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Ein Dorf wird zur globalen Virenschleuder

Ischgl-Buch von Hechenblaikner im Steidl-Verlag erschienen

Wer wissen will, warum Corona schnell zur Pandemie wurde, der sollte sich dieses Werk besorgen. Mit “Ischgl” zeigt der Fotograf Hechenblaikner eindrucksvoll, wie aus einem Bergbauerndorf in Tirol die Virenschleuder Europas wurde.

Manchmal werden Verlage von den Ereignissen überrollt. Das Buch war schon länger geplant. Nun hat der Steidl-Verlag die Erscheinung nach vorne gezogen. Aus einem Bildband wurde so ein Erklärstück zu Europa und seinen drängendsten Problem.

Ischgl, hinter diesem einen Vokal und seinen fünf Konsonanten steckt das ganze Elend des alpinen Massentourismus. Auf 1.600 Einwohner kommen 25.000 Gästebetten. Das macht 1,4 Millionen Übernachtungen und 250 Millionen Euro Umsatz jährlich. Der Ort ist längst zur Marke geworden und zum Ballermann der Alpen verkommen. Zum Skifahren kommen nur die wenigsten. Hier ist 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche.

Lois Hechenblaikner fotografiert seit den 80-er Jahren vor allem die Natur. Dafür bekam er unter anderem den King Albert Mountain Award. Seit 2012 hat der Tiroler im Steidl-Verlag drei Bücher veröffentlicht, die sich um die Neuentdeckung der Alpen drehen. Doch keins ist so eindrucksvoll wie “Ischgl”. Es ist eine bebilderte Langzeitstudie über die Entgrenzung von Menschen.

Bilderflut

Das Werk folgt einer klaren Dramaturgie. Zeigen die ersten sechs Seiten noch verschneite Bergidyllen in milchigen Tönen, kommt der Schock auf Seite acht. Bis zum Horizont drängen sich Menschen an Menschen. Es gibt ein Konzert auf dem Gletscher. Aus einem Ort der Stille ist eine Krachmeile geworden.

Dabei bedienen sich Gerhard Steidl und Helmut Feroudi eines gestalterischen Tricks. Aus dem vollformatigen Panoramabildern sind Dreiviertelformat geworden. Die Umsicht das Naturfreunds verengt sich auf den Blick durch die Skibrille.

Alle Fotos: Lois Hechenblaikner
Aus Hechenblaikners Sicht hat Ischgl nichts mehr mit Wintersport zu tun. Es reihen sich Partybilder an Partybilder. Schnee und blauer Himmel sind nur die Kulisse für ein permanentes Besäufnis. Das verdeutlicht nichts eindrucksvoller als die Bilder auf Seite 25 und 26. Links stapeln sich leere Bierkisten in den Himmel. Rechts räkeln sich männliche Best Ager auf Hunderten von Fässern, so als wollten sie sagen: Alles das haben wir getrunken.

Erstaunlich ist, dass sich die Menschen so bereitwillig zur Schau stellen. Niemand dreht sich weg. Der Blick geht meist direkt in die Kamera. Hechenblaikner schafft es, diese verquere form des Stolzes einzufangen und schonungslos darzustellen.

Brust raus. Drei junge Männer präsentieren stolz ihre “Fotzen wo”-T-Shirts. Harte Kontraste, kein Weichzeichner und detailreich. Es sind ungeschminkte Bilder, allerbeste Reportagefotos. Damit gelingt Hechenblaikner eine Komprimierung von Dingen, die manchen verborgen bleiben.

Alkohol ist das eine, Sex das andere Thema. Ständig wird blank gezogen und plump anbaggern. In Ischgl scheint es einen heimlichen Wettbewerb der Obszönitäten zu geben. Gummipuppen sind zum allgegenwärtigen Scherzartikel geworden. Die touristische Entgrenzung geht mit der sittlichen Entgrenzung einher.

All das kontrastiert Hechenblaikner immer wieder mit Bildern leerer Pisten. Wer braucht schon Ski wenn es doch Apres Ski gibt? Deswegen tragen auch die meisten Menschen auch Kostüme und keine Sportbekleidung.

Es nimmt und nimmt kein Ende. Mit seinen Bildern dokumentiert der Fotograf wie der Bauboom in Tirol weitergeht und wie die Gentrifizierung rasant an Fahrt aufnimmt. Von Ischgl selbst ist wenig zu sehen. Der Ort ist austauschbar geworden, ist die bittere Erkenntnis. Bewohner kommen auf den Bilder nicht vor. Sind sie an den Rand gedrängt oder so sehr mit Geld zählen beschäftigt, dass die Zeit nicht mehr zum Posieren vor der Kamera reicht?

Die Champagnerhütte war wirklich mal nur eine Hütte. Das zeigt Hechenblaikner mit der Genüberstellung zweier Fotos. Dieser Technik bedient er sich mehrfach. Heute kostet die Flasche dort 2.890 Euro. Das kann sich kein Dorfbewohner mehr leisten. Was bleibt sind Berge von Müll und Menschen, die zwischen Autos schlafen. Damit ist die Inszenierung zu Ende.

Ohne Worte

Bilder sagen mehr als Worte und die Bilder von Hechenblaikner sprechen Bände. Deshalb kommt das Vorwort erst zum Schluss. Stefan Gmünder gibt aber keinen Erläuterungen zum Werk. Er erklärt den Menschen Hechenblaikner. Der Leser erfährt so, was den Fotografen antreibt, wo seine Motive liegen.

Doch Gmünder macht auch die Gründe des Irrsinns deutlich. Armut war die treibende Kraft. Doch bis in die frühen 60-er Jahre haben die Eltern im Planautal ihre Kinder nach Süddeutschland geschickt, damit sie dort für Kost und Logis arbeiten konnten. Heutzutage unvorstellbar in Europa.

Gmünder geht auf die aktuellen Ereignisse ein. Er rekapituliert welche Kette von Fehleinschätzungen Ischgl zur Virenschleuder gemacht haben. Ere berichtet aber auch von einem Umdenken in der Politik, von neuen und alten Werten in der Tourismusbranche. Damit könnte “Ischgl” von einer Situationsbeschreibung zu einem Blick zurück in eine turbulente Vergangenheit werden. 978-3-95829-790-6

Daten 

Lois Hechenblaikner wurde 1958 in Reith im Alpbachtal geboren. Nach einer Ausbildung zum Kfz-Elektriker ging er seit 1985 auf Fernreisen, die er auch dokumentierte. Seit den 90-er Jahren sind die Folgen des Tourismus sein Lieblingsthema. Saulus und Paulus finden sich hier.

Das Buch “Ischgl” enthält 205 Fotografien auf 240 Seiten. Es kostet 38,- Euro und erscheint am 2. Juni im Steidl-Verlag. Die ISBN lautet 978-3-95829-790-6


Material #1: Ischgl - Das Buch

Material #2: Lois Hechenblaikner - Die Biografie

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