhaltsentleerte Regentschaft 16 Jahre lang gefallen lassen?"

Im letzten Beitrag geht Ulrich Noethen fast schon aus sich heraus. Er setzt nicht nur Pausen und Akzente, sondern lächelt gelegentlich und hebt auch schon mal die Hand. In dem Text "Das Geburtstagsgeschenk" aus "Die zweite Frau" geht es um die Mangelwirtschaft in der DDR der 70-er Jahre. Günter Kunert macht deren Gründe und Zwänge und die Folgen für die Gesellschaft und das Verhältnis der Mitmenschen auf der Mikroebene "Spülmaschine" deutlich. Denn solange der Mensch zum Abwaschen gezwungen ist, bleibt die Erklärung der Menschenrechte ein literarischer Text, so der Tenor. 

Ulrich Noethen liefert dazu die passende Performance. Zwar hinter dem Mikrofon verharrend entblättert er dennoch die Fülle der satirischen Vorlage. Mit Gestik, Mimik und Stimme lässt er auf dem begrenzten Platz einen ganzen Kosmos entstehen. Das ist ganz hohe Kunst.

Ebenso verdeutlicht er die Umkehr der Abhängigkeiten. Die Mangelwirtschaft macht die Verkäuferinnen zu den neuen Herrinnen über die Kunden. 

Ein musikalische Highlight konnte Markus Schwind noch setzen: Die Uraufführung von "Audienz" aus der Feder von Stephan Meier.  Der Vortrag im Stile von Miles Davis stellte die Kühle der Macht in den Vordergrund. 






Dienstag, 21. September 2021

Wettrinken der Platzhirsche

 An der Grenze zur Klaustrophobie:; stille hunde lesen Glauser

Ganz anders und ungewohnt fokussiert. Die Lesung von Glausers "Der alte Zauberer" offenbart die ruhige Seite  der stillen hunde. Mit diesem Wettrinken der Platzhirsche kommt das Duo Huber/Dehler aber eben näher an Glauser heran als eine andere Form wohl gebracht hätte. 

Angekündigt hatten die Veranstalter des Mordsharz für die Lesung im Nordhäuser Tabakspeicher einen Tornado, Es war dann eher ein Sturm im Schnapsglas. Dennoch waren alle zufrieden, wohl auch das Publikum, dass sich auf den gewohnten Mix aus Literatur, Improvisation und Klamauk eingestellt hatte. Schließlich war das Duo aus Göttingen nun schon zum dritten Mal im Tabakspeicher und kann auch hier auf eine Fangemeinde bauen.

Doch mit den großen Gesten, mit Pömpeln und anderen skurrilen Utensilien wurde es dieses Mal nichts. Der Text, der verbale Kampf zweier Männer und ihre Psychogramme stehen im Mittelpunkt, nebst jeder Menge Schnaps. Der sorgt für die Erleuchtung des Polizisten und die Überführung des Täters. Ob es die Mordsharz-Lesung mit dem höchsten Promillegehalt ist, bleibt unklar. 

Auf jeden Fall ist diese konzentrierte Präsentation ist werkgetreu, denn der Autor Friedrich Glauser stellt in seinen Kriminalromanen und Kurzgeschichten immer die Psychologie in den Vordergrund, die Verfasstheit seiner Protagonisten und auch Antihelden. Da ist wenig Raum für Action und deswegen kein Platz für Klamauk in der Lesung. 

Zwar ist "Der alte Zauberer" eine Kurzgeschichte, doch Friedrich Glauser lässt hier seinen späteren Romanhelden Wachtmeister Studer zum ersten Mal in voller Größe erscheinen. Wenige Kürzungen und die Konzentration auf drei Personen reichen aus, um den Text für einen Leseabend von vorne bis hinten zu präsentieren.

Der Wachtmeister Studer wird in die Kleinstadt Waiblikon geschickt, um den Verdächtigungen eines anonymen Briefeschreibers nachzugehen. Der Bauer Leuenberger habe nun schon die vierte Frau innerhalb kurzer Zeit verloren, das könne doch nicht mit rechten Dingen zugehen heißt es in dem Schreiben. So etwas müsse man doch mal untersuchen. Auf Anweisung des Polizeidirektors muss sich Studer auf den Weg ins Berner Oberland machen.

Der führt ihn erst einmal in ein Wirtshaus. Bis dahin lässt Christoph Huber Teil haben an den Mühen, die Studer auf ungewohnten Terrain hat. Überhaupt profitiert die Lesung vom Platzmangel am Veranstaltungsort. Das Publikum bekommt auf diese Weise die Enge  alpiner Wirts und Bauernstuben zu spüren. der Text wird körperlich erfahrbar. gleiches gilt für die Verfasstheit Studers, der am schweren Frühstück daheim leidet. 

Diese Lesung beschränkt sich auf drei Orte: Die Straße, die Wirtsstube und das Wohnzimmer des Tatverdächtigen. Mit der Serviertochter Resi in Form einer Handpuppe bleibt auch das Personal überschaubar. Der Besuch im Wirtshaus dient nur der Vorbereitung.

Erst dann macht er sich auf den Weg in die Höhle des Löwen. Das knappe Bühnenbild und die Enge im Tabakspeicher haben eben wirklich etwas Höhlenartiges. Die Klaustrophobie wartet gewissermaßen hinter dem Vorhang. Zudem wartet jede Menges Schnaps auf dem Wohnzimmertisch des Leuenbergers. Die Schuldfrage und die Motivlage werden ausgetrunken. Das Verbindende des gemeinsamen Trinkens wird zum trennende Faktor. Die beiden Platzhirsche belauern sich hinter dem Schnapsglas, um die Schwäche des anderen auszuloten. Schach mit Schnapsflaschen.

Die Entscheidung fällt im Haus von Leuenberger im Trinkduell zweier ebenbürtiger Gegner. Die Abwesenheit großer Gesten erlaubt die Konzentration auf den Text. Die Absenz der Äußerlichkeit lässt die Innerlichkeit der beiden Kontrahenten in den Vordergrund treten und dies ist ganz im Sinne Glausers.

Durch die Reduktion kann sich das Publikum ganz auf den inneren Monolog des Wachtmeisters konzentrieren. Waren die stillen hunde im Mordsharz für ihren skurrilen Humor bekannt, so zeigen sie an diesem Abend ihre ernsthafte, fast schon pathologische Seite. Wer auf Gags gesetzt hat, wird im Tabakspeicher mit Psychologie überrascht. Die Lesung it ganz anders als erwartet aber eben besonders beeindruckend. 







       

     

Zündet nicht so richtig

 Giulio Cesare als Impro-Theater

Ein Regisseur am Rande des Nervenzusammenbruchs, überraschende Gesangspartien und Gags, die nicht richtig zünden. Der Versuch, Händels "Julius Cäsar in Ägypten" in die Gefilde des Improvisationstheaters zu entführen, wirkte doch recht verkrampft. Nicht jeder Gag zündete und einiges war, Impro hin oder her, dann doch vorhersehbar.

Die Idee, eine Oper mal im Comedy-Modus zu präsentieren, hat sicherlich ihren Reiz, aber der wirkt schon gar nicht über 90 Minuten. Weniger wäre mehr gewesen oder in diesem Falle wäre zügiger mehr gewesen. Denn die Wirksamkeit von Impro-Theater ist nur begrenzt und da wäre eine intensive dramaturgische Arbeit hilfreich gewesen. So wird der Inhalt der Oper komplett im Highspeed-Modus abgespult. Vielfach war die Hochachtung vor dem Werk dann doch zu groß, um eien radikalen Bruch zu wagen.

Die Ausgangslage ist ungewöhnlich. Regisseur Stefan Graen will "Julius Cäsar" als Bürgeroper in und für ganz Göttingen inszenieren. Kathrin Richter und Lars Wätzolöd assestieren ihm dabei im Modus "leicht überfordert". Heute ist die letzte Probe vor der Premiere. Das Publikum in der Aula am Waldweg wird dazu in die Rolle der Komparsen gedrängt. Die eine Hälfte des Saals wird zum Schützenverein Hardegsen und macht immer "Huhuhu" und "Peng, Peng, peng". Die andere Hälfte des Publikums wird zum Posaunenchor Dransfeld und darf immer "Trööt, trööt, trööt" von sich geben, wenn der Regisseur es verlangt. Das ist eben Business as usual in dieser Sparte. 

Ein Stimmwunder: Kathrin Richter als
kurzfristige Cleopatra

Leider kommen alle Einwürfe nicht sonderlich weit. Das Publikum verliert sich im weiten Rechteck der Aula und damit bleiben die Stimmen der Hardegser und die der Dransfelder recht dünn. Wenn die alte Weisheit gilt "Der Raum spielt" immer mit", dann spielt dieser eher gegen das Ensemble. Zwei Musiker und drei Comedians verlieren sich auf der riesigen Bühne der ehemaligen PH. Da ist Interaktion kaum möglich und eben auch die drangvolle Enge im Auditorium, die Impro-Theater sonst so berauschend macht, fehlt völlig. 

Zwei Überraschungen gibt es an diesem Abend dann doch. Als echter Countertenor eröffnet Zvi Emanuel-Marial den Abend mit einer Cäsar-Arie zum Dahinschmelzen. Auch seine weiteren Beiträge geben dem Abend Struktur und Orientierung. 

Die größte Überraschung liefert aber Kathrin Richter ab. Endlich mal entlassen aus der Rolle der verhuschten Regieassistentin feuert sie als kurzfristige Cleopatra ein gesangliches Feuerwerk ab, das Assoziationen an das weltberühmte  "Happy Birthday, Mr. President" weckt. Schade, dass sie dieses Talent so selten nutzt an diesem Abend.  

Dienstag, 14. September 2021

Delikatessen am Sonntagmorgen

Die Geburt eines Stars? Felicitas Wrede im Stiftungskonzert

Es gibt Konzert, die bringen einen selbst am Sonntagmorgen in Einklang mit sich selbst und der ganzen Welt. Das Stiftungskonzert derb diesjährigen Händel-Festspiele gehört genau in diese Kategorie. Die Sopranistin Felicitas Wrede und das Abchordis Ensemble servierten in der Aula der Universität Leckerbissen aus Händels Frühwerken. Darunter fand sich auch eine Welturaufführung. Zwischen den einzelnen Gängen spendierte das Publikum so viel Beifall, wie an einem Sonntagvormittag möglich ist.

Betitelt war die Matinee mi “Händel, Almira und die Hamburger Gänseoper”. Schließlich war dies damals die erste Adresse, wenn es um Oper in Deutschland und deutschsprachige Oper ging.

Im Sommer 1703 war der 18-jährige Händel in die Hansestadt gezogen, um sich dort musikalisch weiterzuentwickeln. In diesem Mikrokosmos traf er auf Reinhard Keiser und Johann Matheson. Daraus ergab sich eine nicht konfliktfreie Arbeitsgemeinschaft, die aber Händels Entwicklung prägte.

Zu wenig Publikum für diese Ereignis.
Bereits im Januar 1705 konnte dieser seine erste Oper in Hamburg aufführen. In “Almira, König von Kastilien” ist vieles angelegt, was später zum besonderen Händel- Stil werden sollte. Eben diese Almira und ihre Rezeption stand im Mittelpunkt des Stiftungskonzertes. Damit führte die Veranstaltung zum Geburtstag der Festspiele nicht nur zu den Ursprüngen. Sie gab auch einen Einblick in die Arbeitsweise barocker Komponisten,ehe der Genie-Kult die Kooperation vereitelte.

Im Zentrum der Ouvertüre steht die eindeutig die Oboe. Das näselnde Blasinstrument soll Händels Liebling gewesen sein, verrät das Programmheft. Miriam Jorde Hompanera spielt es mit recht viel Zurückhaltung. Im weichen Klang reiht sie ansatzlos Ton an Ton, so dass die Aula der Universität mit Harmonie geflutet werden. Doch gelegentlich muss sich die Oboe der Übermacht der Streicher ergeben. Erst später in der Trisonate in F-Dur und im Tanzreigen des Ballo wird die Oboe zur treibenden Kraft.

Doch das zurückhaltende Dirigat von Boris Begelmann erlaubt ein konstruktives Miteinander von Streichern, Holzbläser und Basso continuo. Das Abchordis Ensemble ist vielfacher Preisträger. Unter anderem konnte es sich das Sextett 2015 den ersten Preis im Internationalen Händel Wettbewerb in Göttingen erspielen. Schon nach den ersten Akkorden ist die eigene Handschrift des Ensembles deutlich. Es kann in seiner Zurückhaltung durchaus überzeugen. Damit ist es der würdige Partnerfür eine Welturaufführung in Göttingen. Denn diese Ouvertüre ist die allererste Fassung des Werks, das so noch nie auf einer Bühne aufgeführt wurde, weil die Fassung lange Zeit verschollen war.

Mit der Arie “Proverai di che fiera saetta” kommt gleich die Kehrtwendung. Es ist vorbei mit Selbstversunkenheit. Felicitas Wrede hat einfach eine begnadete Stimme. Der helle und bis in die Höhen klare Sopran bietet den bestmöglichen Kontrast zum zurückhaltenden Spiel des Orchesters. Auf dessen Teppcih entstehen Klänge die in die Kategorie "sphäsich" gehören". Augen zu un genießen.

Die Arie steht anschließend noch einmal in der Bearbeitung von Keiser auf dem Programm. Wrede schafft es, die wenigen aber prägnanten Unterschiede deutlich zu machen und zur Geltung zu bringen. Das ist hohe Kunst schon in jungen Jahren.

Felicitas Wrede kann auch
anders.
Ein ähnliches Muster bietet der nächste Block. Das Ensemble bereitet mit der Sarabande aus dem 3. Akt des “Rinaldo” den Boden und stellt das Thema vor. Dann singt Felicitas Wrede die berühmte Klagearie in einzigartiger Art und Weise. Das ist der Gänsehaut-Moment an diesem Sonntagmorgen. Leid und Trauer werden fast schon greifbar. Mit dieser klaren und hellen Stimme so tiefe menschliche Emotionen zu verkörpern, das zeugt von einem überschäumenden Talent. Es überrascht wenig, dass es diese Leistung noch einmal als Zugabe gibt.

In der Arie “Ingrato, spietato” ist die Ansprache nämlich eine ganz andere. Die Sopranistin bringt mit Stimme und Körperhaltung all jene Wut, die in diesem Frühwerk steckt, klar in die feierliche Aula.

Da ist es schon ganz gut, dass Andrea Buccarella mit seinem Solo auf dem Cembalo ein wenig die Wogen glättet. Dabei schafft er es immer wieder, fehlerfrei aus den vollen Akkorden in die Läufe Tonleiter rauf und runter und wieder zurückzukommen. Von gewohnt harmonisch bis rasant: Buccarella zeigt das gesamte Spektrum, das in seinem Instrument steckt.

Das Abchordis Ensemble und Felicitas Wrede zeigen noch einmal. Dass es manchmal auf Kleinigkeiten ankommt. In Händels Version der Arie “Quillt ihr überhäuften Zähren” steigt die Sopranistin mit einem Ton ein, der nicht zu enden scheint, um gleich einen noch längeren hinten dran zu setzen. Damit gibt Wrede der latenten Aggression der Gepeinigten die bestmögliche Form. Nur von Cello und Cembalo begleitet kann sich das Publikum ganz auf sie fokussieren.

Die Neufassung von Georg Philipp Telemann aus dem Jahre 1732 setzt andere Akzente. Da wird aus der Wut Verzweiflung und der Gesang ist nicht mehr so exaltiert. Auch dem gibt Felicitas Wrede die passende und begeisternde Stimme.

Diese Stiftungskonzert ist sicherlich eins der Höhepunkte der Händel-Festspiele 2021. Das Publikum kann sich in der Gewissheit wiegen, dass es an diesem Sonntag nicht nur einer Uraufführung, sondern auch der Geburt eines Stars beigewohnt hat. In der Aula der Universität traf der frühreife Händel auf eine erstaunlich gut ausgebildeten Jungstar. Das rechtfertigt den überschwänglichen Applaus.








Freitag, 10. September 2021

Der Spagat ist zu breit

Rodelinda bei den Händel-Festspielen versucht 3 Jahrhundert zu vereinen

Göttingen. Endlich wieder Oper. Mit einem Jahr Verspätung startete am Donnerstag die Geburtstagsfeier zu einhundert Jahre Internationale Händel-Festspiele. Aus historischen Gründen hieß die Festspieloper in diesem Jahr „Rodelinda“. Schließlich begann mit der Dame 1920 in Göttingen die Renaissance der Barockmusik.

Doch die Inszenierung von Dorian Dreher weiß nur bedingt zu begeistern. Trotz exquisiter Zutaten wird kein überragendes Gesamtwerk daraus. Es fehlt in weiten Teilen einfach das Tempo.

Die Sängerinnen und Sänger brillieren an diesem Abend. In diesem Kammerspiel für sechs Stimmen gibt es keine, die abfällt. Ganz im Gegenteil, das Ensemble ist passgenau zusammengestellt und abgestimmt. Diesen Beweis treten Franziska Gottwald als Eduige und Julien Van Mellaerts in der vierten Szene des ersten Akts an. Mit einem leichten Vibrato ergeben Mezzosopran und Bariton eine Kombination, die Lust auf mehr macht.

So beginnt es: Rodelinda am Boden
zerstört. Alles Fotos: Theodora da Silva 
Van Mellaerts gibt einen überragenden Einstand in Göttingen. Der Neuling aus Neuseeland hat die dominante männliche Rolle des Abend und prägt die Inszenierung. Dazu ist sein Bariton klar und sauber und beherrscht auch die schwierigen Stellen, wie er in zwei Soli beweisen kann. Dazu kommt eine enorme Bühnenpräsenz.

Auch Franziska Gottwald zeige sich auf höchstem Niveau. Ihre Koloraturen kommen nicht nur sauber. Sie schafft in diesem Duett aus dem Auf und Ab auch die höchsten Töne mit beeindruckender Dynamik und ohne Verlust. Dabei kann sie auch schauspielerisch überzeugen. Das Gespräch mit Rodelinda zum Auftakt des zweiten Akts ist Zickenkrieg pur.

Natürlich kennt sich Anna Dennis mit Händel aus und es ist ein Vergnügen, sie mal wieder in Göttingen zu sehen und zu hören. Seit dem letzten Auftritt 2019 konnte sie ihre Fähigkeiten und ihre Stimme noch einmal ausbauen. Ihr Arie in der ersten Szene des ersten Akts ist Trauer pur und der Wettstreit mit Garibaldo in der achten Szene des zweiten Akts ist ein Wettstreit auf Augenhöhe. Auf jeden Fall wird deutlich, warum die Oper "Rodelinda" heißt und nicht "Grimoaldo" oder die "Intrigen des Garibaldo". 

Christopher Lowrey ist ein durchaus Göttingen-affiner Counter-Tenor. Zuletzt stand er hier 2018 auf der Bühne. Er ist wohl so etwas wie der Spezialist für die zurückhaltenden Charaktere. Das spielt er hier in der Rolle des Bertarido aus. Dabei kann er auch anders. Dafür muss man ihn aber aus der Reserve locken.

Thomas Cooley ist ein weiterer Neuling auf der Bühne im Deutschen Theater. Der Amerikaner ist der Prototyp eines lyrischen Tenors. Zumindest im ersten Akt verzichtet er auf den großen Auftritt. Dies liegt aber auch in der Rolle des Grimoaldo begründet. Usurpator geht anders. Es scheint, als müsse Colley einen Eroberer wider Willen spielen. Jemanden, der lieber Künstler geworden wäre anstatt Regent.

Erst im zweiten Akt kommt er aus sich heraus. Zwar kann er den Wandel vom Lyriker zum Racheengel glaubhaft verkörpern und ihr Stimme zu geben, das macht aber deutlich welch Potential im ersten Akt ungenutzt blieb.

Die Geschichte dreht sich eigentlich um Eroberung und Rückeroberung und Gewalt. Doch Dreher hat seiner Inszenierung alles Kriegerische genommen. Sein „Rodelinda“ ist zum Kammerspiel geworden. Er hat die Konflikte auf die persönliche Ebene „heruntergebrochen“. Das funktioniert mit solch starken Solisten auch.

Diese Transformation findet sich in der Musik wieder. Laurence Cummings hat bei der Besetzung des Orchesters auf die Blechbläser verzichtet. Die beiden übriggeblieben Hörner machen sich zudem nur selten bemerkbar. Das nimmt der Musik das Pompöse, aber auch die Möglichkeit der Differenzierung. Die ungewohnte Dominanz der Streicher hat die Tendenz zur Gleichförmigkeit. Daran ändert das Duett Traversflöte und Titelheldin wenig.

Die Schwierigkeit dieser Inszenierung liegt darin, dass die „Rodelinda“ für das Publikum historisch aufgeladen ist. Mit ihrer Aufführung ging 1920 von Göttingen ein Impuls in die Welt, der die Neuentdeckung der Alten Musik erst ermöglichte. Um diese zu betonen, versucht Dreher hier einen Spagat, der nicht aufgehen kann. Er präsentiert im 21. Jahrhundert eine Oper aus dem 18. Jahrhundert in der Ästhetik des 20. Jahrhunderts.

Das Bühnenbild präsentiert im ersten Akt einen Salon des lten Bürgertums. Die Garderobe ist ebenfalls „kurz nach Weltkrieg“ und einzig an Garibaldo entdeckt man Referenzen an das Barock. Das mag 1920 Avantgarde gewesen sein, wirkt heute aber nur noch bemüht und altbacken.

So endet es: Nichts bleibt von der bürger-
lichen Idylle. Fotos: Theodoro da Silva
Auch die Symbolik geht nicht jedes Mal auf. Einiges bleibt schwer verständlich, anderes unterbewertet. Das gilt für die Bilder, die im ersten Akt verpackt an die Wände gelehnt sind, im zweiten Akt gehängt sind und dritten Akt den blanken Wänden Platz machen musste. Immerhin stehen sie für die Wandlung Grimoaldos vom Künstler zum Tyrannen.

Bestimmt wird die Rezeption der Händel-Festspiele immer noch von der Konkurrenz „traditionell oder zeitgemäß“. Dreher versucht hier den Brückenschlag zwischen den Puritaner jeglicher Couleur.  Das naturalistische Bühnenbild wird zusehends reduziert bis nur noch kahle Spielfläche übrigbleibt. Doch der Einbruch der Modernen in den gutbürgerlichen Salon am Ende des zweiten Akts kommt zu überraschend und vielleicht auch zu spät.

Wo er Position beziehen sollte, sucht Dreher den Ausgleich, der nicht möglich ist. Man kann es nicht allen recht machen und die Reise durch die Ästhetik "100 Jahre Händel in Göttingen" kommt streckenweiser wie ein Lehrstück über den Wandel des Bühnenfachs daher. Für das Ensemble bleibt aber der tobende Beifall des Publikums.




Montag, 16. August 2021

Auseinander und wieder zusammensetzen

Viktoria Krason zeigt Günter Grass als bildender Künstler 

Dass der Nobelpreisträger bildender Künstler war bevor er mit dem Schreiben begann, ist hinreichend bekannt. Aber warum hat Günter Grass den Pinsel und die Nadel beiseite gelegt und hat zur Feder gegriffen. Das erklärt Viktoria Krason in ihren Buch “Von Auseinandernehmen und Zusammensetzen”. Darüber hinaus zeichnet sie noch ein Bild über die Auseinandersetzungen in der Kunst der jungen Bundesrepublik. Erschienen ist das Buch nun im Steidl-Verlag.

Das Cover ziert ein Foto aus der Zwischenzeit. Es zeigt Günter Grass mit einer Graphik zu seinem Gedichtband “Die Vorteile der Windhühner”. Es ist vorläufig das letzte Werk als bildender Künstler, aber sein erster kommerzieller Erfolg als Schriftsteller . Erst in den 70-er Jahren wird sich der Literat wieder dem Zeichnen zuwenden. Das ist Grass persönliche Form von Auseinander und wieder Zusammen, von Dingen die zusammengehören und wieder miteinander verschmelzen.

Dabei war es für Grass lange Zeit gar kein entweder oder sondern ein sowohl als auch. Der Student der bildenden Künste hat gedichtet und seine Lyrik auch veröffentlicht. Mit umfangreichen Material zeigt die Autorin, dass für den jungen Mann diese Betätigungsformen gleichwertig waren und sich sogar ergänzten. Deutlich wird mit Faksimile aus Grass Arbeitsbuch. Hier ordnete der Student die Disziplinen Prosa, Lyrik, Drama, Malerei, Graphik und Skulptur einander zu.

Rechts Schriftsteller, Mitte
und 
links Windhühner.
Viktoria Krason nimmt den Weg des frühen Grass zum Anlass, die Situation der bildenden Künste im West- und im Ostdeutschland der späten 40er und frühen 50er Jahre zu verdeutlichen. Bedingt durch die Nazi-Diktatur und ihrer totalitären Kulturpolitik war Deutschland ein verspätetes Land mit reichlich Nachholbedarf. Mit Kubismus, Expressionismus, Surrealismus und Neuer Sachlichkeit wurden in der jungen BRD Dinge ausgefochten, die in anderen westlichen Ländern schon 20 Jahre zuvor ausdiskutiert waren.

Die Kunstszene in Bundesrepublik sollte von den entstehenden Zerwürfnissen lange geprägt werden. Somit leistet Krason auch einen Beitrag zum tieferen Verständnis der Diskussionen. Sie macht deutlich, dass diese Diskussionen mit ideologischer Härte geführt wurden. Dabei ging es nicht nur um die Auseinandersetzung Moderne im Westen und Sozialistscher Realismus im Osten. Die Gräben zwischen den Abstrakten und den Gegenständlichen waren im Westen wohl noch wesentlich tiefer. Immerhin ging es um Lehrmeinungen und damit auch um Vergangenheitsbewältigung,

Das Werk ist ein Buch für die Laien. Sein Reiz liegt darin, dass Viktoria Krason es schafft, all die akademischen Debatten ohne Fachbegriffe nachzuzeichnen und somit in verständliche Sätze zu fassen. Auseiander nehmen und zusammensetzen ist nun eine der wichtigsten Tätigkeiten der modernen Kunst und ihrer Akteure. Betrachten, analysieren und in einen neuen Kontext stellen. So läuft es und anhand zahlreicher Bildbeispiele vermag die Autorin die damaligen Entwicklungen und Kunststile zu erklären. 

Somit versteht man, auf welchem Fundament Günter Grass in dieser Phase steht. Letztendlich sind es eben jene erbitterten Diskussionen, Klüngeleien und das Postengeschacher an den westdeutschen Hochschulen, dass Günter Grass zu dem Entschluss führt, mit der bildenden Kunst für lange Zeit auszusetzen.

Also fanden die Deutschen und die zeitgenössische Kunst in diesem Jahren wieder zueinander. Aber das taten sie mit solch einer akademischen Gründlichkeit, dass es wieder auseinanderging. Dieses Schisma bestimmte die westdeutsche Kunstszene über Jahrzehnte.    

Aber auch seinen Wiedereinstieg in das Metier in den späten 60er und frühen 70er Jahren erklärt sie schlüssig. Nachdem es die Kulturpolitik war, die ihm vom Zeichentisch an die Schreibmaschine hat wechseln lassen, sind es eben die politischen Umbrüche, die ihn dazu führen, anfangs mit grafischen Arbeiten seine literarischen Werke zu begleiten. Mit “Auseinandernehmen und Zusammensetzen” gelingt es Viktoria Krason einen Aspekt im Œuvre von Günter Grass tiefer und schlüssig zu beleuchten, der ansonsten mit “ach weiß ich doch” viel zu leichtfertig abgetan wird. Sie erklärt, warum man den Literaten Grass und den Bildhauer und Grafiker Grafiker eigentlich voneinander trennen kann.


Das Buch: 

Viktoria Krason, “Auseinandernehmen und Zusammensetzen”, erschienen im Steidl Verlag, 304 Seiten mit 205 Abbildungen, ISBN 978-95829-787-6

Samstag, 31. Juli 2021

Berg hoch, Berg runter, Kurve links, Kurve rechts

Alle gute Dinge sind drei: Mal wieder bei der PS.Speicher Rallye

Es ist eine absurde Situation: Hunderte Kameras stehen am Straßenrand und die Autofahrer freuen sich, wenn es blitzt. Die Leute tragen Sachen wie aus dem Second-Hand-Laden und fahren sündhaft teure Wagen. Wildfremde Menschen winken einander zu und rufen Halbsätze mit wenig Sinngehalt über die Straße. Das kann nur eins heißen: Es sind Einbecker Oldtimer Tage.

Ich bin wieder mit dabei und zwar zum dritte Mal. Ich weiß also, was mich erwartet und deswegen ist die Vorfreude groß. Oldtimer fahren ist eine Droge. Es ist eine Reise in eine Zeit, als die Welt beherrschbar schien und die Autos mit einem gezielten Hammerschlag wieder mobil gemacht werden konnten. Das kann süchtig machen.

Diese Leidenschaft sorgt für Verbundenheit. Oldtimerfahrer und -fahrerinnen verstehen sich als Familie. Man kennt sich und ist gleich beim „Du“. Bei der Anfahrt tauchen zwei große bunte Strohhüte in einem Cabrio vor mir auf. Das sind Ines und Sabine, die waren vor zwei Jahren mit einem Fiat Bertone Spider am Start. Die Damen sind wohl auch in diesem Jahr wieder mit dabei.

Das Familientreffen

Die PS.Speicher Rallye ist ein großes Familientreffen und weil es im letzten Jahr ausfallen musste, ist es in diesem Jahr umso herzlicher. Die Veranstaltung macht süchtig und deswegen sind die meisten Starter eben Wiederholungstäter. Beim Gang durch den Fuhrpark auf dem Parkplatz der BBS Einbeck erkenne ich viele Fahrzeuge wieder. Viele aber eben nicht alle.


Wiedersehen mit alten Bekannten.
Alle Fotos: Kügler
In seiner Begrüßung zum Fahrerfrühstück berichtet Lother Meyer-Mertel, dass eben einige nicht mehr dabei sein können. Für einen Augenblick herrscht Schweigen und Trauer. Aber „The Race must go on“.

Ich reiche das Road Book an meine Lebensgefährtin. Sie macht die Beifahrerin, gibt den Weg vor und muss sich deshalb mit der Route anfreunden. Manfred Schulz hat einige Anmerkungen zur Strecke. Diese führt auf 90 Kilometern durch das Weserbergland nach Hameln und zum Schloss Hämelschenburg und dann auf 65 Kilometer zurück nach Einbeck, wieder berghoch und bergrunter.

Oldtimer fahren ist immer noch Männersache. Frauen beschränken sich meist auf die Rolle der Sozia. Nur acht weibliche Teams sind am Start. Man wolle sich dem Thema zukünftig stärker zuwenden, hatte Lothar Meyer-Mertel im Vorgespräch versichert.

Schulz weist daraufhin, dass die Rallye eben keine Sportveranstaltung ist, sondern eine gemeinsame touristische Ausfahrt. Das versteht nicht jeder. Am Abend wird bei der Siegerehrung zum ersten Mal eine offizielle Rüge wegen auffälliger Fahrweise ausgesprochen.

Das Teilnehmerfeld wird jünger. Und damit auch die Autos PS-stärker. Ob es einen Zusammenhang mit der sportlichen Fahrweise gibt, diese Frage bleibt für mich und meine Lebensgefährtin ungeklärt.

Aber Zeit spielt keine Rolle, fast keine. Nur die Bordkarte muss bis 19.00 Uhr bei der Rennleitung vorliegen.

Der Dress Code

Auf jeden Fall erkenne ich im Teilnehmerfeld einige Kleidungsstücke wieder. Doch, Oldtimer Rallye ist auch immer ein Kostümfest auf vier Rädern. Viele Teams wollen mit ihrem Fahrzeug ein geschlossenes Ensemble darstellen und kleiden sich zeitgemäß. Oder versuchen es. Das klappt nicht immer. Aber Psychodelic zum Lamborghini Espada, das ist schon stylish.

Auf jeden Fall ist für das beste Ensemble aus Fahrzeug und Kleidung ein Sonderpreis ausgelobt worden. Meine Lebensgefährtin und ich sind dem Aufruf gefolgt und haben uns nach Mitt-70er-Klamotten umgeschaut. Dazu haben wir Musik von Barry White, Stevie Wonder und längst vergessenen Disco-Helden zusammengetragen. Wir sind also bereit für die Zeitreise.

Auto und Outfit müssen eine Einheit sein. 
Doch die Musik wird erst sehr spät zum Einsatz kommen. Am Nachmittag als wir durch das Spalier der Zuschauer gleiten, gibt es den passenden Soundtrack aus dem Fond. Aber das bekommt keiner mit.

Als die Stil-Prämierung am Abend ausfällt, sind wir sind nicht die einzigen Enttäuschten. 

Dann ist da noch die Sache mit den „stillen Kontrollen“. Entlang der Strecken sollen drei Schilder mit Zahlen verteilt sein. Diese Ziffern soll man ins Bordbuch eintragen. Nicht eine einzige findet den Weg in unser Bordbuch und auch damit sind wir nicht die einzigen. Die stummen Kontrollen werden jedenfalls das Gesprächsthema des Abends.

Das Fahrzeug

Nach Badewanne und Volksporsche hat mir der PS.Speicher in diesem Jahr wieder eine Ikone der europäischen Automobilgeschichte zur Verfügung gestellt: Einen Ford Capri II, Baujahr 1975. Maisgelb und ein schwarzes Vinyl-Dach, das ist 70-er Jahre pur. Der Lack ist noch die Erstlackierung und wären auf dem Tacho nicht 156.000 Kilometer vermerkt, dann könnte das Auto auch als Neuwagen durchgehen. Man kann nur ahnen, wie viele Jahre der Wagen nur in der Garage gestanden hat.

Werkstattleiter Michael Marx verrät mir den Kaufpreis und der liegt deutlich über den 10.000 Euro, die gewöhnlich für einen Capri dieser Altersklasse gezahlt werden. Dem Werkstattleiter ist das Auto zu neu. Er meint, dass ein Oldtimer erst durch Gebrauchsspuren authentisch wird. Aber das wird in der Szene lebendig diskutiert.

Mehr 70-er geht nicht: Ford Capri II 1600.
Die Szene trennt sich noch in einer anderen Frage. Die einen begeistern sich für die Prachtkarossen längst vergangener Tage. Andere schwärmen für die Autos ihrer Kindheit. Ich gehöre zur zweiten Fraktion. Viel Chrom und Kotflügel groß wie ein Kleinwagen, schön und gut. Da kann man schon mal staunen. Aber eine Reise in die eigene Vergangenheit, das ist doch was ganz anderes.

Ich hatte schon am Tag zuvor eine Proberunde mit dem Wagen gedreht und mal wieder gemerkt, dass Autofahren früher durchaus Arbeit wear. Marx hat mich drauf hingewiesen, dass dieses Auto Zuspruch braucht, also durchaus hochtourig fahren. Das gilt für viele Wagen aus diesen Baujahren.

Wir verstauen die Sachen im Wagen: Proviant, Fototasche und Stativ. Noch gebe ich mich der Illusion hin, dass ich an diesem Tag Zeit hätte, spektakuläre Bilder zu machen. Spätestens zur Halbzeit verabschiede ich mich davon.

Es gibt das Bonmot, dass die 70-er Jahr doch nur die Samt Cord-Version der 60er gewesen wären. Dieses Wagen bestätigt die These. War der Capri I noch laut und rau und eben ein Pony Car, dann ist der Capri II eben das Samt Cord Auto.

Das Interieur ist ein Traum in Kunstleder und Plüsch. Besonders die Rücksitze verzücken. Die passen als viel mehr in eine club-Disco als in einen selbst ernannten Sportwagen. Da rauszukommen, das muss schon eine gymnastische Übung gewesen sein.

Unter der Motorhaube steckt ein 1,6 Liter Vierzylinder Reihenmotor. Der liefert immerhin 72 PS, damals war man damit Leader of the Pack. Heute hat jeder Fahranfänger mehr Kraft in seinem VW up.

Das Cockpit ist aufgeräumt. Es gibt nur den Tacho und die Anzeigen für Motortemperatur und Tankfüllung. Nicht einmal ein Drehzahlmesser hat der vermeintliche Sportwagen. An der Lenksäule gibt es nur einen Hebel und damit kann ich lediglich die Blinker in Gang setzen.  Zum Verleich: Mein Privatwagen hat drei Multifunktionshebel an der Lenksäule. Aber der Capri muss ein Luxusauto sein. Er hat wirklich zwei Außenspiegel. Nicht einmal der Mercedes Benz neben uns hat einen Spiegel rechts.

Ein Unterschied fällt uns auch auf: Es mangelt an Staumöglichkeiten. Es gibt keine Seitentaschen oder Konsole. Das Handschuhfach kriecht fast in den Motorraum. Frau muss sich verdammt lang machen, um da hin zu kommen. F4üher war ein Pkw wohl nur ein Fahrzeug, heute ist es ein Wohnzimmer auf vier Rädern.

Der Start

In diesem Jahr ist auch einiges anders. Die Amüsierzeile der Vorjahre wurde auf den Marktplatz verlegt. In Corona-Zeiten soll kein Gedränge am PS.Speicher herrschen. Trotzdem ist es zum Start um 10.00 Uhr gewohnt voll. Hunderte Fans stehen an der Straße und freuen sich über den Neubeginn nach einem Jahr Pause.


Der Start folgt im Minutentakt, die ältesten Wagen zuerst und so haben wir über eine Stunde Zeit und schlendern durch den Fahrzeugpark. Wir plaudern mit Uwe und Mchthild. Die schwärmen vom guten Ruf der PS.Speicher Rallye in der Szene. Sie sind mit einem Ford Cobra Baujahr 1983 am Start.

Das Ziel werden sie aber im Renault R 4 erreichen. Die Cobra schwächelt und das Paar aus dem Weserbergland steigt kurzentschlossen auf einen anderen Oldtimer aus dem eigenen Fundus aum.

Die Begeisterung  

Auch für uns fällt der Startschuss und sofort ist die Euphorie auf Höchstniveau. An der Straße stehen wildfremde Menschen und winken uns zu und wir winken zurück. Wir sind Helden für einen Tag. Wie David Bowie damals 1977.

Der Älteste im Feld ganz vorne im Feld.
Das Wetter wird immer besser. Der Capri II hat eine überzeugende Klimaanlage. Fenster rechts runterkurbeln, Fenster links auch und den Ellenbogen zum Fenster raus. Bei dem überschaubaren Tempo ist das kein Problem. Der Trecker in der Steigung nach Bartshausen sorgt für die endgültige Entschleunigung. Wir orientieren uns am Jensen Interceptor, der vor uns gestartet ist. Der bleibt in Sichtweite.

Berg hoch, Berg runter, Kurve links, Kurve rechts. Die Strecke ist für einen Wagen ohne Servolenkung schon ein Brett.  Vor allem wenn dessen Fahrer seit Jahrzehnten nicht mehr mit Heckantrieb gefahren ist.

Berg hoch, Berg runter. Man hatte uns eine ausgewöhnliche Strecke versprochen und diese hält das Versprechen ohne Wenn und Aber. Immer wieder schrauben wir uns über Kehren nach oben und dort erwartet uns immer wieder ein spektakulärer Blick ins Tal und weit ins Land. Aber irgendwann ist mir das zu viel. Spätestens auf der Rückfahrt in Lichtenhagen bin ich gesättigt und auch meine Beifahrerin kennt nur noch ein Ziel: Das Ziel.

Die Anstrengung

Mit der Arroganz eines Harzers hatte ich beim Blick auf die Karte nur müde mit den Achseln gezuckt. Noch vor der Pause bereue ich meinen Hochmut. Gerade die langsamen Kurven kosten Kraft. Wie gesagt: Der Capri II hat keine Servolenkung. Dazu kommen die ungewohnt langen Schaltwege. Es dauert gut anderthalb Stunden, bis ich den Wagen soweit verstanden haben, dass wir zugig vorankommen.

Doch die Konzentration lässt nach und in Hameln verfahren wir uns zum ersten Mal. Auch das gehört zu einer Oldtimer Rallye und wir sind nicht die einzigen. Später verfahren wir uns kurz hinter Ottenstein noch einmal. Aber Zeit spielt ja nur eine untergeordnete Rolle.

Überhaupt ist Hameln kalt und abweisend zu uns Oldtimern. Niemand steht an der Straße und winkt. Offensichtlich ist man in der Rattenfänger-Stadt den Anblick alter Autos gewohnt. Erst in Stadtoldendorf erfahren wir die gewohnte Aufmerksamkeit. Wie schon vor drei Jahren hat der Automobilclub hier ein kleines Fest auf dem Markt organisiert. Das tut der Seele gut und motiviert für den Schlussabschnitt.

Auf jeden Fall sehne ich die Pause am Schloss Hämelschenburg herbei. Meine Lebensgefährtin kennt das Schloss schon. Für mich ist der Prachtbau aus der Weserrenaissance eine echte Neuheit. Überhaupt steckt die Route voller Überraschungen. Anfang hatte ich noch gescherzt, dass wir ber Käffer fahren, die man nur kennt, wenn man in der 2. Kreisklasse kickt. Nun muss ich eingestehen, dass ich mich in Südniedersachsen nicht so gut auskenne wie ich immer behauptet habe. Dabei lebe und fahre ich hier schon seit mehr als 4 Jahrzehnten. Wie hieß es am Morgen in der Fahrerbesprechung? Gemeinsame touristische Ausfahrt.

Das Empfangskomitee, ein Teil zumindest. 

Südlich von Bodenwerder stoßen wir in Gefilde vor, die mir bekannt sind. Zuden steigt die zahl der Winker an der Strecke deutlich. Also müssen wir auf der richtigen Route Richtung Einbeck sein. Dort erwartet uns das gewohnte und auch erhoffte Bild. Hunderte, vielleicht sogar Tausende Menschen empfangen den Tross am PS.Speicher. Jeder wird gefeiert wie ein Sportidol.

„So einen hatte ich auch“ bekommen wir bestimmt fünfmal zu hören. Von einem Opel Cabrio Baujahr 1934 können das nur noch sehr wenige behaupten. Deswegen sind wir klar im Vorteil wenn es darum geht, Kontakt zum Publikum zu knüpfen.

Ich will unter die Dusche, aber erst einmal müssen wir durch die Vorstellungsrunde und dann zum Parkplatz. Dort treffen wir wieder aus Michael Marx. Der Mann ist omnipräsent und vielleicht das Gesicht der Veranstaltung. Auf jeden Fall hat er auch Entertainer-Qualitäten.

Oldtimer Rallyes sind ein Familienfest und deswegen trinken wir mit der Crew aus dem 450er Benz schnell noch ein lauwarmes Bier auf dem Parkplatz. Dann geht es unter die Dusche. Oldtimer Rallyes sind auch eine Mischung aus olympischem Geist und Altherrenfußball. Dabei sein ist fast alles und heile ankommen das wichtigste.

Das schafft nicht jeder. Es überrascht uns ein wenig, als wir bei der Siegerehrung erfahren, dass der Rolls Royce, den wir an der Hämelschenburg noch bewundert hatten, Einbeck fast nicht erreicht hätte. Die Emily wollte einfach nicht wieder anspringen. Doch Michael Marx und sein Team wussten zu helfen. Ein paar gezielte Hammerschläge auf den Anlasser und der Silver Spirit flog wieder.

Damit bleiben drei Erkenntnisse: Eine Luxuskarosse funktioniert manchmal wie ein Hanomag, Oldtimer fahren macht müde aber glücklich und beim nächsten Mal sind wir wieder dabei.

Freitag, 9. Juli 2021

Macht schlägt Kunst

“Tosca” verschenkt Potenzial in Sondershausen

Mit der Inszenierung von Puccinis “Tosca” verabschiedet sich Regisseurin Annette Leistenschneider aus Nordthüringen und dem Südharz. Entsprechend hoch war die Messlatte bei der Premiere zu den Schlossfestspielen Sondershausen am Donnerstag. Doch die Erwartungen wurden nicht alle erfüllt. Die Aufführung zeigt stellenweise Defizite.

Der Einstieg macht neugierig. Hyun Min Kim huscht als entflohener Häftling über die Bühne. Gekleidet ist der ehemalige Konsul Angelotti wie die Gefangenen in Guantanamo. Dazu hat ihn die Maske in einen Thüringer Wei Wei verwandelt. Das ist eine starke Aussage, in Zeiten in denen die Freiheit der Kunst von vielen Seiten unter Druck geraten ist.

Religion ist ein Erfüllungsgehilfe
der Macht. 
Alle Fotos: Ronny Ristock
Dieses Motiv taucht immer wieder auf, bis es Hye Won Nam in der Rolle der Floria Tosca im zweiten Akt deutlich ausspricht. Der Maler Mario Cavaradossi ist ein anerkanntes Mitglied der römischen Gesellschaft, bis er im Eilzugtempo politisiert wird und sein Leb en geben muss. In dieser Inszenierung trifft Kunst auf Macht, wird zum Spielball und zum Verlierer.

Die zweite Aussage betrifft die Religion. Diese ist immer ein Erfüllungsgehilfe der Macht, verkörpert in der Gestalt des Polizeichefs Scarpia. Manifestiert wird dies am Ende des ersten Aktes, als sich Polizisten aus den Mönchskutten pellen.

Das Taschentuch kann stecken bleiben. Mit den Emotionen hapert es in dieser Inszenierung. Das liegt vor allem an der Musik. Das Loh-Orchester schaltet zu Beginn der Aufführung in das Largo und kommt aus dieser Gangart nicht mehr raus. Mit diesem Mangel an Differenzierung wird jede Menge Potenzial verschenkt. 

Spätestens um 22.00 Uhr stellt sich das Gefühl ein, alles das an diesem Abend schon ein- bis zweimal gehört zu haben. Besonders die Kerker-Szene und die Duette von Tosca und Cavaradossi dort leiden darunter. Wenn man sich seit mehr als 2 Stunden im gebeugten Trauer-Modus bewegt, dann kann man gar nicht mehr tief fallen.

Zudem ist “Tosca” eigentlich eine rasante Oper. Die Handlung ist extrem komprimiert. Innerhalb von 24 Stunden wird eine große Liebe auf die Probe gestellt, bricht eine Welt zusammen und es sterben vier Menschen für nix und wieder nix. Da darf es schon ein bisschen mehr sein an Tempo, Dramatik und Ausdruck. Dann würden die tragischen Szenen im Kontrast dazu besser wirken.

Endlich mal Emotion. 
Foto: Ronny Ristock
Auch das Bühnenbild von Wolfgang Rauschning erfüllt nicht die hoch gesteckten Erwartungen. wie schon bei der “Addams Family” wirkt es beengt und hinein gequetscht in die Kulisse des Schlosses. Eine Öffnung zu den historischen Bauten im Hintergrund liegt doch im zweiten Akt geradezu auf der Hand.

Es drängt sich der Eindruck auf, dass gerade dieses kleinteilige Bühnenbild ein Mehr an schauspielerischen Elementen verhindert. Die Oper bietet zu oft die Abfolge “Auftritt - Rezitativ - Arie - Abgang”.

Entwicklung und Überraschung

Eine erstaunliche Entwicklung zeigt Kyounghan Seo in der Rolle des Mario Cavaradossi. Aus seinem einst rein technischen Gesang hat der Tenor mittlerweile einen durchweg lyrischen Vortrag gemacht. Je länger er in Nordhausen und Sondershausen ist, desto mehr gewinnt er an Ausdrucksfähigkeit. Seine Stimme scheint nun mit Samt unterfüttert. Man darf gespannt sein, zu welchen Leistungen Seo in der kommenden Spielzeit fähig sein wird

Die Überraschung des Abends ist Johannes Schwärsky in der Rolle des Scarpia. Der Bariton kann nicht nur mit einem enormen Stimmumfang überzeugende, den er in Höhen und Tiefen gleichermaßen fehlerfrei auf die Bühne bringt.

Der Heimkehrer ans Theater Nordhausen weist auch mit schauspielerischen Qualitäten zu glänzen. Er kreiert sowas wie eine netten Fiesling. Sein Scarpia ist nicht nur ein Bösewicht sondern auch ein Mensch mit dunkler Seite. Es ist fast schon schade, dass Scarpia sein Leben am Ende des 2.Aktes aushauchen muss.





Dienstag, 6. Juli 2021

Frieden mit Gott und der Welt machen

Premiere im DT Göttingen: Ein Hiob, der zutiefst berührt

Was uns in den Zeiten des Streaming fehlte, sind die tiefen Emotionen und die Empathie, das macht “Hiob” in der Inszenierung von Matthias Reichwald deutlich. Am Samstag war Premiere im Deutschen Theater Göttingen. Das Publikum war zurecht begeistert. 

Am Ende macht der Protagonist Mendel Singer Frieden mit sich selbst, seinem Gott und der Welt. Doch bis es so weit ist, präsentieren Reichwald und das Ensemble eine weite Reise durch die verschiedenen Spielarten des Unglücks. Es ist ein Stück für Erwachsene. Die Inszenierung stellt Fragen, ermöglicht dem Publikum viele Analogien und bereitet den Boden für eigene Antworten. Der Wandel, den die Protagonisten im Laufe der Aufführung durchmachen, ist konsequent und verständlich.

Ob das Happy End im xs-Format nun ein Wunder, die Folge moderner Medizin, auf Zufall basiert oder aus einer Kombination besteht, diese Frage darf jeder Zuschauer sich selbst beantworten. Klar ist nur, dass Mendel Singer letztlich Recht behalten hat, dafür aber einen hohen Preis bezahlt hat.

Ab sofort hat Mutter das Sagen. 
Alle Fotos: Thomas Müller
Die Romanvorlage von Joseph Roth breitet auf etwa 200 Seiten das Leben eines einfachen Mannes im ländlichen Russland der Jahrhundertwende aus. Die Masse an Informationen, Bedingungen, Zeitbezügen und Milieustudien bekommt Reichwald mit einem überzeugenden Konzept in den Griff. Er präsentiert eine Mischung aus szenischer Lesung und Schauspiel. Die Rahmenbedingungen und die Handlung werden erzählt, wichtige Stadien dargestellt.

Roth hat seinen Roman in seinem Milieu angesiedelt, das heute von vielen als Stetl romantisiert wird. Dabei war es ein Leben an der Armutsgrenze. Das machen schon die Kostüme deutlich. Sie scheinen aus der Altkleidersammlung zu stammen und haben ihre besten Tage sehr lange hinter sich. Mit dem Verzicht auf Historismus transportiert Elena Gaus die Not auch in die Gegenwart. 

Im zweiten Akt ändert sich alles, auch die Kleidung. Es glitzert und glämmert. Nur Mendel Singer bleibt seinem Pullover treu. Er ist ihm zur zweiten Haut geworden.

Das Bühnenbild von Jelena Nagorni ist der besondere Clou. Es besteht nur aus einer großen Wippe. Das reduzierte Bild lässt die Akteure zur Geltung kommen und es unterstützt die Aussagen der Inszenierung. Als Monument des Erfolgs kommt später eine Kühlschrank hinzu. 

Im ersten Akt sieht man die Unterseite der Wippe. Es ist das ärmliche Haus der Singers, das fast schon wie eine Höhle wirkt. Das Dach scheint nicht dicht zu sein und jedes Mal, wenn ein Kind der Singers die Heimat verlässt, nimmt es ein Stück Wand mit. So bleibt nichts von der schützenden Funktion.

Im zweiten Akt kippt die Wippe.In der Draufsicht wird sie zur schrägen Ebene. Es ist schwer, hier Halt zu finden. Mendel Singer wird es nicht schaffen. Ironischerweise wird gerade der Kühlschrank zu seinem Rückzugsort, zu seiner neuen Heimat. Diese alles zusammen ergibt eindrucksvolle Bilder, die auch noch weit nach der Vorstellung faszinieren. 

Dazu kommt eine erstklassiges Ensemble. Jeder und jede scheint am richtigen Platz. Gerd Zinck scheint wie geschaffen für die Rolle des Mendel Singers. Zurückhaltend bringt er die stoische Gelassenheit diese schicksalsergebenen Mannes auf die Bühne. Seine Gestik bleibt meist sparsam und die Stimme leise und unaufdringlich. Jedes Wort, dass er von sich, gibt er mit Bedacht von sich.

Der Kühlschrank wird zur neuen Heimat.
Alle Fotos: Thomas Müller
Zinck nimmt das Publikum mit. Man ist hin und hergerissen zwischen Verständnis, Mitleid und der Aufforderung "Junge, werde doch endlich wach". Dieser Zwiespalt geht an die Nieren.

Dennoch wirkt Zinck, ist er der Mittelpunkt der Aufführung. Das ist große Schauspielkunst. Wem da nicht manchmal der Kloss im Hals steckenbleibt, der hat kein Herz, so gar keins.

Die stärkste Entwicklung in dieser Inszenierung bringt Rebecca Klingenberg in der Rolle der Deborah Singer auf die Bühne. Von der gehorsamen Ehefrau wandelt sie sich glaubhaft zur treibenden Kraft. Irgendwann hält sie es in diesem Elend und mit diesem Mann nicht mehr aus. Mit immer größeren Gesten verkörpert Klingenberg, den immer größeren Raum, den Deborah für sich beansprucht. Ihre immer schnellere Sprechweise zeigt, dass sie die Geduld verloren hat. Doch sie begibt sich in eine Welt, die sie überfordert. Ein Betrag von 10 Dollar überfordert eine Frau, die bisher jede Kopeke zweimal umdrehen musste. 15.000 Dollar erst recht. Das sprengt ihre vertrauten Dimensionen.

Da ist der Zerfall ihrer Ehe nur die logische Folge. Hier liegt eine Stärke dieser Inszenierung. Reichwald zeigt, dass äußere Handlung und innerer Gemütszustand immer korrespondieren sollten. Sonst kam es nicht klappen. Singer stellt den Ausreiseantrag mit Widerwillen, also steht die Reise unter keinem guten Stern..

Als multiple Persönlichkeit zeigt Florian Eppinger, wie wenig es braucht für gutes Schauspiel. Im Kaftan ist er der Rabbi, mit einer Filzdecke über dem Kopf ist er Sameschkin, der Fuhrmann, der sich vor den Unbillen des Wetters schützt. Die Brille auf der Nase macht den Arzt und mit der Pelzmütze auf dem Kopf wird Eppinger zu Kapturak, einer zwielichtigen Gestalt, die ihren bescheidenen Wohlstand aus der Not der anderen zieht. Dabei ist die Anlage dieser vielfältigen Personen vielleicht ein wenig zu gleichförmig geraten. 

Wie einfach aber auch umfassend Theater funktioniert, verdeutlichen die Büroszenen am Ende des ersten Akts. Ohne viele Worte und nur mit übertrieben Gesten, also fast schon im Stummfilm-Modus, bringen die Akteure die Mühlen der Bürokratie zum Laufen. das wirkt auch noch 90 Jahre nach der Veröffentlichung der Romanvorlage

Nach der zweiten Premiere im geschlossenen Haus des DT bleibt die Erkenntnis: Endlich wieder Theater, endlich wieder applaudieren, endlich wieder weinen dürfen.


Sonntag, 4. Juli 2021

Stotterstart bei den Schlossfestspielen

Addams Family in Sondershausen ist vor allem routiniert

Acht Monate war der Spielbetrieb des Theater Nordhausen und des Loh-Orchesters lahmgelegt. Bei den Schlossfestspielen in Sondershausen erfolgt mit der Premiere der “Addams Family” am Donnerstag der Neustart. Doch das Musical war ein Stotterstart.

Die letzten beiden Spielzeiten fanden im Park vor dem klassizistischen Flügel statt. Nun sind die Festspiele in den Innenhof zurückgekehrt. In seiner Begrüßungsrede freute sich Intendant Daniel Klajner, wieder im Wohnzimmer spielen zu dürfen.

Doch mit der Rückkehr in den Schlosshofes ist viel an sommerlicher Atmosphäre verloren gegangen. Konnten die Festspiele 2019 und 2018 mit Weite, Licht und Luftigkeit verzaubern, herrscht nun wieder mittelalterliche Enge.

Darunter leidet auch das Bühnenbild von Wolfgang Rauschning. Es wirkt gedrängt und eingequetscht. Vor allem leidet es unter dem Manko, dass der Sitzplatz über den Genuss entscheidet. Wer rechts auf der Tribüne sitzt, dem ist schlicht die Sicht versperrt.

Marvin Scott gehört in der Rolle des 
Onkel Fester zu den Pluspunkten.
Alle Fotos: Julia Lormis 
Die “Addams Family” ist ein Musical, das die Andersartigkeit und die Vielfalt thematisiert. Damit ist es wie geschaffen für Zeiten, in denen gratismutige Fußballer Armbinden in bunten Farben tragen. Zumindest diese Herausforderung und die Anforderungen eines innergesellschaftlichen Clash of Cultures arbeiten Regisseur Ivan Alboresi und Juliane Hirschmann heraus.

Die Bewegung aufeinander zu verändert beide Seite. Wednesday Addams entwickelt eine ungewohnte Zuneigung zu Tieren, Alice Beineke entdeckt ihre lüsterne Seite und Morticia Addams muss erkennen, dass auch ihre Ehe unter Abnutzungserscheinungen leidet. Ausgerechnet der junge Pugsley ist den Erwachsenen schon früh einen Schritt voraus. In einem der wenigen gelungenen Soli singt ere davon, dass auch er sich wird ändern müssen.

Die Comics mit der Addams Family war in den 60-er Jahren die skurrile Antwort auf die heile Welt der kleinbürgerlichen Familien. Aber in Zeiten, in denen in deutschen Vorstädten Tausende Addams-Familien wohnen, hat die Ausgangslage an Reiz verloren. Mancher Gag zündet nur noch bei der Generation Ü 60.

Es bleibt vor allem der Eindruck “vorhersehbar, zu routiniert und wenig inspirierend”. Auch wenn die Inszenierung nach der Pause deutlich an Tempo und Witz gewinnt, so sind 75 Minuten Aufwärmzeit einfach zu viel.

Verloren gegangen ist auch der Reiz der andersartigen Musik. Als Reminiszenz an die 60-er Jahre und an die spanischen Wurzeln der Addams steckt dieses Musical eigentlich voller Mambo und Rumba. Doch das Loh Orchester unter Henning Ehlert hat die Exotik verbannt. Die Musik klingt nach Musical-Massenware und in der Feinabstimmung hapert es bei der Premiere auch ein wenig.

Acht Monate lang gab es kein Lebenszeichen vom Theater Nordhausen und auch nicht vom Loh Orchester. Wo andere Ensembles den Weg in die Digitalisierung gewagt haben oder einfach neue Formen ausprobiert haben, haben die Thüringer Theater die Füße still gehalten. Das hat ihnen nicht gut getan. Das wird in dieser Premiere mehrfach deutlich. An einigen Stellen ruckelt und holpert es.

Alice und Morticia beim Blick ins
Familienalbum. 
Alle Fotos: J. Lormis
So braucht Marian Kalus mehr als eine halbe Stunde, bis er sich in seine Rolle eingefunden und hereingesungen hat. Da fehlt es an Tiefe und Leidenschaft. Es klingt wie vom Blatt gesungen. Aber auch anderen Darstellerinnen und Darstellern geht es nicht besser. Philipp Franke fehlt es einfach an Körperlichkeit, um die Rolle des robusten und burschikosen Mal Beineke glaubhaft auszufüllen. Da kann man nur hoffen, dass sich das Ensemble und das Orchester in den kommenden Wochen einspielen.

Das wird aber nicht die dramaturgischen Defizite beheben. Das Musical wirkt wie eine Nummernrevue. Viele Szenen stehen zusammenhanglos nebeneinander. Im Gegenzug wurde die Folterszene mit Wednesday und Pugsley, in der sich der Konflikt kristallisiert, auf Unkenntlichkeit verkürzt.

Für die Überraschungen sorgen Marvin Scott und Brigitte Roth. Der Tenor gibt der amorphen Gestalt des Onkel Fester nicht nur eine überzeugende Stimme. Er macht auch ihm eine echte Person, die zu den wenigen handelnde Gestalten dieser Inszenierung gehören. Seine Partien mit dem Chor der Vorfahren sind die musikalischen Höhepunkte und die treibenden Szenen.

Wo andere in Ungewissheit baden, sprudelt Brigitte Roth als Grandma geradezu vor Energie. Mit fester Stimme und fixen Bewegungen zeigt sie, dass auch 102-Jährige durchaus in der Lage sind, Veränderungen zu bewältigen.



Mittwoch, 30. Juni 2021

In 80 Bildern um die Welt

Reisebilder Sehnsuchtsorte im Kunsthaus Meyenburg

Die Durststrecke hat 16 Monate gedauert, nun ist sie beendet. Am Sonnabend eröffnete im Kunsthaus Meyenburg die neue Sonderausstellung. Unter dem Titel “Reisebilder Sehnsuchtsorte” sind 80 Werke zu sehen, die sich in unterschiedlicher Form mit dem Fernweh beschäftigen. 

In ihrer Begrüßung erinnerte Bürgermeisterin Jutta Krauth an Einschränkungen des letzten Jahres. So musste sie die letzte Vernissage im März 2020 noch persönlich absagen und die Gäste nach Hause schicken. Deswegen sei es umso schöner, dass man zwar in begrenzter Zahl aber doch gemeinsam eine Ausstellung eröffnen könne.
Wenn man im letzten Jahr etwas gelernt habe, dann wie wichtig es ist, aufeinander Acht zu geben. In diesem Sinne wünschte sie den Zuhörerinnen und Zuhörern einen unbeschwerten Kunstgenuss. 

In seiner Einführung erinnerte Dr. Michael Grisko von der Sparkassen-Kulturstiftung daran, wie sehr sich das Reisen in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Dank zunehmender Technisierung sei der Charakter des Verreisens als Abenteuer verloren gegangen. Das Thema “Falsch abgebogen” stelle sich dank Navigationsgerät nicht mehr.

Regelkonforme Vernissage im Park.
Fotos: Th. Kügler
Er machte auch auf die Subjektivität der Wahrnehmung aufmerksam. Den Nil auf einem Schiff zu überqueren sei etwas anderes als ihn mit dem Flugzeug zu überfliegen. Es sei schwer, diese unterschiedlichen Eindrücke in Einklang zu bringen. 

Kunsthauschefin Susanne Hinsching. gab eine Einführung in die Werke. Ansätze zur Landschaftsmalerei habe es in der Neuzeit mehrere gegeben. Doch erst mit dem Impressionismus im späten 19. Jahrhunderts gewann sie ihre heutige Bedeutung. Die Impressionisten brachten auch neue Arbeitsweisen ein, indem sie “plein air”, also die Freiluftmalerei,  zum Standard machten. 

Ein weiterer Wendepunkt seien die Arbeiten von Gauguin. Die Bilder seiner zweiten Tahiti-Reise habe die massiven Farben in den Vordergrund gerückt und den Expressionismus vorbereitete. 

Hinsching betonte auch, dass Sehnsuchtsorte nicht immer in der Ferne liegen müssen. so hat man die Leihgaben der Galerie Sundermann mit Werken aus der eigenen Sammlung ergänzt, die den Harz und die Region zeigen. Auch durch die Corona-Beschränkungen habe sich der Begriff  Sehnsuchtsort verschoben. Wegen innerdeutschen Reiseverboten und Ausgangssperren wurde manchmal schon der Nachbarort zu Sehnsuchtsort. 

Diesen Gedanken greift das erste Werke der Ausstellung auf. Die Installation in der Eingangshalle zeigt eine vermeintliche Eisenbahner-Idylle mit kleinen Störungen. In der Tonspur sind die Partikel enthalten, die auf die Störungen hinweisen.

Die Ausstellung

Die Gliederung der Ausstellung ist einfach nachzuvollziehen. In neun Räumen werden neun Länder oder Region abgearbeitet. Die luftige Hängung lässt Platz für Gedanken und Zitaten von ausgestellten Künstlern. 

Venedig: Ein Thema drei Bilder. 
Fotos: Kügler
EiWährend die erste Etage von den bekannten Namen wie Monet, Cezanne oder Chagall  dominiert wird, bietet vor allem das Obergeschoss die Überraschungen und Entdeckungen. Das ist zum einen die orientalische Fantasie von August von Siegen. Das Gemälde des weitgehend unbekannten Österreichers besticht durch seinen Fotorealismus und die direkte Ansprache der Betrachter. 

Ein Kontrapunkt dazu bilden die Werke von Denis Jully. Der zeitgenössische Franzose löst die Konturen weitestgehend auf, so dass nur noch Licht und Farben bleiben. Damit reaktiviert er den Impressionismus in einer abstrakten Form. Dennoch geht von seinem marokkanischen Wasserfall eine erfrischende Wirkung aus.

Der Clou der Hängung ist der Kuratorin Hinsching im Italien-Raum gelungen Drei Bilder auf einer Wand widmen sich dem Motiv Venedig und Canal Grande. Das Werke eines unbekannten Künstlers verdeutlich das Treiben der Gondeln und Barken um 1800. Der monochrome Markusdom des Nordhäuser Jürgen Rennebach zeigt das Gebäude in einer ungewohnten Dynamik. Abgeschlossen wird der kleine Zyklus mit einer dunklen Lithographie von Ilsetraut Glock-Grabe zum venezianischen Karneval.

Die Daten

Die Ausstellung läuft noch bis zum 17. Oktober. Geöffnet ist das Kunsthaus Meyenburg dienstags bis freitags von 13.00 bis 17.00 Uhr und am Sonnabend und am Sonntag  von 10.00 bis 17.00 Uhr.