Montag, 11. Juli 2016

"Derlei Dinge kann man sich nicht vorstellen"

Dirk Schäfer liest Gogols Nase

Die schönsten Blüten der 58. Domfestspiele blühen manchmal im Schatten der Festspielbühne. Ein besondere Knospe brachte Dirk Schäfer am vergangenen Sonnabend zum Blühen. Im Klostercafé Brunshausen las er "Die Nase" von Nikolai Gogol und machte daraus ein Erlebnis für alle Sinne.

Nikolai Gogol gehört neben Alexander Puschkin zu den Erneuerern der russischen Literatur in den 1830-er Jahren. Er machte die Satire und die Ironie salonfähig in St. Petersburg und verknüpfte Volksliteratur und Feingeistiges. Die Novelle "Die Nase" ist ein seiner St. Peterburger Geschichten, in denen er die Stützen des zaristischen Russlands karikiert. Doch Gogols Stern verlöschte bald und er starb früh und in geistiger Umnachtung.

Der Rezitator begrüßt den Stuhl. Alle Fotos: tok
"Die Nase" steht zum einen in der Tradition der fantastischen Literatur der russischen Romantik, zum anderen weist mit ihren surrealen Momenten schon weit nach vorne. Gogol nimmt hier vorweg, was sich zum Teil erst viel später in Kafkas Verwandlung wiederfindet. Über Nacht wird ein Mensch seiner Umwelt fremd, weil etwas Ungewöhnliches passiert ist.

Im diesem Falle ist dem eitlen Kollegienassessor Major Kobalew das Riechorgan abhanden gekommen. Ohne weitere Erklärung findet es sich im Brot des Barbier Iwan Jakobjewitsch wieder. Dieser weiß mit dem Fund nichts anzufangen, doch bei dem Versuch, die Nase zu entsorgen, wird er ertappt und von der Polizei zur Rede gestellt. So weit der erste Teil

Allen fantastischen Versuchungen zum Trotz gibt es an diesem Abend nur eine blanke Bühne, einen Stuhl, weißes Licht und einen Rezitator, der sein Werk meisterhaft versteht. Dirk Schäfer stürm in den Saal, blickt sein panisch um, checkt den Eingangsbereich und entert erst dann die Bühne. Ein wirksamer Einstieg, der das Publikum und die geheimnisvollen Umstände der Geschichte und die paranoiden Anfällen des Autors vorbereitet.

Schäfer liest knapp und fokussiert. Fast schon scheint es wie ein bloßer Bericht über die Zustände in der Küche des Barbiers und vom Zwist mit des Ehefrau. Kühl und nüchtern und trotzdem für jeden Zuhörer greifbar und vorstellbar. Die Konzentration auf das Wesentliche erlaubt jedem im Publikum, seine Vorstellungen und Erfahrungen dazu zudenken.

Auch Dirk Schäfer ist erstaunt über das Geschehen.
Dann schaut sich Dirk Schäfer hektisch um. Er steigert das Tempo seiner fahrigen Bewegungen. Schäfer zaubert aus Hosenbein den zweiten Teil des Skripts hervor. Sollte die Zensur den Text dort nicht finden? Auf jeden Fall rückt Schäfer mit dem Stuhl an die Bühnenkante, an der Publikum heran. Es folgt der zweite Teil und die beklemmende Atmosphäre der Novelle steigert sich noch einmal.

Es ist ein Perspektivwechsel. Nun wird der Nasenlose zum Mittelpunkt. Der Rezitierende nimmt das Publikum mit auf eine Hetzjagd durch das St. Petersburg der 1830er Jahre. Staatsräte, Assessoren, Bezirkshauptmänner, Quacksalber und Offiziersgattinen, Uniformen und Epauletten, Gogol entblättert hier ein Kaleidoskop der zaristischen Obrigkeit und Dirk Schäfer stellt sie alle im passenden Ton vor. Stärker als im ersten Teil variiert er hier die Stimme und bleibt doch in der gehetzten Grundstimmung. Zwischendurch flüstert er geheimnisvoll und verschwörerisch. Nicht alles ist für die Öffentlichkeit bestimmt, das scheint gewiss. Schließlich geht es für Kobalew um nichts weniger als seine gesellschaftliche Stellung und seine Existenz, die er mit fehlender Nase verlieren wird. Schäfer läuft zu ganz großer Form auf und allein mit seiner Stimme lässter  das Auditorium teilhaben an dieser von Zwängen geprägten russischen Gesellschaft.

Dann ist Pause.

Von Erholung kann keine Rede sein. Der Wahn und die Nöte des Major Kobalew haben sich in der Pause wohl noch gesteigert. Auf jeden Fall zieht Schäfer das Tempo noch einmal an. Selbst als Kobalew und seine Nase wieder zueinander finden, ist die kein Grund für Entspannung. Schließlich muss das Organ wieder dahin, wo es hingehört, aber das ist nicht so einfach.

Auf jeden Fall verschwindet das Manuskript wieder im Hosenbein und Schäfer zieht mit Verschwörermiene den dritten Teil aus dem Sakko. Nun wird alles gut und Schäfer wird zum Schauspieler. Den Schlussteil mit Gogols eigenen Deutungsversuchen memoriert er frei. Aber bei den Interpretationsversuchen ist das keine Hilfe. Gogol wirft hier Nebelbomben. trotzdem bleibt das Publikum bis zur letzten Silbe fasziniert.

Welche symbolische Funktion erfüllt die verschwundene Nase? Ein klare Antwort gibt es Fest steht nur, dass man "sich derlei Dinge  nicht vorstellen kann". Aber wie an anderen Stellen auch überlassen Autor und Interpret  die Sinn-Suche in den Tiefen des Textes den Zuhörern. Jeder darf selbst hinab tauchen. Nicht nur deswegen gehört es an diesem Abend zu den Gewinner.

Was kann Dirk Schäfer eigentlich nicht? Er kann schauspielern, er kann singen, aber Schäfer kann auch rezitieren. Es ist großartig und "vorlesen" ist ein zu schwaches Wort, für das was er tut.



Der Spielplan der Domfestspiele
Die Lesung

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