Samstag, 31. Dezember 2016

Eine Tragödie in Jazz

Ein Blick von der Brücke am DT Göttingen

Das ist ohne Frage eines der stärksten Stücke am Deutschen Theater in Göttingen in dieser Spielzeit. Am Freitag stand die Premiere von Millers "Ein Blick von der Brücke" auf dem Spielplan. Die Inszenierung von Ingo Berk überzeugt in allen Belangen. Sie ist eine Reise in die Vergangenheit, ein Statement über die Gegenwart und eine Prognose zu Zukunft zugleich.

New York in den 1950er Jahren. Der Hafenarbeit Eddie Carbone und seine Frau Beatrice wohnen mit ihrer verwaisten Nichte Catherine im Hafenviertel Red Hook. Die italienischen Einwanderer der zweiten Generation leben in sicheren aber bescheidenen Verhältnissen. Oberflächlich ist Eddie um den gesellschaftlichen Aufstieg des Ziehkindes bemüht. Er wacht als strenger Ersatzvater über sie, heimlich begehrt er die frühreife 17-Jährige.

Es ist eine fragile Konstellation, die in sich zusammenbricht als Marco und Rodolfo ins Spiel kommen. Beatrice Cousins wurden von Schleppern nach New York geschleust. Sie wollen dem Elend in der sizilianischen Heimat entgehen und müssen sich als Illegale vor den Behörden verstecken. Als sich Rodolpho und Catherine ineinander verlieben und heiraten wollen, nimmt das Unglück seinen zwangsläufigen Verlauf. Eddie verstößt gegen die ungeschriebene Gesetze der italienischen Gemeinschaft in New York. Er verrät den Nebenbuhler an die Einwanderungsbehörde und muss dafür den Königstod sterben.

Beatrice, Eddie und Catherine leben in einem
fragilen Konstrukt. Alle Fotos: Thomas Aurin
Millers "Blick von der Brücke" ist ein Paradebeispiel der klassischen Moderne mit einer deutlichen Prise episches Theater. Aber genau genommen ist es ein Werk, das alle Zutaten einer griechischen Tragödie beinhaltet. Die Ausgangslage ist wackelig und wird mit Mühen in Balance gehalten, ein wenig Elektra kommt dazu und der deutliche Verweis auf den Inzest. Neue Figuren auf der Bühne verursachen eine Schieflage, der Verstoß gegen die Gesetzmäßigkeiten bringen den Stein ins Rollen, der Mensch verliert die Kontrolle und die Schussfahrt auf der schiefen Ebene endet letal.

Die Rolle des klassischen Chors konzentriert sich auf den Anwalt Alfieri. Er gibt die Einleitung, der ist der Kitt zwischen den Szenen und er darf den Epilog sprechen. Mit den Verweis auf Siziliens gebrochenes Verhältnis zu Recht und Gerechtigkeit  seit den Zeit der Griechen und Römer macht er den Ewigkeitsanspruch deutlich, denn es werden hier noch andere Dauerthemen verhandelt.

"Blick von der Brücke" auf die Flüchtlingsfrage zu reduzieren, das wird dem Stück nicht gerecht. Es um auch um Fehlverhalten und Rache, um Adoleszenz und Loslösung, Wahrheit und Kompromiss, und um die zerstörerischer Kraft der Eifersucht.

Paul Wenning wirk als  Anwalt Alfieri ein wenig wie ein Sam Spade der Juristerei, abgeklärt und ahnungsvoll, hilfsbereit aber distanziert, wissend um die Regeln der Gruppe immer an Rande der Legalität, reduziert in Gestik und Mimik und mit der Stimme immer im grünen Bereich. Mit dieser Leistung überzeugt er, schade nur, dass er an diesem Abend gleich drei Hänger hat.

Nicht nur als Marco und Rodolpho abgeführt werden,
steht Eddie außerhalb.
Zum abgeklärten Wenning ist Florian Eppinger der belebende Kontrast. Sein ddie Carbone ist von Coolness soweit entfernt wie Red Hook von Malibu Beach. Er bringt die inneren Anspannung, die Zerrissenheit mehr überragend auf die Bühne. Sein ganzer Körper steht 1 Stunde 45 unter Strom und in der Figur des Hafenarbeiters steckt jede Menge Körperlichkeit. Denn auch das machen Eppinger und Berk deutlich: Eddie ist als Hafenarbeiter selbst nur ein besserer Tagelöhner und steht an der Kante der Gesellschaft. Dem feingeistigen Rodolpho  kann er nur Handfestes entgegensetzten.

Andrea Strube in der Rolle der Ehefrau Beatrice gewinnt im Laufe der Vorstellung immer mehr an Präsenz.  Vom Heimchen am Herd wird sie zur Seher, zur einzigen, die alle Schichten des Konfliktes durchblickt. Diese Wandlung macht Strube mit Stimme und Gestik sichtbar. Folgerichtig offenbart sie die Ehekrise und genauso folgerichtig bringt sie die sexuelle Komponente der Tochter-Ersatzvater-Beziehung auf den wunden Punkt.  Trotzdem kann Strube glaubwürdig vermitteln, dass Beatrice bei aller Einsicht die Mitteln zum Handeln fehlen.

Doch, doch, die Inszenierung von Ingo Berk ist purer Jazz. Sie ist rasant und treibend wie ein Song von Charlie Parker und todtraurig wie ein Solo von Chet Baker zugleich. Einen großen Anteil daran hat das überwältigende Bühnenbild von Damian Hitz.

Als sich der eiserne Vorhang hebt, gibt er den Blick frei auf ein Sofa mit Gebrauchsspuren. Abschirmt ist die Spielfläche durch ein Wald von Eisenstreben, die Erinnerungen an die Brooklyn Bridge wecken.

Man schaut in die Dunkelheit des Bühnenhaus. Zahlreiche Spot setzen die Backsteinwände mit Gebrauchsspuren in ein Spiel aus Licht und Schatten. Dies setzt Assoziationen mit der Architektur aus New Yorks stürmischen Zeiten frei. Dazwischen steht eine Stahlkonstruktion aus T-Träger. Hier oben thront Alfieri allwissend.

Alfieri (links), versucht Marco von seinen Rache- 

gedanken abzubringen.  Alle Fotos: Th. Aurin
Das Licht wird in dieser Inszenierung zum eigenständigen Teil. Es setzt nicht nur Akzente. Es zieht deutliche Grenzen zwischen den Spielflächen auf der Vorder, Mittel- und Hinterbühne und trennt so die erzählerischen Ebenen.

"Ein Blick von der Brücke" fasziniert durch seine erzählerische Dichte. Arthur Miller verknüpft hier unterschiedliche Fäden zu einem Handlungsstrang.  Berks Inszenierung macht die Kett- und Schussfäden sichtbar, ohne dem Werk etwas von seiner Rasanz zu nehmen. Innerhalb von einer Stunde 45 schafft er einen Kosmos und lässt ihn gleich wieder einstürzen. Die Betrachtung erfolgt aus mehreren Perspektiven und das Motiv des Verlustes in all seiner Vielfältigkeit durchzieht die Aufführung deutlich.

Er liefert ein glaubwürdiges Abbild gesellschaftlicher Wirklichkeit und wirkt wie ein Film noir aus dem Migrantenmilieu. Die Sprache ist abgeklärt und zynisch und transportiert doch nur Wahrheit. Miller verzichtet auf langatmige Selbstbekenntnisse und lässt die Handlung sprechen.

 Jedes Wort ist am richtigen Platz und Dank der Dramaturgie von Sonja Bachmann ist es kein Wort zuviel. Mancher im Publikum versucht den Realitätschock an diesem Abend wegzukichern. Als Ediie mit "Geh schon mal ins Bett, ich komme gleich hinterher" die Ehekrise in einem Standardsatz manifestiert herrscht im Parkett die berühmte Sekunde selbsterkennendes Schweigen

"Ein Blick von der Brücke" ist nicht einfach ein Trauerspiel über illegale Arbeitskräften. Miller bringt hier Amerikas großes Thema der 50er und 60er Jahre auf die Bühne: Das Verhältnis von Ingroup und Outgroup. Die Illegalität ist nur die offene Flanke, die Eddie im Kampf um sein verlorenes Terrain nutz.

Es geht um das Dazugehören wollen, um die Regeln des Spiels und um die Angst, ausgestoßen zu werden. Dieses Thema ist wieder ganz gegenwärtig und es wird Bestand haben, das ist der Blick nach vorn.

Mit diesem Stück hat Ingo Berk nicht nur die Absenz seines großes Dramatikers beendet und eine wichtige Ära des Theaters. Es ist ihm gelungen, die Verweise in die Jetztzeit auf sehenswerte und faszinierende Weise deutlich zu machen.



Deutsches Theater - Der Spielplan
Deutsches Theater - Das Stück

wikipedia - Der Autor



Samstag, 24. Dezember 2016

An der Revolution verzweifelt

DT Göttingen bringt Mathematikprofessorin auf Bühne

Gibt es eigentlich einen besonderen Gattungsnamen, wenn die Biographie einer beliebigen Person auf die Theaterbühne gebracht werden? Na, egal.  Anne Jelena Schulte hat das Leben von Sofja Kowaleskaya zu einem Theaterstück verdichtet und Antje Thoms hat es für das Deutsche Theater bearbeitet. Das Ergebnis ist Kopftheater und am Donnerstag war Uraufführung im DT - 2.

Sofja Kowalewskaya ist heute wohl so etwas wie ein vergessener Star der Wissenschaftsrevolution im 19. Jahrhundert. Sie war nicht nur eine hochbegabte Wissenschaftlerin und weltweite die erste Frau, die eine Professur für Mathematik bekam, sondern auch eine Kämpferin für die Rechte der Frauen. Die Tochter eines russischen Generals überwand mit Beharrlichkeit alle Hürden, lebte ein schnelles Leben, stürzte in tiefe Not und verstarb früh. Fast schon ein James Dean der Zahlen und Formeln.

Das Bühnenbild von Jeremias Böttcher ist pure Geometrie. Es erinert an ein rühes Werk von Malewitsch. Auf schwarzem Grund treffen sich unzählige weiße Linien im rechten Winkel und laufen ins Unendliche. In der Mitte steht eine Drehbühne in Form eines Würfel. Er wird später zur zentralen Spieleinheit, zum Mittelpunkt des Geschehens. Die menschlichen Dinge sind an den Rand gedrängt, im wesentlichen geht es um Abstraktion.

Am Anfang steht eine Verabredung.
Alle Fotos: DT Göttingen
Je länger die Aufführung dauert, desto deutlicher wird, dass dem Werk die emotionale Komponente, die Tiefe oder vielleicht auch die russische Seele fortwährend abhanden kommt. Alles ist Berechnung, selbst die Ehe mit Wladimir Kowalewsky. Damit kommt die Inszenierung der Realität in der zaristischen Oberschicht und den Startvoraussetzungen der Emanzipation wohl ziemlich nah.

Dennoch beginnt das Stück mit jugendlichen Übermut. Sofja, ihr Schwester Anjuta und die gemeinsame Freundin Julja verabreden sich, die russische Provinz zu verlassen und in der Fremde zu studieren. Dafür gibt es nur eine Möglichkeit: Scheinehe. Sofja heiratet Wladimir Kowalewsky und er willigt in das Arrangement ein. Die vier gehen auf Auslandsreise und bilden in Heidelberg eine WG aus der Kategorie "Finger weg".  Das Bündnis zerbricht, als Anjuta nach Paris geht.

Im Dreigestirn sind die Rolle klar verteilt. Felicitas Madl spielt die dominante und lebensnahe Anjuta. Ihr Wandel zur Emotionsbewußten passiert leider im Verborgenen. Christina Jung überzeugt in der Hauptrolle der verkopften und ein wenig unbedarften Sofja Kowalewskaja. Sie bleibt durchweg stoisch und zurückhaltend, denn och schafft sie es, Akzente zu setzen. In dieser Dreier-Konstellation gerät Dorothée Neff leider etwas aus dem Fokus.

Die Rolle des verhinderten Ehemanns, Orientierungsloser und Revolutionär ein wenig Widerwillen erfüllt Bardo Boehlefeld so gut, dass man ihn durchaus mal tröstend zu Seite nehmen möchte, um ihn Mut zu zusprechen. Die Duette Jung und Boehlefeld  prägen die Inszenierung. Doch es sind vor allem Wladimirs gesprochenen Briefe an den Bruder die das Stück strukturieren. Sie bilden den Kitt zwischen den Stationen. Zudem ist es eine schöne Reminiszenz an die Literatur des 19. Jahrhunderts, wichtige Teile in auf Paper auszulagern.

Jeßing (rechts) spielt soviele Professores, dass es
für eine ganze Uni reicht.
Seine Wandlungsfähigkeit beweist Andreas Jeßing an diesem Abend ein ums andere Mal. Der Dialog Sofja und Un-Leitung mit Jeßing als die Proffessores Friedrich und Kirchhof und sonstigen Schargen des Wissenschaftsbetrieb gehört zu den den wenige heiteren Momenten.

Der Hang zum "Brief zitieren" ist nur eine Reminiszenz an das 19. Jahrhundert. Auch ansonsten steckt das Werk mitten im Symbolismus. Da ist das Tee trinken als Ausdruck des alten Russlands und die beständige Ablehnung, die musikalische Begleitung  und vor allem der Bezug auf Tschechows Kirschgarten als Zeichen für den vergangenen Glanz einer erstarrten Oberschicht.

Doch das stärkste Symbol ist der drehende Würfel. Diese Bühne gerät immer dann in Rotation, wenn Bewegung angesagt ist, wenn lange Reise anstehen, revolutionäre Veränderungen vor der Tür stehen oder sich die Binnenverhältnisse ändern.

Es ist müssig zu fragen, ob sich das Leben von Sofja Kowalewskaja sich wirklich bis ins Detail so abgespielt hat. Sie war ein Kind ihrer Zeit und ihrer Klasse und hat wie viele andre Jungrussen mit adeligen Hintergrund Stückwerk hinterlassen. Das revolutionäre Subjekt kommt aus der Oberschicht, es geht nicht nur um die Befreiung der Massen, sondern vor allem um das Ich. Das Proletariat kommt nur in Form der Amme vor. Als Anjuta sich mit den Proletariern verbundet, endet es in der Katastrophe der Pariser Kommune.

Wahrscheinlich liegt hier der Kern des Stücks, der erst noch freigelegt werden muss. Die Parallelen zu den Befreiern von Heute sind da.


Deutsches Theater - Der Spielplan
Deutsches Theater - Das Stück

Sofja Kowalewskaya bei wikipedia



Mittwoch, 21. Dezember 2016

Der Prinz im Purple Rain

Schwanensee am Theater Nordhausen schlägt eine Brücke

Wort gehalten. Als Ivan Alberosi seine Stellung als Ballettdirektor in Nordhausen antrat, versprach er eine spannende Mischung aus klassischen Ballet und aus modernen Tanztheater. Gleich mit seiner ersten abendfüllenden Choreographie "Schwanensee" hat er dieses Versprechen gehalten. Das Ballett schlägt eine Brücke zwischen den Zeiten und versteht es auch, andere Ausdrucksmittel einzubauen.

Der Auftakt verbleibt im klassischen Deutungsmuster. Vom ersten Takt an macht das Loh-Orchester unter der Leitung von Henning Ehlert deutlich, dass es einen Schritt nach vorne gemacht hat. Zum vollen Klang kommt ein filigranes und transparentes Gesamtbild. Jedes Instrument ist erkennbar und kommt im Laufe des Abend zu seinem Recht. Gerade die Holzbläser werden Akzente setzen. Damit scheint alles bereit für ein märchenhaftes Spiel.

Im ersten Akt öffnet Ivan Alboresi eine charmante Trickkiste. Das Bühnenbild von Ronald Winter lockt auf den ersten Blick in die Märchenecke Ein Ballsaal, die Tanzgesellschaft tritt ein, zuerst die Herren im Sakko. Sie durchmessen den Raum, sind die Beherrscher des Saals, die Boyz n the Hood. Dann finden sich die Paare und die Dance Hall Party beginnt.

Ivan Alboresi hat sein Versprechen eingehalten.
Foto: tok
Doch das Bild trügt, denn wenn auch traditionelle Figuren noch die Bühne beherrschen, so zeigt die klassizistische Fassade des Bühnenbild deutliche Risse. Die Zeichen. Nicht alles ist so wie es scheint und die Zeichen an der Wand schlagen sich auf den Tanzboden nieder.

Nun  kommt Prinz Siegfried hinzu. Doch es ist ein doppelter Siegfried. Einmal der gute Prinz in weiß und der zwielichtige in schwarz-rot. Alboresi verzichtet auf den Zauberer Rotbart und zerlegt stattdessen den Helden in seine Bestandteile. Er spiegelt  die Doppeldeutigkeit der Odette/Odile in der zweiten Hauptfigur wider und macht aus dem Prinzen einen Menschen wie jedermann. Damit bekommt das Ballett ein neue Moment, eine neue Dimension. Das Märchenspiel wird zum Psychogramm.

Aus dieser Doppelung ergibt sich eine weitere Ergänzung. Nun stellt sich die Frage nach dem Verhältnis der Gruppe zum Individuum und die Antwort ist durchaus konfliktbeladen. Denn die Gruppe positioniert sich eindeutig gegen den weißen Siegfried.

Der zweite Akt beginnt mit einem Aha-Effekt. Die rissige Fassade entschwindet nach nach oben und gibt den Blick frei auf ein Kabinett von Zerrspiegeln. Sie werfen Siegfried immer wieder zurück auf sich selbst. Sie spiegeln damit schonungslos seine Einsamkeit und verlängern sie in die Unendlichkeit.

Der zweite Akt ist auch ein Cut in Sachen Tanz. Das klassische Ballett tritt nun deutlich in den Hintergrund. Der Pas de Deux von David Nigro und Konstatina Chatzistavprou ist eine Verschmelzung der Stile, von fließenden Bewegungen dominiert und nur wenige Hebefiguren bilden die Reminiszenz an die Vorlage. Hier entsteht etwas ganz Besonderes.

Am Ende des zweiten Akts versinkt Siegfried im
Purple Rain.    Foto: Theater NDH
Die Klassik findet nur als Kostüm Eingang in den zweiten Akt. Die Schwanenherden strömt im Tütü auf die Bühne, auch die Herren. Ein einfaches aber wirkungsvolles Zeichen für den frechen Umgang mit den Erwartungen des Publikums.

Der Schwarm funktioniert hier als Ganzes und die fließenden Bewegungen der sechs Tänzerinnen und Tänzer wecken die Assoziationen an ein aufgewühltes Gewässer. Manche Schrittfolge und  Position wirkt mit Absicht gestelzt, dazu werden die Arme hinter dem Rücken gespreizt. Soviel Realismus muss sein, grazil soll es schon sein. Zur Erinnerung: Das Stück heißt ja Schwanensee und nicht Ententeich.

Ivan Alboresi erneuert hier sein  Konflikt-Motiv. Wieder stellt sich die Gruppe, der Schwarm gegen den Prinzen, die Tütüs als Schutzschirme aufgestellt bilden die Körper eine undurchdringliche Wand. Odette wird dem Prinzen entrissen und der bleibt einsam im Regen der Blütenblätter zurück. Purple Rain, wie Prince singen würde.

Das bleibt nicht spurlos und so ist das Bühnenbild des dritten Aktes deutlich verändert. Es bleibt nur der klassizistische Hintergrund, die Zerrspiegel der See-Szene bleiben stehen. Der Akt wird geprägt von der Konfrontation der ungleichen Siegfrieds. Das Pas de deux von David Nigro und András Dobi nach dem Divertissments hat die Qualität eines Stierkampf. Zwei Herzen wohnen ach in Siegfrieds Brust. Der Streit ist ein innerlicher, dies machen die gespiegelten Bewegungen der Kontrahenten deutlich.

Doch gleich und gleich gesellt sich gern und deswegen erringt der finstere Siegfried die Gunst der Odile. Ihre dominante Präsenz gleicht dem Auftritt eines B-VIP auf einer Party.

Als die Party vorbei ist, bleibt Siegfried allein zurück, in sich versunken im Spotlight. Alboresi
beendet auch diesem Akt mit einem echten Hingucker. Der Beamer projiziert das bisherige Geschehen im Zeitraffer auf den Bühnenhintergrund. Das ist nicht nur eine Zusammenfassung sondern auch eine Verdeutlichung der Situation vor dem Finale.

Der schwarze Siegfried ist seinen weißen Pendant
überlegen. Foto: Theater NDH
Der Medieneinsatz ist an dieser Stelle kein billiger Effekt. Er ist konsequent, pointiert die Aussage noch einmal und entspringt damit der inneren Logik dieser Inszenierung. Einfach großartig

Eindrucksvoller Moment im vierten Akt ist der Pas de trois. Die zwei Seiten des Siegfrieds ringen um Odette, doch zum Schluss bekommt keiner das Mädchen. Aber leider hat dieser Akt bis dahin durchaus einige Längen und bekannte Aussagen werden hier wiederholt.

Abgesehen von diesem Schönheitsfehler ist Schwanensee am Theater Nordhausen mehr als sehenswert. Es ist ein Werk, dass aus Klassik und Moderne eine kraftvolle Symbiose schafft und aus dem Märchenspiel heraus allgegenwärtige Fragen stellt. Ivan Alboresi ist es bereits mit seiner erste abendfüllenden Choreographie gelungen, die Ballettkompanie einen wichtigen Schritt nach vorne zu bringen. Dazu trägt auch sicherlich das neue Klangbild des Loh-Orchesters bei. 



Theater Nordhausen - Der Spielplan
Theater Nordhausen - Das Stück


Schwanensee - Das Ballett


Das Interview mit Ivan Alboresi bei soundcloud



Montag, 19. Dezember 2016

Gestrandet in der Einsamkeit

Theater für Niedersachsen zeigt das Elend der Effi Briest

'tschuldigung für die antiquierte Formulierung, aber diese Inszenierung geht einem wirklich zu Herzen. Petra Wüllenweber hat beim Schreckgespenst des Deutschunterrichts nicht nur die Rasselkette entrostet. Sie hat dem Stück auch die Bissigkeit zurückgegeben, dass es zu den Zeiten Fontanes auch hatte.

Zwei Stühle auf einer leeren Bühne, ein Mikro recht, eins links, Musiker und Schauspieler betreten die Bühne. Eine Frau näht Gardinen. Das Akkordeon spielt eine gedämpfte Melodie, die Gitarre schlägt die Akkorde dazu. Katharina Kwaschik zitiert die ersten Sätze aus Fontanes Romanvorlage. Sie schildert die Idylle eine landadeligen Gehöfts irgendwo in der Weite der brandenburgischen Steppe.

Noch sieht es aus, wie der endlose Sommer der
Jugend.      Alle Fotos: tok
Es ist ein passender Kunstgriff, der hier vollführt wird. Immer wieder wird eine Darstellerin oder ein Darsteller an den Rand des Geschehens treten, zum Erzähler mutieren oder mit dem Publikum in den Dialog treten. Dann gibt es eine Einleitung, die Schilderung der Atmosphäre oder die Handlung zwischen den Szenen wird zusammengefasst. Petra Wüllenweber bekommt so das Textmonster in den Griff und sortiert das Sammelsurium in eine spielbare Abfolge.  Zu den reien Darstellungen kommt eine Reihe von symbolischen Handlungen, die Unaussprechbares verdeutlichen.

Der Einbau des Theaterpolizisten als Hüter der Textgenauigkeit ist dabei nur ein Zeichen eines entspannten Umgangs mit dem Monument deutscher Selbstbetrachtung. Immer wieder taucht das selbstironische Motiv "Theatergruppe probt" auf. Unter den zahlreichen,  'tschuldigung für die antiquierte Formulierung, Sittengemälden des Wilhelminismus ist "Effi Briest" sicher das mit der größten Reichweite.

Es ist eine flachadelige Gesellschaft mit kleinbürgerlichen Idealen, die Petra Wüllenweber hier zur Schau stellt und erklärt. Es ist eine Gesellschaft im Widerspruch zwischen  den engen Grenzen der Konventionen und der Leere ihrer emotionalen Landschaft. Genau diesem Kontrast setzt das Bühnenbild von Matthias Werner  unaufgeregt wieder. Gardinen symbolisieren die engen Mauern des elterlichen Landsitz in Hohen-Cremmen. Später öffnet sich der Raum in die endlose Ödnis Hinterpommerns  als Effi und ihr Gatte das wenig geliebte Kessin erreichen. Die Gardinen werden zu Baumsäulen zusammengerafft. So einfach und einleuchtend kann ein Bühnenbild sein.

Die Rezeption von "Effi Briest" ist  meist recht einfach. Mutter verhökert ihre Tochter an ihren abgelegten Liebhaber, damit diese das werden kann, was ihr selbst verwehrt blieb oder was sie sich nicht getraut hat. Die Tochter wird aus ihrer Kindheit gerissen und der gefühlsarme Mann opfert die Ehe der eigenen Karriere. Die unverstandene Gattin flieht in eine kurze Affäre. Jahre später fliegt die Affäre auf, der Gatte tötet den Liebhaber und schickt die untreue Frau in die Verbannung, die vor Gram stirbt. Derweil schaut der Vater der jungen Frau nur zu und gesteht mit dem Textmonument "Ein weites Feld, Luise" seine Überforderung ein.

Major von Crampas rockt die Provinzbühne.
Petra Wüllenweber hat in ihrer Inszenierung gleich mehrere zusätzliche Ebenen eingezogen, die das Deutungsspektrum deutlich erweitern. Der Grundstock bleibt. Luise von Briest führt ihre Tochter als Lamm zur Opferbank. In allen Auseinandersetzungen zwischen Effi und von Innstetten ergreift sie Partei für ihren Ex. Katharina Wilberg in der Rolle der ambitionierten Mutter steht dieser Ehrgeiz ins Gesicht geschrieben. Die Körperhaltung ist gestrafft und die Worte klingen wie beim Morgenappell. Sie scheint zu keine zärtlichen Gefühlen fähig und mit ihrem Gatten liefert sie sich den kleinbürgerlichen Kleinkrieg einer Zweckehe, die schon zu lange dauert. Das sind schon 5 von 10 Punkten auf der Burton-Taylor-Skala  und hat für einige im Publikum einen hohen Wiedererkennungswert. So weit so gut.

Die neue Deutung bezieht sich auf Effi, die, 'tschuldigung für die antiquierte Formulierung, wunderbar gespielt wird von Lilli Meinhardt. Sie verkörpert die kindliche Effi genauso glaubwürdig wie die Gattin des Landrats von Kessin oder die Verführerin. Denn hier liegt der wichtige Unterschied. Diese Effi ist nicht mehr nur Opfer sondern auch Täterin am eigenen Schicksal. Freimütig gesteht sie ein, dass sie den 21 Jahre älteren Mann aus Berechnung und aus Karrierebewusstsein geheiratet hat. Effi Briest wird zum Aktivposten in diesem Drama.

Das ist kein Leben

Die Tanzszene mit Effi und ihrem Cousin Dagobert gehört zu den poetischen Momenten dieser Inszenierung. Man mag frei nach Sally Brown rufen "Küss ihn doch, du Idiotin" und hoffen, dass der Zug Richtung Unglück an der nächsten Weiche abbiegt, aber nichts dergleichen passiert. Dagobert und Effi sind seelenverwandt und füreinander gemacht. "Aber Leben mit ihm, das wäre kein Leben", bekennt die standesbewusste junge Frau Landrätin. Sie will hoch hinaus und so wird der Fall umso tiefer. Diese Effi wird nicht nur ein Opfer der Konventionen, sondern sie scheitert auch an ihren eigenen Ansprüchen.

Das ist die neue Sicht. Effi ist keine unbedarftes Heimchen sondern durchaus eine echte Frau, die sich aber auf ein Gesellschaftsspiel einlässt, dass sie nicht gewinnen kann. Die Reduktion auf die Rolle als Mutter, das ist auch heute noch der Knackepunkt in einer Beziehung. Das macht diese Aufführung deutlich. All diese Schichten legt Lilly Meinhardt frei mit ihren situationsadäquaten Spiel. Die Freude der Kindheit, der Stolz der Frischvermählten und die Einsamkeit der in der Provinz Gestrandeten, alles kann sie glaubwürdig mit Stimme, Mimik und Gesten vermitteln. Dafür bekommt sie zu Recht auch den meisten Applaus.

Von Innstetten hat beschlossen, dass seine Frau
schwanger werden wird.
Moritz Koch schafft den Spagat zwischen der Rolle des springlebendigen Cousin Dagobert von Briest und des eher phlegmatischen Major von Crampas.  Seine Leidenschaft ist eher Berechnung und die Affäre mit Effi mehr Ablenkung als Herzensangelegenheit. Das ist etwas, was halt so macht wenn man sich in der hinterpommerschen Provinz langweilt. Im Gefüge einer Wilhelministischen Gesellschaft erfüllt eben die Rolle des Herzensbrecher, nicht mehr und nicht weniger.

Dennoch gehört die Beischlaf-Szene mit Akrobatik zu den Höhepunkten des Abends. Die Balletteinlage verdeutlicht die kurzen Höhenflüge, die der Austausch von Körperflüssigkeiten sein kann.

Auch die starre Position des Baron von Innstetten wird in dieser Inszenierung aufgeweicht. Er darf sich durchaus auch mal von seiner weichen Seite zeigen. Letztendlich unterliegt er aber weiterhin den Zwängen der Gesellschaft. Dieser Baron ist eben der nette Chauvi von nebenan, der seine Frau auf subtile Weise in ihre engen Schranken weist.

Die stärkste Szenen in dieser Rolle hat Martin Schwartengräber als er die Liebesbriefe der Gattin entdeckt. Die Fassungslosigkeit ist ihm ins Gesicht und in die brüchige Stimme geschrieben. Gänsehaut macht sich breit, als er Nick Caves Song vom Gnadensessel, vom Mercy Seat, ins Mikro spricht.

Auch beim alten Briest hat sich die Akzentuierung verschoben. Er ist nicht der begriffsstutzige Landadlige, der nicht so recht weiß, was um ihn herum vorgeht. Dieser Briest ist der einzige Mensch in einem Gefüge von Pflicht- und Rollenerfüllern und deshalb muss er scheitern. Dies macht Gotthard Hauschild deutlich.

Die Poesie

Tanz und Musik, trotz aller Tragik haucht Petra Wüllenweber dem  Werk  ein ordentliches Maß an Poesie ein, schafft eine Moritat mit leisen Töne. Damit wird sie der Romanvorlage mehr als gerecht. Sie zieht neue Deutungsebenen ein und erneuert damit die Aussagekraft dieses Monument des Gesellschaftsromans.

Das Ehepaar von Innstetten erlebt auch glückliche
Momente.
Obwohl Petra Wüllenweber in ihrer Inszenierung dem sprachlichen Duktus des späten 19. Jahrhunderts treu bleibt, zeigt sie dennoch ein ordentliches Maß an Zeitlosigkeit. Die Kostüme liegen irgendwo zwischen Anno Dunnemal und eben gerade jetzt. Am markantesten wirkt Effi 50-er Jahre Pepita-Kostüm, das ihr das ein und andere Mal wie eine Zwangsjacken angelegt wird. Ankleiden als Gesellschaftskritik, das schafft auch nicht jeder.

Auch 120 Jahre nach Effi Briest scheitern Menschen, wenn sie nicht sie selbst sein dürfen oder wollen, wenn sie Träume erfüllen wollen, die andere für sie träumen, das ist wohl die Kernaussage dieser Adaption. Der alte Briest ahnt es, aber er schweigt, weil er sich gegen die Gattin nicht durchsetzen kann. Wenn du doch geredet hättest, Friedrich.



Das TfN - Der Spielplan
Das TfN - Das Stück

Auch von Wüllenweber: Die Buddenbrooks

Effi Briest -  Die Romanvorlage





Montag, 12. Dezember 2016

Auf alle Fälle stimmungsvoll

Das Erzgebirgsensemble zeigt seine Version der Weihnachtszeit

Sie haben es wirklich getan. Sie haben das Leder vor dem Arsch bei der Nacht getragen. Leder, Arsch, Nacht? Na, das Steigerlied: "Und wir tragen das Leder vor dem Arsch bei der Nacht und saufen ....". Auf jeden Fall gab es in 33 Jahren Kreuzgangkonzerte selten so viele Folklore im Kloster Walkenried. Am Samstag zeigte das  Erzgebirgsensemble seine Sicht auf Weihnachten und traf damit den Nerv des Publikums.

Auf jeden Fall besteigt das Ensemble die Bühne in der Paradetracht eines Bergmanns aus dem Erzgebirge und dazu gehört nun mal das Leder am Gesäß. Dieser Anblick ist für ein Podium, auf dem sonst Fliege, Frack und Großes Schwarzes dominieren, ungewohnt und gewöhungsbedürftig. Aber das Publikum weiß ja, worauf es sich eingelassen hat.

Der Rotlicht-Bezirk: Der Kreuzgang in
Weihnachtsbeleuchtung.  Fotos: tok.
Das Konzert beginnt mit dem Geläut der Fundgrube "Weißer Hirsch". Das kommt vom Band und an diesem Abend wird es noch mehr Playback und Halb-Playback geben, auf einer Bühne, auf der sonst Livemusik dominiert.

Doch dann gibt es Livemusik. "Kummt Bargbrüder, fahrn mer aus", dreistimmiger Männergesang im Wechsel mit Bläserbegleitung, durchaus auf hohen Niveau. Ein Tenor und zwei Baritons, durchaus meditativ und stimmungsvoll, das zwingt durchaus zum Zuhören und gibt die Möglichkeit zum Schwelgen.

Schon hier setzt die grundsätzliche Überlegung ein. Warum schafft es der "Canto a Tenore" aus Sardinien ins Feuilleton und die Volksmusik aus dem Erzgebirge es nur auf die Lokalseiten? Eigentlich ist doch beides für die meisten gleichermaßen fremd, getrennt durch Raum und Zeit.

Es ist eine untergegangene Welt, die die zwölf Musiker und später die vier Tänzer dort präsentieren. Der Bergbau im Erzgebirge hat noch früher als sein Harzer Cousin sein Leben ausgehaucht. Doch eine 500jährige Tradition, die eine ganze Landschaft und seine Bewohner geprägt hat, die hat offensichtlich ein gehöriges Maß Beharrungsvermögen.

Das beste an untergegangenen Traditionen ist aber die Tatsache, dass sie sich wunderbar als Projektionsfläche eignen. Denn wenn man sich durchs Programm blättert, stellt man fest, dass der größte der Werke entstand, als der erzgebirgische Bergbau sich im Endstadium befand oder eben danach.  Die Vergangenheit oder was man dafür hält, um eine Sinngemeinschaft zumindest für zwei Stunden zu simulieren. Nicht zuletzt deswegen erlebt Volksmusik und was man dafür hält in den letzten zwanzig Jahren eine permanente Renaissance.

Russische Hörner haben einen ganz
eigenen archaischen Klang
Doch Orchesterleiter Steffen Kindt macht in seinem Erläuterungen schon deutlich, dass das Leben im Erzgebirge und im Bergbau vor allem von harter Arbeit und von Armut geprägt war. So ehrlich ist das Erzgebirgsensemble immerhin. In der Not wurden Fertigkeiten geboren, die zur Tugend erkoren wurden und so die Zwangslage überdauerten. Im Erzgebirge war das Klöppeln und im Eichsfeld eben die Stracke.

Natürlich hat Kindt nicht vergessen, die Akustik und die Einmaligkeit des Aufführungsortes zu loben. Einschmeicheln nennt man das auf Hochdeutsch. Die abgestandenen Scherze über Ost- und Westdeutsche nimmt ihm keiner mehr übel.

Schnitt. Nach der Volksmusik kommt die Hochkultur oder was sich dafür hält die Bläser spielen die die Sonate Nr. 2 von Johannes Pezelius, einen handwerklich ordentlichen Stück Barockmusik. Zum Zusammenhang von Barock, Bläser und Weihnachten sollte man zurückblättern, hier dürfte der Zusammenhang ledíglich darin bestehen, dass Pezelius im Erzgebirge lebte und wirkte. Zum Abschluss gibt es dann noch einmal Barock mit Händel.

Es folgen zwei Mettenschichten, einmal die Kuttengrüne von Merkel und einmal die Mettenschicht im Schindlerschacht. Eine Mettenschicht war die letzte Schicht im Schacht und dem entsprechend ist die Musik getragen und wehmütig. Das Akkordeon jammert ein wenig und dreistimmige Gesang entfaltet seine hypnotische Wirkung. Doch erst die russischen Hörner versetzen das Publikum in andächtiges Lauschen. Es ist ein archaischer Klang, es sind Töne von ganz unten aus der Seele oder aus der Tiefe des Bergs. Mindestens genauso faszinierend wie der bereits erwähnte "Canto a Tenore". Die Weihnachtsstimmung ist perfekt.

Die Weihnachtsstimmung ist perfekt und wird doch gleich gestört. "Wenn es im Erzgebirge Dezember wird" kommt im Schunkelmodus daher und ist eindeutig ein Schlager. Ja, die Grenzen zwischen den Genres verwischen an diesem Abend, Barock, Volksmusik und Schlager gesellen sich zueinander, Hauptsache, es dient der guten Sache, der Herstellung von weihnachtlicher Stimmung. Vor der Pause wird es gleich noch einen Schlager geben zum Halb-Playback vom Band.

Manchmal sieht es im Kreuzgang aus wie unter Tage.
Es ist eben ein Konzert und keine ethnologische Fachtagung. Es ist nichts für Puristen, die bleiben besser auf Fachtagungen oder vor ihrem Plattenschrank hocken.

Volksmusik wurde immer von außen beeinflusst. Sie hat sich immer verändert und Tradition ist, was man draus macht.  Man denke nur an die zahlreichen Deformationen, die dieses Genre durch die Okkupation der Romantiker erfahren hat. Die huldvolle Innerlichkeit ist geblieben, nur musikalisch geht es jetzt eben zum Viervierteltakt, unterlegt mit einem satten Keyboardsound.

Aber immerhin sind dies nur kurze Intermezzi und mit zwei Zithersoli behauptet die Volksmusik wieder ihre Vormachtstellung an diesem Abend. Aber wie gesagt, es ist eine Volksmusik, die gewissermaßen auf dem Reißbrett entstanden ist. Einzige Volksweise an diesem Abend ist das "Heiligobndlied" in der Bearbeitung von Amalie von Elterlein. Dargebracht in Erzgebirgisch könnten die Sänger auch in einem sardischen Dialekt singen, man würde genauso viel verstehen. Ums Verstehen geht es auch gar nicht. Fühlen soll man und dazu braucht es keine Untertitel.

Es ist eben keine ethnologische Fachtagung und trotzdem stellt man sich die Frage: Wo fängt die Tradition? Ist sie zu mehr zu gebrauchen als für zwei Stunden Weihnachtsgefühl? Auf jeden Fall sitzen im ausverkauften Kreuzgang jede Menge Menschen, die ihre Antwort darauf gefunden haben. Denn man kann so viel Schurwolle tragen wie man will, zum Schäfer auf Sardinien mutiert man deswegen doch noch lange nicht. Da ist ein Ausflug zu den Cousins und Cousinen ins Erzgebirge ehrlicher.

Vor fünfhundert Jahren haben Bergleute aus dem Erzgebirge den Bergbau im Harz reanimiert und das Weltkulturerbe begründet. Nun haben sie ihre musikalische Visitenkarten hinterlassen. Auch wenn sie das Leder vor dem Arsch bei der Nacht getragen haben, so ist doch klar, dass dieses Leder nie wirklich unter Tage war. Aber das Steigerlied, das haben sie dann doch noch gespielt und die Herzen der Ehrenbergleute gerührt.



Das Erzgebirgsensemble - die offizielle Website 

Das Programm der Kreuzgangkonzerte
Die Kreuzgangkonzerte bei Facebook

Dienstag, 6. Dezember 2016

Freue dich, oh Zuhörerschaft

Ludwig Güttler und seine Blechbläser zelebrieren Weihnachten im Kloster Walkenried 

Vor 28 Jahren gab Ludwig Güttler zum ersten Mal seine Visitenkarten bei den Kreuzgangkonzerten ab. Seitdem gastierte der Ausnahmemusiker regelmäßig dort. Am Samstag stellten er und sein Blechbläserensemble nun endlich ihr Adventsprogramm vor. Am Ende des Konzertes gab es zwei Fragen. Warum hat es so lange gedauert bis Güttler mal im Advent vorbeischaute? Wann kommt er das nächste Mal wieder?

Schon mit den ersten Takt fluten die zwölf Musiker den Kreuzgang musikalisch. Kraftvolle Bläser verkündete das nahende Weihnachtsfest und das ist nach Auffassung von Ludwig Güttler vor allem ein Freudenfest. Was eignet sich am besten, um diese Freude in Töne umzusetzen. Natürlich der helle und optimistische Klang von Blechbläsern. Sie schallen und jauchzen und frohlocken. Freue dich, oh Zuhörerschaft, über diese Pauken und Trompeten.

Ludwig Güttler ist an diesem Abend der Primus
inter Pares.       Fotos: tok
Den Anfang macht an diesem Abend die Suite in C-Dur des selten gespielten Johann Heinrich Schmelzer. Wie eine Woge brandete das weitgehend unbekannte Werk über das Publikum hinweg. Es trug alle Trübsal mit sich fort und hinterließ seelisch gereinigte Zuhörer. Nach dieser Dusch konnte man sich ganz dem Genuss hingeben. Einfach Augen zu und zuhören, das war die heimliche Regieanweisung für dieses Konzert.

Noch etwa wird schon beim ersten Stück klar. Der Raum und die Bläser passen einfach zusammen. Die einmalige Akustik des Kreuzgang setzt den transparenten Klang des Ensembles auf optimale Weise um.

Es ist ein buntes Programm, dass Güttler hier zusammengestellt hat. Er hat bekannte und nicht so bekannte Komponisten zu einem Gesamtpaket zusammengeschnürt. Es finden sich Gegenwartswerke genauso darin wie Klassiker. Aber das Programm wird vor allem von Werken aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert dominiert, denn was paroasst besser zusammen als Barock und Lebensfreude.

Es sind keine Einzelstücke. In den sieben Partita hat Güttler Versatzstücke berühmter und weniger berühmter Komponisten zu neuen Werken zusammengefasst. Ein Bruch ist nicht zu hören, alle siegen klingen wie aus einem Guß. Der Herr Professor kennt seine Pappenheimer in- und auswendig und fügt zusammen, was zusammen gehört. Bekanntes erscheint im neuen Zusammenhang und Unbekanntes wird endlich mal erhört. Der Remix ist die Eigenleistung von Ludwig Güttler und damit macht er die Essenz, die Wahlverwandtschaften und die Gemeinsamkeit aller Stücke deutlich, die Vorfreude auf das Weihnachtsfest.

Die hier haben Bach abertausende Mal gespielt.
Ludwig Güttler und Johann Sebastian Bach, das ist seit Jahrzehnten ein Traumpaar in der Musikwelt. Aber selbst das barocke Denkmal ist an diesem Abend nicht sicher vor Dekonstruktion und Rekonstruktion. Güttler fasst ein Allegro aus dem 6. Brandenburgischen Konzert, einen Choral und eine Fuge aus Bachs Feder zusammen. Er schafft damit etwas, was dem Altmeister nicht gelang. Er kreiert aus Bachs Material ein eigenständiges Magnificat-Concerto, das vor der Pause den Höhepunkt des Konzertes bildet.

Im virtuosen Wechselspiel der Trompeten und Posaunen entstehen zwei, gar drei Melodielinien, die sich gemeinsam auf die Reise machen, sich umspielen, sich trennen und wieder zueinanderfinden. Man wünscht sich, dass dieser Moment nie enden möge. Sollte er es doch tun, dann möge doch bitte ein Replay-Knopf aufploppen, denn es gibt noch so viele Schätze zu entdecken im Dickicht der Töne. Da dies aber nicht passieren wird: Augen zu und genau diesen Moment genießen.

Als Dirigent ist Güttler an diesem Abend angenehm unauffällig. Sein Dirigat beschränkt sich auf wenige Vorgaben, auf das Nötigste. Fast schon blindes Vertrauen prägt das Zusammenspiel. Es ist eben ein eingespieltes Ensemble auf durchgehend hohem Niveau und einige Musiker wie Erich Markwart am Waldhorn oder Olaf Krumpfer arbeiten schon seit vielen Jahren mit Güttler zusammen.

Überhaupt ist Ludwig Güttler an diesem Abend mehr Bandleader als Solo-Star und sein Spiel gleicht dem eines Primus inter pares. Das Programm stellt den Musikwissenschaftler in den Vordergrund, nicht den Instrumentalisten.

Markwart und Krumpfer spielen schon lange mit
Ludwig Güttler zusammen.   Alle Fotos: tok 
Vor 28 Jahren gab Ludwig Güttler zum ersten Mal seine Visitenkarten bei den Kreuzgangkonzerten ab. Seitdem hat er regelmäßig dort gastiert. Also kennt man sich gegenseitig doch sehr gut und also kann der Bandleader auch mal mit seinen Fans scherzen. So zieht sich die Frage nach der richtigen Stelle durch den ganzen Abend und wird zum running gag. Aber Güttler gibt auch einen Einblick in seine musikalischen Überlegungen und als er vom Schicksal von Adolf Busch erzählt, merkt man ihm schon an, dass ihm etwas liegt am Werk des Flüchtling und Exilanten.

Vor 28 Jahren gab Ludwig Güttler zum ersten Mal seine Visitenkarten in Walkenried ab und seit damals hat er diese klanglichen Besonderheiten des Aufführungsortes genau kennengelernt. Er weiß ihn zu nutzen und somit erklingt die Partita über “Kommet ihr Hirten” mit einem verteilten Ensemble aus vier Ecken im Wechselspiel und im Widerhall. Dem Publikum erschließt sich so ein neuer Raum. Es ist, als ob sich mit dem Echo eine vierte Dimension öffnet, die Zeitebene mit einbezogen wird ins musikalische Kalkül.

Zum Schluss des begeisternden Konzertes lässt das Publikum das Ensemble erst nach fünf Zugaben von der Bühne. Dabei überraschen die Bläser, denn sie überzeugen mit zwei Gesangseinlagen auch als Chorknaben.



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