Auf Wallfahrt nach Hiva Oa

Jens Rosteck berichtete über die letzten Lebensjahre von Jacques Brel
Keine Lesung sondern ein Performance sollte es sein. Am Freitag war der Literaturherbst Göttingen zu Gast im Esel in Sülbeck. Mit Klavier, Boxen und Beamer trug dort Jens Rosteck aus seinem Werk "Brel - Der Mann der eine Insel war" vor. Das Buch beschäftigt sich mit dem Aussteigerdasein des Sängers und Komponisten und seinen letzten Lebensjahren auf Hiva Oa. Aus dem nüchternen Bericht wurde eine Wallfahrt in die Südsee.
Der Vortrag beginnt mit Musik. Jens Rosteck spielt am Flügel ein Walzer, den er erst erklären muss. Denn ein Walzer muss nicht immer im Dreivierteltakt sein, behauptete einst Jacques Brel. Der Mann musste es wissen, immerhin zählt er zu den wichtigsten Vertretern des Chansons im 20. Jahrhundert. Rosteck erzählt vom ungewöhnlichen Verhältnis des Chansonnier zu der Gattung Walzer. Damit war der Einstieg geschafft.
Zur Bestätigung spielt der Referent "La valse á mille temps" ein. Aus einer weichen Streicherbasis heraus steigert sich Jacques Brel bis in die Ekstase. Das ist das bekannte Bild, das kennt jeder, der den Namen Brel schon einmal gehört hat. Dazu wirft der Beamer im schnellen Wechsel Bilder von Brel auf die Leinwand. Es sind Fotos aus Jugendzeiten, aus den Zeiten der grandiosen Erfolge, Zeichnungen, Lithographien, eben alles, was der Devotionalienhandel so hergibt. Ein System oder Zusammenhang zum Gesang ist nicht zu erkennen.
Das verinnerlichte Spiel des Pianisten bildet einen
Kontrast zur stürmischen Vorlage.     Fotos: tok
Dann erinnert Rosteck an den schleppenden Erfolg des Außenseiters in Paris. Erst nachdem der Zuwanderer aus Belgien seine asketische Attitüde abgelegt hat, lag Paris ihm zu Füßen. Die Theatralik, die bedingungslose Verausgabung, das war die Bestimmung von Jacques Brel. Damit wurde er in kürzester Zeit zum König des Chansons. Ein Orkan, eine musikalische Urgewalt. So weit das bekannte Bild.
Rosteck berichtet von Brels Jugend in Brüssel, von der kleinbürgerlichen Familie aus dem katholische Milieu. Dazu reiht er Foto an Foto, eine wahre Bilderflut ergießt sich. Rosteck berichtet von dem Protestler Brel, der auf subtile Weise kritisiert, aber nie Partei ergreift. Das überlässt er seinen Publikum. Dann kommt der Mai 1967 und das legendäre Abschiedskonzert im Olympique. Danach wird Brel noch einige Alben veröffentlichen, aber nie wieder auf einer Bühne stehen,
Brels Gehversuche im Filmgeschäft sind eher Stolpereien, die ihn fast in den Ruin treiben. Auf der Leinwand bleibt der Sänger ein Fremdkörper. Doch dann entdeckt er das Segeln und wohl das, was manche die wahre Bestimmung nennen. Hier kippt die Stimme des Referenten ins Schwärmerische, in die Verklärung.
1975 landet Brel mit seiner letzten Lebensgefährtin auf der polynesischen Insel Hiva Oa. Hier läßt er sich nieder, obwohl das unwirtliche Eiland seiner Gesundheit nun gänzlich abträglich ist. Auch Paul Gauguin verbrachte hier seine letzten zwei Lebensjahre, bevor ihn die Syphilis dahin raffte.
Ach ja, Paul Gauguin. Brel schwärmte wohl für den Aussteiger und Rosteck tut es auch. 1978 wird der Sänger neben dem Maler begraben werden. Ach ja, Paul Gauguin. Hier liegt eben ein Konstruktionsfehler. Bei aller Schwärmerei für das Aussteigerdasein vergisst Rosteck, dass Gauguin trotz Erkrankung immer noch das praktizierte, was er für die freie Liebe der Eingeborenen hielt. Der Zuwanderer wurde so zum Todesengel.
Taugt Jacques Brel als Übervater?
In ähnlichen Weichtönen zeichnet Rosteck das Leben von Brel und seiner Mathild auf Hiva Oa, karitativ und wundertätig. Distanz und Differenzierung sucht man vergebens. Auch keine Erklärungsversuche. Dass Brel seine Frau und die drei Töchter zurückließ, deutet er nur an. Dass der Sänger für seine Familie kein angenehmer Mitmensch war, dass das Verhältnis schwer belastet war, verschweigt er. Hier war ein Künstler, der in seiner Berufung auf andere keine Rücksicht nehmen konnte, geschenkt.
Manche Sportjournalisten sind Fans, die es aus unerfindlichen Gründen auf die andere Seite geschafft haben, sagte mal Thomas Kistner. Für Musikerbiografen gilt wohl ähnliches. Im Publikum ist die Generation "Irgendwo zwischen 50 und 60" deutlich in der Überzahl. Es ist die Generation, die vor 35 Jahren so viel vom Aussteigen geredet und geräumt hat und sich dann doch nicht getraut hat. Nun kommt jemand daher und singt wieder das hohe Lied des Aussteigen. Jugenderinnerungen werden wach, dafür ist man dankbar. Darin liegt der Zauber: Jacques Brel erfüllt eine Ersatzfunktion. "Mögen , aber dürfen haben wir uns nicht getraut", wusste schon Karl Valentin. An diesem Abend ist diese Weisheit  2 Stunden lang außer Kraft gesetzt.






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