Dienstag, 29. Juli 2014

Musik aus allertiefster Seele

Giora Feidman und Gitanes Blondes bei den Kreuzgangkonzerten


Prolog: Ich hätte nicht gedacht, das ich mich so schnell selbst zitieren könnte. Sei's drum, auch nach dem Konzert von Giora Feidman und Gitanes Blondes gibt es zwei Gewissheiten. "Die Schubladen der Genres wurden für musikalischen Buchhalter geschaffen. Die Liebe zur Musik kennt nämliche keine Grenzen. Wer die Musik liebt, darf mischen und wer seine Musik liebt, der darf auch mal derbe Scherze machen."
Tja, aber damit beginnen die Schwierigkeiten. Wie soll ich etwas über einen Mann schreiben, über den bereits alles gesagt wurde? Über einen Mann, der in den Geschichtsbüchern der Musik steht. Also gut, erste Aussage: Feidman ist keine Figur der Geschichte, sondern noch verdammt lebendig.
Giora Feidman ist in seine Musik versunken.
Alle Fotos: tok
Laut Ankündigung steht an diesem Abend Klezmer auf dem Programm. Es verspricht laut zu werden und schnell, trotzig und lebensfroh. Doch der Start ist besinnlich. Gitanes Blondes sitzt auf der Bühne und wartet auf Feidman. Dann klingt ganz leise und entfernt eine Klarinette aus dem Kreuzgang in den Garten. Das Publikum lauscht gebannt, die Töne kommen näher. Die Klarinette improvisiert über Hava Nagila. Aber die Freude ist eine verhaltene, die Melodie begleitet eine Feier, die in sich versunken ist, die sich selbst sucht in der Tiefe der Musik. Aber das Publikum summt mit, es kennt seinen Feidman und belohnt ihn mit dem Applaus, den er gewohnt ist. Man kennt sich aus vielen gemeinsamen Stunden und weiß, was man aneinander hat. Feidman und sein Publikum in Walkenried, das ist wie ein altes Ehepaar, das immer noch in einander verliebt ist. Man kennt die Gesten des Gegenübers genau und freut sich um so mehr über jede Überraschung, die der Partner trotz der Jahre immer noch bietet.
Giora Feidman versteht es, in Sekundenbruchteilen eine Bindung zum  Publikum zu finden, den Dialog zu eröffnen und die Zuhörer zu Mitgestaltern zu machen. Er ist eine Zauberer. Der Aufforderung, mitzusummen oder gar zu singen, kann man sich nicht entziehen.
An diesem Abend ist Feidman zurückhaltend. Doch das zwei Werk gehört eher in die Kategorie downtempo, atmosphärisch dicht und balladenorientiert im Vortrag. Auch Gitanes Blondes halten sich an die Vorgabe, doch das Quartett macht auch deutlich, das es keine Begleitband, sondern ein eigenständiger und eingespielter Klangkörper ist.
Mario Korunic gründete die blonden Zigeuner 1999
Eine Erklärung präsentiert Feidman auch. Der Nahost.Konflikt, das Morden in Israel und in Gaza beschäftigt ihn. Der Mann hat eine Botschaft und die ist ganz einfach: "Alle Menschen sind Bruder". Wenn einige Menschen das Gegenteil beweisen, dann betrübt es den Meister. Als Feidman zur Bassklarinette greift, da hört man diese Traurigkeit. Das sind Töne, die von ganz unten aus der Seel kommen, die seine Seele offenbaren und das sind Töne, denen eine Urkraft innewohnt, die uns alle bewegt. Das Publikum bedankt sich für diese Offenbarung mit ehrfurchtsvollen Schweigen.
Aber es geht auch anders an diesem Abend. Freude an der Musik hat auch etwas mit Tempo zu tun und deswegen gibt das Quartett Gas, als Feidman zurücktritt und die Bühne seinen jüngeren Partner überlässt. Ja, es sind Partner, die dort jammen, die sich gegenseitig Themen vorlegen, Vorlagen aufnehmen, weiterentwickeln, weiterreichen und die Grenze der Genres überwinden. Grandios ist das Zusammenspiel von Mario Korunic an der Geige und Konstantin Ischenko am Akkordeon. Immer wieder verführen sie sich zu himmelhochjauchzenden Soli und es scheint, als müsste Christoph Peters an der Gitarre den Vermittler zwischen den beiden Polen spielen.
Konstantin Ischenko kann Sachen auf dem Akkordeon,
über die andere nur staunen können. 
Mal jubelt das Streichinstrument treffsicher in den höchsten Tönen und klingt wie ein Vogel, der sich über die Dächer des Klosters erhebt. Dann holt uns das Akkordeon auf die Erde zurück und reist mit uns vom Strand der Wolga an die Seine und vor dort an den Rio de la Plata, alles in einem Stück, fließend und ohne Brüche. Das ist Improvisationskunst auf aller höchsten Niveau, die nicht nur technische Fertigkeit, sonder auch blindes Verständnis und Vertrauen voraussetzt. Wenn man in die Tiefe der Musik geht, dann ist die Seelenverwandschaft von Jazz, Polka, Klezmer,Chanson und Tango die logische Folge. Dankenswerterweise retten sie dieses Tempo über die Pause und legen im zweiten Set noch mal eine Schippe drauf.
Feidman ist in der Klassik ebenso zuhause wie im Klezmer, als Jazzer ist er legendär und der Tango seiner argentinischen Heimat hat auch seine Spuren hinterlassen. Er ist der Vordenker dessen, was seit 20 Jahren unter dem Etikett "Weltmusik" firmiert. Doch anstatt Unterschiede im Klangteppich einzuebnen, arbeiten er und seine Musiker die Gemeinsamkeiten heraus. Dabei hat er mit Gitanes Blondes kongeniale Partner und Brüder im Geiste gefunden. Ihre Musik ist fröhlich und lebensbejahend, lautmalerisch und setzt Bilder im Kopf frei, als sie musikalisch von den Gefahren einer Tournee erzählen.
Auch Simon Ackermann ist beeindruckt vom Solo am
Akkordeon. alle Fotos: tok
Bei der Suche nach dem Wesen der Musik und der Menschen finden sie Gemeinsamkeiten, dieaufden ersten Ton überraschen und bei zweiten überzeugen. So geht der Tango "I've seen that face before" von Grace Jones ohne Verlust in Gershwins Blues "Summertime" über. An einem Sommerabend passen die laszive Jamaikanerin und die spröde Broadway-Größe zusammen. Doch Geige und Akkordeon reißen uns aus den Träumereien und doch nehmen uns mit an die Ufer des Shannons. Schließlich haben auch Irland und die Kelten viel eingebracht in das das Welterbe Musik und viel dazu beigetragen, dass alle Mensch Brüder werden. Wir bedanken uns ob der Tanzeinlage und dieser Erkenntis mit donnernden Applaus und summen ein Schlummerlied, einfach weil Zauber Feidman es will.


Epilog: Als Victor Hugo einst sagte "Die Musik drückt das aus, was nicht gesagt werden kann und worüber zu schweigen unmöglich ist" muss er wohl geahnt haben, das mal ein Giora Feidman auf der Bühne dieser Welt erscheinen wird.


Giora Feidman bei wikipedia und bei last.fm

Gitanes Blondes bei wikipedia und die eigene Website

Die Kreuzgangkonzerte

Sonntag, 27. Juli 2014

Gefährliche Liebschaften haben am Ende nur Verlierer

Das Musical als Uraufführung bei den Gandersheimer Domfestspielen

Nun ist das Programm der 56. Gandersheimer Domfestspiele komplett. Ab Freitag erlebten die "Gefährliche Liebschaften" ihre Uraufführung. Eigens für die Bühne vor der Stiftskirche haben Heiko Lippmann, Andreas Gäßler und Christian Doll aus dem Briefroman von 1782 ein Musical gemacht.Leichter verdaulich ist das starke Stück um Lug und Trug dadurch nicht. Es gewinnt eher an Schärfe und deswegen spart das Premierenpublikum am Freitag auch nicht mit Applaus.
Die Marquise Isabelle Merteuil schlägt dem Vicomte Sébastien de Valmont vor, die jugendliche Braut ihres früheren Geliebten Gercourt, Cécile de Volanges, noch vor der Hochzeitsnacht zu verführen. Frühere Intrigen haben die beiden in eine riskante Form der gegenseitigen Abhängigkeit gebracht. Eine Feindschaft könnte beide in den Abgrund stürzen. Das ist die erste Aussage des Musicals.
Die Marquise und der Vicomte pflegen ein System
von Ko-Abhängigkeiten. alle Fotos: Hillebrecht
Doch der Vicomte zeigt wenig Interesse an einer Übereinkunft. Er ist verliebt in die tugendhafte und verheiratete Marie de Tourvel, die bei seiner Tante, der Madame de Rosemonde, auf dem Lande lebt. Fast scheit es, als wollte Valmont ein anderer, ein menschlicher Mensch werden. Doch bei der gestrengen Madame de Tourvel hat der Schwerenöter wenig Chancen, denn sie kennt sein Vorleben.
Derweil haben sich in Paris Cécile und ihr Gesangslehrer, der Chevalier de Danceny, ineinander verliebt. Doch das Techtelmechtel wird von der Mutter beendet und Madame de Volanges schickt ihre Tochter aufs Lands zur Madame de Rosemonde. Als nun Valmont erfährt dass er seine geringen Chancen und seinen schelchten Ruf bei Madame de Tourvel der Madame de Volanges zu verdanken hat, lässt er sich doch auf das Bündnis mit der Marquise Merteuil ein und entjungfert die 15-jährige Céclie. Sein Lohn: eine Nacht mit der unnahbaren Merteuil.
Als Valmont seine Belohnung einfordert, vertröstet ihn die Marquise, denn die Liebe habe ihn zu sehr verändert. Er solle sich erst von Madem de Tourvel lossagen. Doch auch dieser Schritt wird nicht belohnt und im Duell mit dem gehörnten Danceny stürzt sich der Vicomte in dessen Klinge. Er hat den Krieg mit der Merteuil verloren und seine Liebe freiwillig aufgegeben. Doch er sorgt dafür, dass der gefährliche Schriftverkehr mit der Marquise veröffentlicht wird. Nun ist Madame Merteuil gesellschaftlich geächtet, muss Paris verlassen und ihr bleibt keine Möglichkeit, den Triumph auszukosten.
Das Landleben ist von Tugendhaftigkeit geprägt.
Foto: Hillebrecht
Die "Gefährlichen Liebschaften" sind ein Kampf der Kulturen, gut gegen böse, Tugend gegen Niedertracht. Auf der Bühne treffen zwei Welten aufeinander. Links drei purpurfarbenen Stelen mit stilisierten Lilienmuster, davor einige Möbel im Stile des Louis-quinze. Das ist möndan, hier ist schließlich Paris. Rechts symbolisiert ein Tisch und ein paar Stühle das einfache Leben auf dem Landsitz der Madame de Rosemonde. Als Bindeglied dient ein Podest in der Bühnenmitte. Das Bühnenbild von Cornelia Brey bringt die moralischen Auseinandersetzungen auf einen sichtbaren Punkt. Hier wird gestritten, geliebt, gehasst, gesungen, verzweifelt und verführt. Es ist auch die Bühne für die großen Solis in dieser Aufführung.
"Les Liaisons dangereuses" von Pierre-Ambroise-François Choderlos de Laclos gilt als der wichtigste französische Roman des 18.Jahrhunderts. Die Mixtur auf Tugend und Boshaftigkeit, aus Liebe und Rache, aus Sex und Macht begeistert immer noch und Wikipedia listet nicht weniger als acht Verfilmungen und eine Oper seit 1959 auf. Damit ist diese Produktion auch ein Wagnis, denn das Publikum bringt seine eigenen Vorstellungen mit in die Aufführung.
Es sind kleine Akzentverschiebungen, die das Musical von Doll, Gäßler und Lippmann  zu einen eigenständigen Werk machen, das Musical über die reine Exegese eines allseits bekannten Werks hinaus hebt. In ihren Solo "Ich bin frei/C'est moi" erzählt die Marquise von ihrem Werdegang. Sie bekommt eine Genese, sie ist nicht von Haus aus schlecht, sondern auch nur ein Produkt ihrer Zeit, ihrer Gesellschaft. Als sie die Mechanismen des Ancien Régime zu den ihren macht, gewinnt sie die Freiheit und die Möglichkeit, andere zu zerstören.
Es ist ganz große Sangeskunst, die Annika Bruhns hier in diesem Solo bietet. Dieser Blues scheint am Ende vor Emotionalität zu expoldieren. Überhaupt gewinnt die Inszenierung an Fahrt und die Musik wird zu berechtigten Partner. Die "Gefährlichen Liebschaften" sind dort stark, wo es freudentrunken geswingt wird oder jazzig und lasziv verschleppt wird.
Anna Preuckeler ist die Ent-
deckung. Foto: Hillebrecht
Die wichtigste Verschiebung ist das neue Zentrum in dieser Inszenierung. Nicht mehr die Händel zwischen der Marquise Merteuil und dem Vicomte Valmont stehen im Mittelpunkt, sondern die Liebe auf dem zweiten Blick zwischen Madame de Tourvel und dem Vicomte. Das ist der glänzenden Besetzung mit Anna Preckeler und Dirk Schäfer zu verdanken.
Das Publikum muss um die Gesundheit der Akteure fürchten, als sich die beiden beim ersten Aufeinandertreffen angiften, es hat Mitleid mit dem Vicomte angesichts seines guten Willens und der Aussichtlosigkeit seines Unterfangens. Zwei gleichwertige Gegenspieler treffen hier aufeinander. Hier will sich jemand ändern und man lässt ihn nicht.  Aus den Gegen- werden die Mitspieler und diese beiden schaffen eben die Wende zum Liebespaar.
Aber Dirk Schäfer schafft auch den anderen Vicomte, den alten, niederträchtigen, als er sich anschließt, rachedürstend auf das Angebot der Marquise eingeht. Genauso glaubwürdig zeigt er, die Verzweiflung und die Resignation des Vicomtes, als jener begreift, dass er dieses Spiel um Macht verloren hat. Alles ist verloren, der Blick geht ins Leere und Erlösung schafft nur der Tod.
Die Entdeckung dieser Aufführung ist Anna Preckeler in der Rolle der Madame de Tourvel, sie hinterlässt den stärksten Eindruck. Sie kann alles: die resolute Tugendhafte am Anfang, die verzweifelnde und suchende Frau in der Mitte, die Verliebte und Himmelhochjauchzende und die Tief enttäuschte. Sie hat zu allen die passende Geste, die passende Mimik und die passende Stimme, besonders als sie mit großer Pop-Attitüde von der befreienden, belebenden Wirkung der Liebe sind und ihre Freude mit preisgekrönter Stimme in den Nachthimmel jauchzt. Sie zeigt eine beeindruckende Präsenz, ohne große Gesten beherrscht sie die Bühne. Es bedarf keiner prophetischer Gaben, um sicher vorherzusagen, dass aus dem Nachwuchsstar in absehbarer Zeit ein erwachsener Star werden wird.
Das Duo Schäfer-Preuckeler bietet so die Projektionsfläche für die Überlegungen "Hmmm, es könnte auch anders ausgehen. Es muss nicht in der Katastrophe enden". Doch letztendlich bleibt Valmont ein Verblendete, jemand, der von der eigenen Macht geblendet ist.
Sex, ohne Umschweife und ziemlich direkt.
Foto: Hillebrecht
Fast müsste man  Mitleid mit Julia Hiemer haben, so gut spielt sie die Rolle der unschuldigen und unbedarften Cécile, immer mit großen Kulleraugen und im Alice-im-Wunderland-Dress. Aber es ist ja nur eine Rolle, die sie komplett ausfühlt. Pacal Höwing zeigt uns einen Chevalier de Danceny, der einfältig bis zur Dämlichkeit ist. Es ist schon bewunderswert, wenn er aus dieser Rolle soviel herausholen kann. Der unfreiwillige Tanz mit dem Notenständer ist gelungener Slapstick mit chaplinesken Format.
Franziska Schuster bildet mit ihrem direkten Spiel den Kontrast zu den zwei Unbedarften. In den Rollen der Dienerin und der Kurtisan zeigt sie ohne Umschweife, um was es geht: Sex, Sex als Mittel der Macht und der Beherrschung. In diesen Musical ist jede Menge Sex im Spiel, das macht es so ehrlich, hebt es ab von anderen Vertretern des Genres. Es ist eben nicht Alice im Wunderland.
Mit der Auflösung des Erzählstrangs in kleinste Szenen transportiert das Autorenteam die Struktur des Briefroman gekonnt auf die Bühne. Mit der Kreisfigur Duell am Beginn und am Ende verdeutlichen Lippmann und Doll die Unausweichlichkeit des tödlichen Endes. Das Ränkespiel kann kein anderes Ende kennen.

Spielplan der Domfestspiele

Das Musical
Die Vorlage

Mittwoch, 23. Juli 2014

Wenn die Heiligen das Halleluja blasen

Philharmonic Brass spielt im Kreuzgarten

Am Ende Konzerts im Kreuzgarten des Kloster Walkenrieds gibt es zwei Gewissheiten. Die Schubladen der Genres wurden für musikalischen Buchhalter geschaffen. Die Liebe zur Musik kennt nämliche keine Grenzen. Wer die Musik liebt, darf mischen und wer seine Musik liebt, der darf auch mal derbe Scherze machen.
Am Anfang ist die Tuba und die geht zur Bühne und gibt den Rhythmus einer bekannten Swing-Nummer vor. Ja, genau, es ist "Sunny Side of the Street", das durch den Kreuzgarten schallt. Als zweites erklingt das Waldhorn von links, als drittes Instrument erklingt die Posaune und kommt von rechts auf die Bühne. Zum Schluss sitzt das ganze Ensemble vor dem Publikum. "In Blech geformt" heißt das aktuelle Programm der Philharmonic Brass und so erschaffen sie es.
Am Anfang ist die Tuba und die ist beim Publikum.
Alle Fotos: tok
Das ist zwar nicht neu, Talking Heads lieferten 1983 mit "Stop making Sense" die Vorlage. Aber es verdeutlicht, wie es an diesem Abend zugehen wird: leger. Wenn es die Situation erfordert, dann wie der Fahrplan mal geändert. Laut Zettel sollte Händel den Auftakt bilden, nun ist es halt Glenn Miller. Wer souverän ist, wer nicht vom Blatt spielen muss, wer kein Programm abspult, wer Spaß hat, an dem was er tut, der kann sich so etwas leisten und kann das eigene Vergnügen an das Publikum weitergeben. Mathias Schmutzler tritt mit dem Publikum in den Dialog und sofort ist der Draht zu den Zuhörern da. Nicht nur der Angelsachse, auch der Niedersachse und der Sachse redet gern über das Wetter. Die subtropischen Bedingungen werden noch mehrfach thematisiert. Nicht nur so wird das Auditorium wird ein Teil  dieses Konzerts und damit wird der Abend im Kreuzgarten einmalig und das Programm "In Blech geformt" zum Schöpfungsakt eines einmaligen Erlebnis. Das wird so nicht mehr wiederholbar sein.
Don't judge a book by it's cover, man sollte ein Buch nicht nach seinem Deckblatt beurteilen, weiß der Angelsachse. Was an diesem Sommerabend musiziert wird, ist Blechblaskunst auf höchsten Niveau. Die Suite aus Händels Wassermusik zeigt eine luftige Leichtigkeit, die im wohltuenden Kontrast zu der Gravität steht, mit der dieses Werk sonst intoniert wird.
Der Posaunenprofessor, ein seltenes
Exemplar. Foto: tok
Beim Largo aus "Xerxes" ersetzen Mathias Schmutzler und Peter Roth an den Trompeten die Gesangsstimmen und treten ein in den Dialog, der auch diesem Werk einen neue Dimension verliert, die man gern entdeckt. Das Blech jubiliert in den höchsten Tönen und scheint sich über die Dächer des Kloster erheben zu wollen. Diese Kunst setzen Schmutzler und Roth bei Mozarts "Alleluja" gleich noch einmal fort. Währenddessen gibt Olaf Krumpfer mit der Posaune ein Thema vor, das Erich Markwart mit dem Horn aufnimmt, entwickelt und zurückgibt. Keine Frage, dieses Quintett ist ein Team aus Virtuosen auf Augenhöhe, die ihre Liebe zur Musik miteinander und mit dem Publikum teilen.
Dass sie auch anders können, zeigt das Ensemble mit  zwei Bach-Kantaten. Nun klingt es rund und weich und pastoral, eben angemessen, wenn es um die transzendenten Dinge in der Musik geht. Auch die "Fancies, Toyes and Dreams" des englischen Barockkomponisten Gilles Farnaby bezaubern mit diesem weichen und traumhaften, schwebenden Klang.
Man kann Barock mit Jazz mischen, das ist keine neue Idee, denn beide sind ja Brüder im Geiste. Aber wie es die Philharmonic Brass vor der Pause machen, das kann nicht jeder. Aber Olaf Krumpfer, immerhin Professor für Posaune, der kann es auf einmalige Weise. Das Halleluja aus Händels Messiahs geht über in den Traditional "When the Saints go machring in", ansatzlos und ohne Bruch, dann scheint wieder das Halleluja und beide Werke werden immer stärker miteinander verwoben.
Im mexikanischen Traditional "La Virgin de la Macarena" zeigen sich Schmutzler und Roth wieder als kongeniale Partner, spielen sich die Töne wie Bälle zu, spornen sich gegenseitig an und bleiben doch harmonisch und das letzte Solo bleibt für Mathias Schmutzler.
Auch das Horn kommt zu seinem
Recht. Foto: tok
Wer noch nie das Philharmonic Brasse Ensemble gehört hat, der ahnt gar nicht, wie viel Jazz in Claude Debussysteckt. "Le petit Negre", der swingt und groovt, dass man meint, der alte Impressionist entstamme dem Süden der USA und hätte nicht musikalische Seelenschau betrieben, sondern lieber die Füsse und die Hüften bewegt. Das man den fetten Sound einer Bigband auch mit einem Quintett hinbekommen kann, das bewiest Philharmonic Brass bei Glenn Millers "Moonlight Serenade".
Doch der Höhepunkt des zweiten Teils bleibt Peter Roth vorbehalten. Er spielt "Amanzing Grace" und zwar auf diese ganz besondere Art der Dresdner. Eben nicht getragen und voller Abschiedsschmerz, sondern wieder mit dieser einmaligen leichten und luftigen Intonation des Philharmonic. Es ist die Stille der Bewunderung für diese Leistung, die ihn umgibt, eine staunende Stille, bewundernd und gar nicht niedergeschlagen. Und natürlich kann er es nicht lassen und mischt das "Amazing Grace" mit den "The Saints Halleluja" von Luther Henderson.
Losgelöst von der Ausführung, besteht die abstrakte Leistung dieses Ensemble wohl darin, dem Publikum musikalische Parallelen und Möglichkeiten des Mischens, des Verwebens aufzuzeigen und die Kontur doch zu erhalten. Denn die Schubladen der Genres wurden für musikalischen Buchhalter geschaffen. Die Liebe zur Musik kennt nämliche keine Grenzen. Und Musik darf bearbeitet und angepasst werden. Sie muss nicht in den Vitrinen der Musikgeschichte verstauben. Musik, egal welchen Genres, ist etwas lebendiges.
Deswegen darf der Abend  nicht enden, ohne dass Jens-Peter Erbe seinen großen Auftritt hat. Fast schon aus einer eigen Liga, zeigt er beim Tiger Rag, dass sich eine Tuba auch zum Solo-Instrument. Leicht und locker, quick und lebendig entspringen die Töne diesem mächtigen Instrument, so dass der Tiger vor dem geistigen Auge umherspringt.
Wenn diese Konzert einen Makel hatte, dann den, das es irgendwann doch zu Ende war.


Die Kreuzgangkonzerte

Das Ensemble Philharmonic Brass

Achtung Abenteuer, ich komme

Ronja Räubertochter als komplettes Stück bei den Domfestspielen


Es wird gestritten, geliebt, gekämpft und gezittert. Es wird geschrien, geflüstert, gepupst, gesungen und geweint. Mit seiner Inszenierung von Lindgrens Kinderbuchklassiker "Ronja Räubertochter" zeigt Max Merker gewissermaßen eine Kindheit im Zeitraffer-Tempo, von der Geburt bis zur Adoleszens. Die Livemusik von Dominik Dittrich unterstreicht den lebensfrohen Grundton.
Eine riesige Burg aus Getränkekisten bestimmt das Bühnenbild von Martin Dolnik. Der härteste Kritiker von allen (siehe hier) kommentiert nur kurz: "Die müssen aber viel getrunken haben". Die Burg ist seit Generationen die Heimat der Mattis-Räuberbande. Hier fühlen sich der Räuberhauptmann und seine Männer sicher. Hier erwarten sie die Geburt des Mattis-Kinds, des zukünftigen Räuberhauptmann. Das dies ein Mädchen ist, das tut der Räubersache keinen Abbruch.
Gleich ist das Räuberkind da. Fotos: Hillebrecht
Seit dem Theater Rote Grütze und dem preisgekrönten "Was heißt hier Liebe?" wurde keine Geburt so eindrucksvoll auf die Bühne gebracht, inklusive dem überforderten werdenden Vater. Aber als die ganze Räuberbande inklusive Säugling jubilierend durch das Publikum läuft, da ist das für manchen jungen Zuschauer zuviel. Soviel direktes Spiel sind Vierjährige wohl nicht gewohnt. Denn wenn es auch ein zauberhafte Geschichte und Inszenierung ist, ein Märchenspiel ist Ronja Räubertochter trotz Wilddruden und Graugnome nicht.
Es wird viel gefeiert, musiziert und gesungen und die Polkas und der Balkanbeat von Dominik Dittrich, natürlich alles live, trägt zur atmosphärischen Dichte und zum Tempo der Inszenierung bei. So laut und schrill wird es wohl bei Räubers zugehen.
Die nächste Szene setzt erst viel später ein. Ronja ist den Windeln längst entwachsen und will nun die Welt entdecken. Denn die ist viel größer als die Mattisburg und der Mattiswald und überhaupt. Graugnome und Walddruden, pah. Achtung Gefahren, ich komme. Alice Hanimyan spielt nicht nur eine freche und frohe Ronja. Sie kann auch die verwirrenden Momente vermitteln, wenn Ronja auf Birk trifft, Abkömmling der verfeindeten Burk-Sippe, oder wenn Glatzen-Per (Hans-Jörg Frey) ihr deutlich macht, dass das Räuber-Dasein hauptsächlich auf dem Ausrauben der anderen basiert. Ronja Räubertochter ist keine Kasperl-Seppel-Geschichte wie der Hotzenplotz, sondern eben die Geschichte einer Kindheit, einer Jugend und einer Lösung vom Elternhaus, eben nur im Räuberwald auf der Mattisburg. Das beruhigt die Eltern von Pubertierenden: Das Diebesvolk hat die gleichen Probleme wie ihr. Denn am Ende steht für Ronja und Birk fest: Wir wollen was anderes als unsere Eltern.
Da herrscht Stille im Publikum: Ronja und ihr
Vater versöhnen sich wieder. Foto: Hillebrecht
Man zittert mit Alice Hanimyan, als die Graugnome kommen, die tödliche Walddrude über dem Kopf schwebt und als der Tod durch Erfrieren droht. Und das Publikum ist ganz, ganz still, als Ronja sich wieder mit ihrem Vater versöhnt. Schön, wenn auch Kinder und Jugendliche solche Momente im Theater erleben dürfen. Sie können die Gewissheit mit nach Hause nehmen: Kinder und Eltern bleiben immer Kinder und Eltern.
Seit dem Hotzenplotz bei den Domfestspielen 2012 scheint Gunter Heun auf den Räuber abonniert zu sein. Mit seiner Bühnenpräsenz und den raumgreifenden Gesten ist er wohl die ideale Besetzung für den Typus "Erst einmal Poltern". Deswegen kann er auch den Vater, der nicht so recht aus seiner Haut heraus kann, so gut vermitteln. Und dann ist da noch die bereits beschriebene Versöhnungsszene. Einfach ein starker Moment, vielleicht die stärkste in der ganzen Inszenierung von Max Merker. Aber wenn er sich mit Räuberrivalen Burka prügeln darf, dann ist dieser Mattis wieder ganz in seinem Element.  So macht Räuber sein seit Generationen Spaß und so macht Räubern dabei zugucken genauso lange Spaß. Ein schönes Stück Slapstick mit ebenso schönen Ausgang.
Zum Schluss dürfen Mattis und Burka wieder ganz
Räuber sein. Foto: Hillebrecht
Zwischen der quirligen Ronja und dem polternden Mattis ist Glatzen-Per  der ruhende Pol, der allwissende Alte, der die Veränderung der Zeit schon ahnt. Er war schon da, als Mattis noch jung war, er freut sich auf den neuen Räuberhauptmann und findet sich damit ab, als er begreift, dass es nicht so kommen wird, wie es seit Generationen Räuberbrauch ist. Mit wohl gesetzten Spiel kann  Hans-Jörg Frey dies kindgerecht vermitteln und selbst in der eigenen Sterbeszene weiß er noch einen humoristischen Moment zu setzen. Auch dies zeichnet diese komplette Inszenierung aus: Sterben gehört zum Leben dazu und ein derber Spruch hilft hier manchmal mehr als salbungsvolle Worte. Die Räuber dürfen auch mal "beschissen" sagen oder auch zweimal oder dreimal, schließlich ist es eben Diebsgesindel und kein Mädchenpensionat. Der härteste aller Kritiker erfreut sich an der lebensnahen Sprache. Nur eins bemängelt er dann doch: "Es ist mir zu lang." Aber das ist wohl eben eine Altersfrage.


Der Regisseur Max Merker
Der Komponist Dominik Dittrich
Ausstatter Martin Dolnik

Das Stück in der Selbstdarstellung
Der Spielplan der Domfestspiele


Der härteste aller Kritiker - Teil eins
Der härteste aller Kritiker - Teil zwei
Der härteste aller Kritiker - Teil drei
Der härteste aller Kritiker - Teil vier
Der härteste aller Kritiker - Teil fünf

Freitag, 18. Juli 2014

Da blüht so einiges

"My fair Lady" ist nicht nur perfekte Unterhaltung


Die leichte Muse ist ein schweres Fach, aber mit seiner Inszenierung von "My fair Lady" ist Toni Burkhardt bei den Thüringer Schlossfestspielen in Sondershausen der große Wurf gelungen. Das Musical ist komplettes Unterhaltungstheater, das begeistert, entführt und auch dem Kopf einiges zu bieten hat. Es ist Ausstattungstheater, das ein klassisches Musical in die Jetztzeit fortführt.
Überkandidelter Sprachforscher trifft auf ein Blumenmädchen, schließt mit dem Kollegen Pickering  eine Wette über das Mädchen ab, benimmt sich wie die Axt im Walde, dressiert das Mädchen, scheitert in ersten Anlauf, gewinnt dann doch die Wette und verliert das Mädchen fast.
Diese Aufführung wird von drei Polen bestimmt. Oliver Koch als Professor Henry Higgins, dem Opernchor des Theater Nordhausen und einer grandiosen Katharina Boschmann als Eliza Doolittle.
Koch und Boschmann stehen exemplarisch für die beiden Seiten des Musicals.
Katharina Boschmann hat als Eliza die Truppe
im Griff. alle Fotos: Tilmann Graner
Henry Higgins ist der Pol der Menschenfeidnlichkeit in dieser Inszenierung. Nett und freundlich nur zu seinesgleichen, arrogant und barsch zu vermeintlich Unterlegenen und ein bekennender Frauenhasser ist dieser Henry Higgins der Kotzbrocken von nebenan, den niemand zum Nachbarn haben will. Befriedigung verschafft ihm nur die wissenschaftliche Arbeit und selbst die nutzt er zum Spiel von Überlegen und Unterlegen, wenn er die sprachlichen Besonderheiten seiner Mitmenschen korrigieren will. Was nützt Professor Higgins die Sprache Shakespeare, die schönste Sprache der Welt, wenn er nicht in der Lage ist, mit seiner Umwelt zu kommunizieren? Dieser Higgins ist ein logopädischer Analphabet. Er beherrscht zwar den Code, kennt aber nicht die Bedeutung seiner Worte. Noch nicht einmal unter seinesgleichen, in der gehobenen Gesellschaft seiner Mutter, hat er Freunde. Dieses spannungsreiche Mutter-Sohn-Verhältnis begründet Uta Haase sehenswerte in der Rolle der lebensnahen Mrs. Higgins. Der Higgins von Oliver Koch ist sehr nahe am Higgins aus "Pygmalion" von Bernard Shaw, das die Vorlage für das Musical lieferte.
In der Darstellung dieser Rolle geht Oliver Koch bis an die Grenze. Die Körperhaltung ist starr und kerzengerade, die Stimme oft im Alarmzustand und die Zornesfalte zwischen den Augenbrauen der Normalzustand in diesem Gesicht.
Eliza weiß nicht so recht, ob sie sich auf das
Experiment wirklich einlassen soll. Foto: Graner
Eigentlich ist die Geschichte keine nette, denn es geht um die Umformung einer Person. Es ist ein Experiment am lebenden Menschen, auf das sich Higgins und Pickering geeinigt haben. Der wissenschaftliche Anspruch ist ein totalitäterer und damit ist "My fair Lady" in dieser Inszenierung auch ein Zusammenfassung des 20. Jahrhunderts. Helmut Kleinen als Oberst Pickering und Florian Kontschak als Vater Alfred Doolittle sind zwar die Boten der Menschlichkeit, doch gegen den Eifer des Higgins können sie sich nicht durchsetzen. In mit der Urgewalt des saufenden Müllkutschers und enormer Präsenz kann Kontschak aber seinen Anteil an der Aufmerksamkeit behaupten.
Katharina Boschmann als Eliza ist da ganz anders geschnitzt. Sie beherrscht alle Seiten dieser Rolle und berlinert so schön, dass sich in den tiefsten Wedding versetzt fühlt. Sie spielt die freche Göre, die zornige junge Dame und dann die selbstbewusste junge Frau. Damit verdeutlicht sie die Entwicklung der Hauptfigur eindrucksvoll und zeigt am Ende,ganz im Sinne der Autoren, wer denn die wahre Größe hat. Ihr Auftritt auf der Pferderennbahn in Ascot ist ein gekonnte Satire auf gekünsteltes Benehmen, dass auch 100 Jahre später noch funktioniert, weil die Lackaffen immer noch nicht ausgestorben sind, weil es neu soziale Codes gibt, gegen die man nicht verstoßen darf. Ja, und wat denn, wat denn,dazu berliniert se so jekonnt,det man globt, den Mädel kommt wirklich aussem Wedding.
Diese Glanzleistung basiert nicht nur auf dem schauspielerischen Vermögen, sondern ist vor allem in der Stimmgewalt der Katharina Boschmann begründet. Mal tiriliert sie operettenhaft, mal jubiliert sie glockenklar und manchmal hat ihr Sopran die Tiefe des Blues.  Aber nie wirkt sie überzogen in ihrer Darstellung.
In Ascot wirkt Eliza wie ein
dressiertes Äffchen.
  Foto: Graner
Aber das Musical verzaubert auch, weil es auf eine ganz konventionelle Ausstattung baut. Die Kostüme von Anja Schulz-Heinrich orientieren sich stark, was man am Anfang des 20. Jahrhundert trug und übertreibt doch das gesunde Stückchen. So ist Eliza in der Ascot-Szene mit Schleifchen verschnürt wie ein Geschenk an die höhere Gesellschaft. Aber nichts anderes ist ja in diesem Augenblick. Professor Higgins und Oberst Pickering verschenken ihren neuen Menschen zu Testzwecken an die alten Eliten.
Die Drehbühne von Wolfgang Kurima Rauschning erlaubt den schnellen Wechsel der Szenen und unterstützt so das Musical-eigene Tempo. Kein gutes Musical kommt ohne Show-Treppe aus, auf der die Akteure stolzieren, lachen, verzweifeln und tanzen können. Diese Anforderung hat Rauschning sehr gut gelöst.
Den Boden und das schützende Dach bildet das Ensemble in dieser Aufführung. Für viele starke Eindrücke in dieser Aufführung sorgen der Opernchor und die Ballettkompanie des Theater Nordhausen. Die Choreographie von Jutta Ebnother unterstreicht die heitere Seite des Musical kongenial, immer wieder scheinen die Tänzerinnen und Tänzer schwerelos über die Bühne zu schweben. Diese Leichtigkeit in der Bewegung gehört wohl bald zu einer aussterbenden Art. Der Chor ist in allen Lagen präsent, zeigt keine Schwäche, bereitet die Szenen gekonnt vor und treibt die Handlung vielfach in rasanten Tempo weiter. Das ist ein funktionierendes Ensemble.


Mit seiner Inszenierung von "My fair Lady" ist es Toni Burkhardt gelungen, die Tiefenschichten des Werks freizulegen und trotzdem kurzweilig zu unterhalten. Dieses Kunststück beherrschen nur noch wenige. Das schafft die Möglichkeit, das Musical von der heiteren oder von der ernsten Seite oder von allen Seiten zu lesen. Es ist auf jeden Fall ein Gewinn.

Die restlichen Vorstellungen sind bereits ausverkauft. Die Schlossfestspiele 2015 beginnen am 26. Juni 2015 mit der Premiere von Bizets "Carmen".

Das Stück

Die Schlossfestspiele in Sondershausen

Dienstag, 15. Juli 2014

Die Welt will betrogen werden

Extemporé spielt Macchiavelli mit unbändiger Freude


Beim Namen Macchiavelli denkt man alles mögliche, nur nicht an Vergnügen. Dabei hat der Florentiner Philosoph gleich drei Komödien geschrieben. Eine davon spielt der Theaterverein in diesem Sommer mit großer Freude und prominenter Besetzung in der Traditionsbrennerei in Nordhausen. La Mandragola, der Liebesrtrank, ist dabei eine Inszenierung, die mit viel Witz, Hintersinn und Grimassen schneiden auch heute noch Spaß macht. Jeder bekommt sein Fett weg und am Ende siegt die Dreistigkeit.
Kallimachus ist in Lukretzia verliebt. Die tugendhafte junge Dame ist aber die Gattin des Rechtsanwalts Messer Nikia Calfucci und sie fühlt sich an ihre Ehegelübde gebunden. Also spannt Kallimachus seinen Freund Ligurio ein, um trotz aller Hindernisse seine Bedürfnisse zu befriedigen. Ein Liebestrank soll ihn weiterbringen.  Dabei kommt ihm die Tatsachen zu Hilfe, dass sich der Kinderwunsch des Ehepaars nicht erfüllen will und zudem der Gatte nicht der Hellste ist. Außerdem können Kallimachus und Ligurio sich die Dienste des Beichtvaters Timotheo sichern.
Kallimachus kann sich mit einfachsten Mitteln
unsichtbar machen. Fotos: tok
Der Liebestrank ist ein Bühnenstück in der Tradition der Commedia dell'Arte, deren Charme Regisseur Benedikt Schörnig in das 21. Jahrhundert transportieren konnte. Olaf Schulze schafft es als Dramaturg, das Werk zu straffen und auf die Kernaussagen zu reduzieren. Beide bauen auf die Elemente, die diese Gattung über lange Zeit so beliebt gemacht hat: Musik, abstruse Situationen. Augen rollen und Respektlosigkeit vor vermeintlichen Autoritäten. Und jede Menge Screwball-Komödie steckt auch mit drin.
Bevor der Vorhang aufgeht, warnen Steffi Höppner und Dirk Großstück  als Bänkelsänger: "Komödianten sind in der Stadt" zur Musik von Reinhard Mey. Nun ist das Publikum vorbereitet, es sich eingelassen hat und wird es nicht bereuen. Das Bühnenbild zeigt Italien, wie es sich das Klischee vorstellt, Wäsche hängt über die Straße und im Hintergrund ist die Kathedrale Santa Maria del Fiore zu sehen, in den bunten, knalligen Farben der naiven Malerei gemalt. Das muss man mögen.
Peter Foyse betritt als Kallimachus die Bühne, führt mit vielen Worten in das Stück ein und zeigt wo es lang geht. An diesem Abend wird viel mit den weit aufgerissenen Augen gerollt, das Gesicht verzerrt, die Hand geht mindesten 298-mal zur Denkerstirn und die Freudschen Versprecher dürfen auch nicht fehlen. Mimik und Gestik wie aus dem Baukasten, das ist komplett "old school", eben doch authentisch und es verlangt jede Menge Können, damit die feine Grenze zur Clownerie nicht überschritten wird.
Ligurio kann sich über den Herrn Anwalt Calfuccio
nur wundern. Foto: tok
Dann betreten Alexander Abramyan als Ligurio und Karl Karliczek als Calfucci die Szene und machen dort weiter, wo Foyse stehen geblieben war. Die Rollenverteilung ist eindeutig. Karliczek ist der selbstgefällige Notabele und Abramyan der devote, aber schlaue Agent. Beide erfüllen diese Rollen vollends. Besonders Karliczek läuft zu Höchstform auf. Das man solch Grimassen schneiden, die Glieder so verrenken kann und trotzdem seriös dabei wirkt, das ist schon schauspielerische Extraklasse. Als kontrollierter Strippenzieher ist ihm Asbramyan  aber ebenbürtig. In diesem Käfig voller Narren ist Ligurio der perfekte Wächter und Alexander Abramyan kann dies auch schlüssig vermitteln. Vielleicht ist er beim genauen Hinschauen der Stärkste an diesem Abend, weil er die schwierigste Rolle ohne Beanstandung meistert.
In der Rolle des scheinheiligen Beichtvaters Timotheo kann Benedikt Schörnig seine komischen Fähgkeiten voll zur Geltung kommen lassen. Das sind die großspurigen Gesten des Geistlichen, die bigotten Anspielungen und die unschuldige Mimik, die zur Grimasse wird. Bei diesem Geistlichen heiligt der finanzielle Zweck alle Mittel, auch die unmoralischen. Aus Timotheo, dem Gottesfürchtigen, wird der Geldsüchtige. Dieser Beichtvater ist ganz im Sinne des Anti-Kleriker Macchiavelli und es überrascht nicht, dass dieser schlaue Fuchs am Ende auch zu den Betrogenen gehört. Schließlich war der Zaubertrank für den Moralisten Macchiavelli vor allem eine Abrechnung mit den Zuständen seiner Zeit, ein allegorischer Spiegel für die Herrschenden.
Lukretzia [ber die unmoralischen Angeboten des
Timotheo erbost.Foto> tok
Neben den vier Herren und in ihrem verwirrenden Treiben gehen Mona Fischer als Lukretzia und Anika Kleinke als deren Mutter Sostra fast unter. Ihnen bleiben zuwenig Szenen, um ihr Potential wirklich auszuspielen. AberMona Fischer kann den Sinnewandel der Lukretzia von der resoluten und treuen Ehefrau zur genussvollen Ehebrecherin glaubwürdig darstellen. Welche Sinn macht es,standhaft und treu zu bleiben, wenn alle Welt den Treuebruch und die sexuelle Freizügigkeit als das geheiligte Mittel zum egoistischen Zweck preist. Keinen. Damit ist der Zaubertrank fast 500 Jahre nach seiner Entstehung nicht ohne Aktualität, ist es eben nicht aus der Zeit gefallen. Das weiß das Extempore-Theater glaubwürdig zu vermittel, mit viel Spaß, viel Hintersinn  und einigen Schmunzeln. Die Aufführung gelingt so gut, weil die Schauspielerinnen und Schauspieler Spaß am Spiel haben und diesen Spaß vermitteln können. Und am Ende steht die Gewissheit> Die Welt will betrogen werden.

Die letzten Vorstellungen in der Traditionsbrennerei sind am Freitag, 18. Juli, und am Sonnabend, 19. Juli, um 20.00 Uhr. Die Vorstellung am Sonntag, 20.Juli, beginnt bereits um 18.00 Uhr. Olaf Schulze brachte die Möglichkeit ins Spiel, das Stück im nächsten Sommer auf einer kleinen Tournee aufzuführen.

Der Theaterverein Extemporé

Der Autor
Das Werk

Die Traditionsbrennerei in Nordhausen

Samstag, 12. Juli 2014

Dieser Haifisch, der hat noch Zähne

Bettina Rehm inszeniert eine raue und ungeschliffene Dreigroschenoper


Doch, Brechts Paradestück auf die Bühne zu bringen, das ist ein Wagnis. Irgendwie kann jeder was dazu sagen, also sind die Erwartungen gross und ebenso die Chance auf einen Verriss. Bettina Rehm ist dieses Wagnis am Theater für Niedersachsen (TfN) eingegangen und belohnt das Publikum, mit einer Deutung, die wohl näher am Original ist, was als vieles andere unter dem Label Brecht.
Es geht nicht um die Philosophie der Relativität des Verbrechens im gesellschaftlichen Kontext, es geht  nicht um eine Fallstudie über die Wertbildung im Londoner Subproletariat und es geht vor allem nicht um Sozialromantik unter Ausgestoßenen. Diese Dreigroschenoper ist rau und ungeschliffen, direkt und spröde, gewalttätig und niederträchtig, steckt voller Sex und ist damit ganz nah dran am Original.
Julia Hattstein hat die Bühne sparsam und damit variabel möbliert. Es gibt nur eine lange Tafel, die auch als Laufsteg dienen wird und die auch ür Table Dance gut ist. Als der Vorhang aufgeht, sitzt dort eine Festgesellschaft, die an Da Vincis "Letztes Abendmahl" erinnert. Es ist Jahrmarkt in Soho und sie summen das Lied vom Haifisch, der Zähne hat und Handschuhe trägt. Hinter der zweifelhaften Gesellschaft steht eine riesige Justitia. Spenden ihre ausgebreiteten Arme Segen wie der Christus auf dem Corovado-Berg oder ist sie gekreuzigt wie der Christus auf dem Golgatha-Berg? Die akzentuierte Bühne ist ein Baustein im Konzept "Zurück zum Original".
Die Ganoven treffen sich zum letzten Abendmahl im
Angesicht der gekreuzigten Justitia. Foto: Quast
In Londons Unterwelt herrscht Krieg. Zwei Männer kämpfen um die Vorherrschaft. Da ist Jonathan Jeremiah Peachum, der König der Bettler,der sein Geld mit dem Elend und mit dem Mitleid macht. Auf der anderen Seite steht Macheath, genannt Mackie Messer, Kopf einer Bande von Einbrechern, Mördern und Brandstiftern. Beide haben ihren Stil, der eine kalt, berechnend und kalkulierend, der andere dominant, gewalttätig und gut befreundet mit dem Polizeichef. Skrupellos sind alle drei. Die Situation spitzt sich zu, als Macheath Polly Peachum, die Tochter des Bettlerkönigs heiratet. Das ist eine Kriegserklärung. (Mehr dazu hier.) Jens Krause als Peachum und Martin Molitor als Macheath setzten diese Gegensätze in eindrucksvoller Weise um.
Molitor kontrolliert mit Präsenz das Geschehen. In Löwenmaske und mit breiter Brust schreitet er durch das Publikum. Die Festgesellschaft besteht aus Schafen und Schweinen und Molitor im Armani-Dress bewegt sich wie der Gockel auf dem Hühnerhof zwischen ihnen. Mit großen Gesten verteilt er Geldgaben und nimmt Gefälligkeiten entgegen.

Die Gegenspieler

Als sich die Festgesellschaft schlagartig auflöst, bleibt nur Jonathan Peachum zurück. Streng und knapp gibt er eine Einführung in seine Geschäfte mit dem Elend und dem Mitleid. Seine Gestik ist kurz, sparsam und knapp bemessen. Die Großspurigkeit eines Mackie Messers ist ihm zuwider. Jens Krause wirkt eher wie der Wissenschaftler unter den Gauner, wie der Dr. Evil der Dreigroschenoper. Doch in der Strenge liegt auch Unerbittlichkeit. Das weiß Krause bestens zu vermitteln.
Jonathan Peachum kann auch ganz
anders. Foto: Quast
Mit der Dreigroschenoper haben Weill und Brecht 1928 die Grenzen der Genres aufgehoben. Ihnen waren die Schubladen zu eng. Ihr Werk ist beides: Drama und Oper zugleich. Dementsprechend wird viel gesungen und hier liegt vielleicht die Schwäche von Jens Krause. Sicherlich braucht es kein Belcanto in dieser Inszenierung, aber Krause kommt im ersten Akt an die Grenzen seines Gesang. Das ändert sich im Laufe des Abends.
Martin Molitor ist die Großspurigkeit in Person. Der Gangster steht ihm an diesem Abend ins Gesicht und in die Mimik geschrieben. Mit raumgreifenden Gesten nimmt er Besitz vom Platz. Breiter Rücke und durchgedrückter Rücken symbolisieren eine Selbstsicherheit bis zur Selbstgefälligkeit. Scheitern kommt in seinem Lebenskonzept nicht vor, da ihm die Freundschaft zu Polizeichef "Tiger" Brown das Überleben sichert. Alexander Prosek ist in der Rolle des Polizeichefs an diesem Abend sicherlich ein großer Aktivposten. Die wenigen Auftritte überzeugen mit enormer Bühnenpräsenz .
Molitor spielt den Mackie Messer nicht als guten Jungen, der vom rechten Wege abgekommen. Dieser Macheath ist ein Grundübel, gewalttätig und niederträchtig. In den Zeiten der Not hat er keine Skrupel, seiner Frau Polly aufzutragen, die Mitglieder seiner Gang nach einem ausgeklüngelten System an die Polizei auszuliefern. Eben diese Frau hat er zuvor nach der Hochzeit im Pferdestall vergewaltigt. Er selbst wird aber selbst Opfer seines Hangs zu Prostituierten. Jernny liefert ihren ehemaligen Zuhälter Macheath an die Polizei aus, weil Frau Peachum ihr eine Belohnung versprochen, die aber ausbleiben wird.

Keine Sozialromantik

Bettina Rehm verzichtet auf Sozialromantik.Ihre Dreigroschenoper handelt nicht von der Bildung neuer Wert in einem Netzwerk von Ausgestoßenen. In dieser Unterwelt gibt es zwei Platzhirsche, aber keine Normen. Die Platzhirsche definieren die Regeln ständig neu anhand ihrer Interessen. Menschen sind nur Werkzeuge zur Befriedigung und bleiben als Betrogene zurück. Damit ist diese Inszenierung aktueller denn je. Rehm nimmt transponiert Brecht und Weill aus den 20er Jahren des 20.Jahrhunderts in die Unübersichtlichkeit und in die digitale Fremdbestimmung des 21. Jahrhunderts
Macheath regiert seine Räuberbande mit Gewalt.
Foto:Quast
Solch ein System verändert Menschen und diese Veränderung manifestiert sich in der Polly Peachum von Magdalene Orzol. Anfangs noch kindhaft und spätpubertierend wandelt sie sich zur Gehilfin des Gaunerkönigs. Das Lied von der Seeräuber-Jenny, im Domina-Look vorgetragen, wirkt anfangs noch etwas deplaziert und die klare Stimme von Magdalene Orzol etwas dünn. Doch aus dem Kontrast dieser Stimme zur Rolle entwickelt sich ein Spannung, die funktioniert.
Die Dreigroschenoper am TfN ist schonungslos weil sie auch den Sex offen thematisiert, vor allem in der Vermengung mit Gewalt. Macheath war Zuhälter, er geht regelmäßig zu den Nutten, bevorzugt Praktiken, die nicht der Norm entsprechen, und er vergewaltigt seine frisch Vermählte. Seine Bandenmitglieder dürfen hingegen nur onanieren. Sex ist hier eine Form der Beherrschung und damit ist diese Inszenierung doch noch ein Angriff auf die neu definierten bürgerlichen Moralvorstellungen. Dies hat Bettina nicht dazu erfunden oder auf den Brecht draufgepfropft. Das steckt in Urtext drin, das muss man nur entdecken.

Die Musik

Die Mengen an musikalischen Zuckerguss, die in den letzten 86 Jahren  über das Werk von Kurt Weill gegossen wurden, haben es fast verschwinden lassen. Selbst Sting und Gianna Nannini fuhren einst Streicher auf, als sie vom Morden und Betrügen und von der sexuellen Hörigkeit sangen. Leif Klinkhardt macht die Rolle rückwärts. Sein Arrangement ist sparsam instrumentiert, sparsamer als die Urversion, lässt aber den Text und die Sänger zur Geltung kommen und erlaubt die Konzentration auf das Geschehen. Ebenfalls rau und spröde betont die Musik die emotionale Seite des Werks und verleiht ihrem Handeln eine Tiefe, die Streicher sonst glätten würden.

Mit dieser Dreigroschenoper ist dem TfN eine Rückbesinnung gelungen, die vom Kampf zweier Platzhirsche lebt und mehr Ur-Brecht zeigt als viele andere überformte und überladene Inszenierungen. Für alle, die die bisherigen Aufführungen verpasst haben: Das Stück kommt in der nächsten Spielzeit wieder.

Die Dreigroschenoper in der TfN-Selbstbeschreibung
Der Spielplan am TfN

Für den Blick dahinter: Die Bildergalerie

Samstag, 5. Juli 2014

Das Leben ist ein Laufsteg

Thomas Klenk eröffnet mit Goldonis Sommerfrische die Domfestspiele

Nach viel Vorprogramm ist das Schauspielprogramm der 56. Gandersheimer Domfestspiele  eröffnet. Thomas Klenk zauberte am Donnerstag mit "Die Sommerfrische" von Carlo Goldoni eine Neubearbeitung auf die Bühne vor der Stiftskirche, die keine Wünsche offen ließ. Es war der Abend von Gunter Heun, der in der Rolle des Leonardos ganz großes Theater bot.
Alles will nach San Remo, zumindest diejenigen Mailänder, die zur  High Society gehören wollen. Solche Leute wie  Leonardo und seine Schwester Vittoria, der alternde Filippo und seine Tochter Giacinta andererseits. Beide Familien eint die Tatsache, dass sie sich den kostspieligen Aufenthalt in der Sommerfrische gar nicht leisten können. Sie sind allesamt pleite.
Da hat sich eine feine Reisegesellschaft zusammen-
gefunden. Alle Fotos: Hillebrecht 
Dennoch werden sie nach langen Hin und Her, nach "rin in die Kartoffeln und raus aus den Kartoffeln" die Reise antreten, mit den beiden Herren Ferdinando und Gugliemo im Gepäck. Man reist, weil es gilt, das Gesicht in der geltungssüchtigen Gesellschaft zu wahren und man begibt sich auf die Reise, weil der Pate Fulgenzio ein berechtigtes Interesse daran hat, dass Leonardo Giacinta ehelicht. Das Konstrukt hat nur einen Webfehler: Gugliemo will das Herz der Giacinta erobern.
Die Komödie "Die Sommerfrische" gehört zur "La trilogia della villeggiatura" des venezianischen Dichters, Dramatikers und Librettisten Carlo Goldoni. Für die Aufführung bei den Domfestspielen haben Ulrich Cyran und Thomas Klenk eine Neuübersetzung (mehr dazu hier) erstellt. Ihnen ist es gelungen, den Text aus dem Jahre 1761 in die Postmodern zu transponieren, ohne ihn zu verstümmeln oder zeitgeistig zu überladen. Textelemente des 18. Jahrhunderts stehen gleichberechtigt neben Passagen, die eindeutig im 21. Jahrhundert zu Hause sind. Von dieser Spannung in harmonie lebt die Aufführung in Bad Gandersheim auch, denn es ist sicherlich kein Historienspiel, dass Thomas Klenk und Florian Götz hier inszeniert haben. Die Bezüge in die Jetztzeit sind offensichtlich, denn das Stück dreht sich um die Eitelkeit in ihren vielen Formen, auch der Liebe, und um die Geltungssucht und um die Erwartungen der anderen, die erfüllt werden. Das sind zeitlose Themen und sie sind in den Zeiten der sozialen Kontrolle durch die digitalen Netzwerke aktueller denn je. Die Musik von Jens Mahlstedt ist ein wichtiger Baustein im Gesamtwerk, ohne sich in den Vordergrund zu drängen.

Das Leben auf dem Laufsteg

Die Bühne ist spärlich ausgestattet. Ein paar Gepäckkulis, wie man sie aus Hotels kennt, stehen herum, behängt mit Kleidersäcken. Die Koffer sind gepackt, hier ist jemand auf dem Sprung. Mehr braucht es nicht, um die Ausgangssituation zu visualisieren. Dominierendes Element im Konzept von Sandra Becker ist der schwarz-weiße Laufsteg von der Stiftskirche in Richtung Publikum. Hier werden bald die Akteur lang stolzieren und ihre Geschichtchen erzählen. Sie führen ein Leben auf dem Präsentierteller und sie führen ein Leben immer hart am Rand. Die Parallelen zum Leben der Models ist augenfällig und Vittoria und Giacinta sind eindeutig Fashion Victims.
Der Laufsteg ist ein
Präsentierteller. 
Der Einzug der Gladiatoren erfolgt von ganz oben durch die Zuschauerreihen. Immer wieder wird ein Teil der Handlung auf die Tribüne verlegt. Denn das Publikum gehört dazu, es gehört dazu, die Probleme von Leonardo, Filippo, Giacinta und Vittoria sind auch die Problem der Zuschauer. Klenk und sein Ensemble machen die  Kontinuitäten vom 18. zum 21. Jahrhundert
unübersehbar, denn die Zeiten ändern sich, aber das Geld und die Sorge um das Geld, die bleiben.
Auf der Bühne angekommen, rappt das Ensemble erst "We will rock you", denn der Hassel um die Knete und die Fummel, das ist ein großer Teil der Popkultur. Ausstaffiert sind die Darsteller, als kämen sie gerade vom Shopping bei H&M oder Primark oder sonst einem Lieferanten des Hip seins. Gunter Heun als Leonardo im dunkelroten Satin signalisiert "Ich bin der Gockel auf diesem Hühnerhof", Karsten Kenzel erinnert als Ferdinando ganz offen an die Kunstfigur Harald Glööckler und Julia Friede ist als Giacinta die Widerspenstige im Kleinen Schwarzen. Diese Kostüme verdeutlichen: Hier ist mehr Schein als Sein. So wird Leonardos Führungsanspruch zerbröseln wie eine Sandburg im heißen Sommerwind, Giacinta wird sich letztendlich den Wünschen des Vaters fügen. Die postulierte Eigenständigkeit entpuppen sich als hohle Phrasen. Nur der Party-Löwe Ferdinando kann seine Ansprüche durchsetzten und der Gewinner heißt am Schluss Fulgenzio. Wer ist er eigentlich? In welcher Beziehung steht er zu den anderen Figuren? Egal, er ist der Pate, der Strippenzieher im Hintergrund. Unterkühlte Mimik, sparsame Gestik und wohl gesetzte und deutliche Worte. Andreas Torwesten spielt den Fulgenzio mit solch einer Coolness, das einem gelegentlich fröstelt.  Letztendlich macht er Leonardo doch das Angebot, das dieser nicht ausschlagen kann. Der Mafiosi gewinnt immer und diese Gewissheit ist Torwesten in Person. Damit verwandelt Klenk die Komödie in ein Gegenwartsdrama.

Die Konfliktlage

Leonardo weiß um seine missliche Lage. Die Kasse ist leer und trotzdem muss er um jeden Preis. Er muss das Gesicht wahren und er will Giacinta zu seiner Frau machen. Das geht nur über San Remo. Also lässt er sich auf das Spiel mit Fulgenzio ein, schließt er den Pakt mit dem Teufel im Business-Dress.
Dann eskaliert das Leben in der Sommeridylle doch.
Der Premierenabend ist der Abend von Gunter Heun. Mit den großen, raumgreifenden Gesten und seiner verzerrender Mimik ist er der Mann für den Verzweiflungsmodus, für das zornige Wüten, für das letzte Mal Innehalten vor dem Absturz. Mit leisen, durchdachten Worten, mit Miene gewordener Gleichgültigkeit ist er auch der Mann für die Momente der Resignation, des sich Fügens in das Unabwendbare, für das Weiter nach der Katastrophen. Damit legt er alle Teile des komplexen Charakters des Leonardo frei. Mit einer Urgewalt kommt er daher und ist doch nichts anderes alles eine Billardkugel in einem Spiel, das andere mit ihm spielen.
Nichts, was er anfasst, gelingt ihm. Das treibt ihn  nur noch tiefer in die Verzweiflungsspirale. Giacinta kann sich nicht so recht für ihn entscheiden. Aus dem Flehen und Bitten wird bald Schimpfen und Verdächtigen, aus dem Schimpfen und Verdächtigen wird letztendlich die Drohung mit der ultimativen Konsequenz, die Drohung mit den Suizid. Nachdem die Grenze überschritten wurde, kommt die Ruhe eines Manns, der mit allem abgeschlossen hat. Diese Entwicklung kann  Heun glaubwürdig und authentisch verkörpern.
Julia Friede spielt die Giacinta als Dauerpubertierende, die zwar ihren Vater Filippo im Griff hat, aber ansonsten orientierungslos durch eine Welt von Mode und Image torkelt. Wenn sie im ersten Akt dieses lang gezogene "Paaaaaappppppaaaaa!" kreischt oder "Geeellllllddd" ruft, dann steigt der Wiedererkennungswert für das Publikum auf 105%. Große Klasse. Wer so eindimensional lebt, der ist mit Konflikten einfach überfordert, zeigt uns Julia Friede eindrucksvoll. Auch den Bruch in der Figur Giacinta nach der Eskalation vermittelt sie glaubwürdig.
Der Urgewalt des Leornardos kann Gugliemo nichts Vergleichbares entgegensetzen. In der Konsequenz spielt Patrick Stamme den Schwerverliebten als jemanden, der nicht in der Lage ist, ein offenes Spiel zu spielen. Das "An sich selbst Leiden" ist ihm ist Gesichts geschrieben und dies ist folgerichtig, die Hängeschulter inklusive.

Ein glimpfliches Ende und ein gelungener Anfang

Carlo Goldoni gilt als der Reformator der Commedia dell'arte. Mit der Neubearbeitung haben Cyran und Klenk diesen Impuls wiederbelebt und fortgeschrieben. "Die Sommerfrische" gerät in dieser Inszenierung fast schon zur Farce, zur Karikatur von Lebensentwürfen, die die Jahrhundert überdauert haben. Wer das Leben nur als ein Spiel sieht, der sollte sich gegen diejenigen wehren, die die Spielregeln bestimmen. Dies zeigt sich in der Szene, als Dominika Szymanska und Dirk Schäfer als maskierte Hütchenspieler noch einmal die Elemente der Commedia dell'arte aufgreifen und das Geld der Sommergesellschaft abgreifen.
Wer sich die Regeln seines Lebens aufzwingen lässt, der kann auf ein versöhnliches, ein glimpfliches Ende hoffen, aber nicht auf ein Happy End. Dies macht Thomas Klenk mit dieser Aufführung deutlich und diese Botschaft ist aktueller denn je. Diese Inszenierung ist ein Gesamtpaket mit einem schlüssigen Konzept. Besser hätte der Start in das Schauspielprogramm der  56. Domfestspiel nicht sein können.


Der Spielplan bei den Domfestspielen
Das Stück in der Selbstdarstellung