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Theater für Fortgeschrittene


Vor Sonnenaufgang als Update im Deutschen Theater

Nichts bleibt wie es mal war und es nützt nichts, sich auf vermeintliche Gewissheiten zu verlassen. Das ist der Kern von „Vor Sonnenaufgang“. Im Deutschen Theater Göttingen zeigt Erich Sidler eine Inszenierung, die an die Schmerzgrenzen geht. Die Aufführung beeindruckt, berührt, rückt vieles gerade und lässt Raum für eigene Überlegungen. Das ist Theater für Fortgeschrittene.

Das Bühnenbild von Jörg Kiefel fasziniert. Die Spielfläche wurde mit Ständern, Latten und Stempel mit einem flächendeckenden Podest belegt. Allein, es fehlen die Dielen, die Trittsicherheit verleihen würden. Damit wird das Schauspielern zum Balanceakt.

Die Botschaft ist eindeutig. Das ganze Leben ist eine Baustelle und schnell man mal vom Gerüst fallen. Das kombiniert Kiefel mit einer Lichtsetzung, die mehr verdunkelt als erhellt. Vieles bleibt im Verborgenen, im Ungewissen. Damit unterstütz er die spekulativen Momente. Häufig ist das, was nicht gesagt wird, wichtiger als das gesprochene Wort.

Auf diesem Gewirr aus Längs- und Querlatten steht eine junge Frau im Halbdunkel. Sie raucht und sie fröstelt, also ist sie nur mal kurz vor die Tür gegangen, eine rauchen eben. Dann tritt ihr Schwager an sie heran. Eine Szene, wie sie auf allen Familienfeiern üblich ist. Damit ist das Publikum gleich im Bild und im Geschehen.

Familiäre Elementarteilchen im Lattengewirr. 
Foto: Georges Pauly

Es geht um die Familie Krause. Mittelständler mit eigenem Unternehmen irgendwo in der deutschsprachigen Provinz. Vater Egon, Stiefmutter Anni und die Töchter Martha und Helene und dazu Schwiegersohn Thomas. Es und Martha erwarten ihr erstes. Dann taucht aus Thomas Vergangenheit der Kommilitone Alfred Loth auf.

Er ist der Katalysator, denn mit seinem Auftauchen wird deutlich, dass den fünf Elementarteilchen der Higgs-Kleber verloren gegangen ist. Das Familienmolekül Krause ist längst in seine Einzelteile zerfallen.

Diese Version von „Vor Sonnenaufgang“ ist eine Auftragsarbeit für Ewald Palmetshofer. Für das Stadttheater Basel hat der Bühnenautor das gleichnamige Werk von Gerhart Hauptmann in die Jetzt-Zeit gehievt. Es ist aber kein Monument geworden, sondern ein Update mit Lifestyle. Hauptmanns Werk gilt als Beginn des deutschsprachigen Sozialdramas. Er holte damit ein aktuelles Thema in einer aktuellen Sprach auf die Bühne. Das ist Palmetshofer durchaus gelungen.

Aber der Österreicher liefert auch eine Umkehr. Hauptmann machte Privates zum Politischen und damit öffentlich. Bei Palmetshofer wird das Politische wieder zum Privaten und folgt damit dem Geist der Zeit. Es geht ihm nicht um die ökonomische Frage und die Vulgarität des neuen Geldes, sondern um die Orientierungslosigkeit des alten Geldes.

Heiland erwartet

Martha ist hochschwanger und die ganze Familie wartet sehnsüchtig auf die Ankunft des Heilands. Damit wäre die dynastische Frage geklärt und die Idylle vollendet. In der Rolle der Martha ist Gaia Vogel die schwangerste Frau der Welt seit Maria von Nazareth. Das macht schon ihr monströser Bauch deutlich. 

Mit detaillierter Präzision, raumgreifenden Gesten und nervensägender Stimme spielt Vogel all jene Marotten durch, die man schwangeren Frauen gern nachsagt. Dabei lässt sie genug Raum, um zu spekulieren, ob Marthas Drang, sich zum Zentralgestirn im Krause-Universum aufzuspielen, nicht längst schon vorhanden war. Vielleicht durch den frühzeitigen Verlust der eigenen Mutter verursacht.

Bastian Dulisch spielt einen Thomas Hoffmann, wie man aus der Nachbarschaft kennt. Hinter der Maske aus gepflegtem Vollbart, Sneaker und Weste zum blassrosa Hemd steckt ein zutiefst verunsicherter Mensch, dessen Selbstgewissheit nur gespielt ist. Selten schaut der Juniorchef seinem Gegenüber direkt an, meist geht sein Blick an die Decke, die Schultern sind eingezogen und der Rücken meist rund. Manchmal flüstert er mehr, als dass er spricht.

Dafür zelebriert er die sprachlichen Eigenarten seiner Generation bis zum Exzess. Worthülsen werden aneinandergereiht, Sätze abgebrochen und Dinge nur angedeutet. So gelingt es Erich Sidler, an das Werk von Hauptmann anzuknüpfen.

Sprachliche Defizite

Unter demselben sprachlichen Defizit leidet auch Alfred Loth. Seine Aussagen sind als Andeutungen nur für diejenigen verständlich, die in derselben Blase leben oder gelebt haben. Selbst die kräftige Stimme und das breite Kreuz des Protagonisten helfen nicht wirklich weiter. Somit schafft es Gabriel von Berlepsch wunderbar, dass das Publikum auch dieser Gestalt die Sympathie entzieht, je länger er auf der Bühne steht.

Er spielt den Loth als aufrechten und selbstgerechten Lifestyle-Linken, der ohne Wirkung ist, weil er ohne Bindung bleibt. Das hölzerne Raster des Bühnenbilds bietet ihm immer wieder eine Zelle, in der sich einschließt. So eingekapselt kann er nicht verstehen, dass sich die Welt um ihn herum geändert hat. Unter den Elementarteilchen bleibt er der letzte freie Radikale, unfähig eine Verbindung einzugehen.

Alfred, Helene und Thomas, jeder in seiner Zelle.
Foto: Georges Pauly
Einzig der Dialog aus Monologen zwischen Hoffmann und Loth durchbricht die sprachliche Besonderheit dieser Aufführung. Doch auch dieses Gefecht von Phrasen und Fragen bringt keine Antworten und  keine Annäherung, sondern nur die Gewissheit, dass Hoffmann und Loth zwei Seiten derselben Medaille sind. Palmetshofer und Sidler liefern zumindest eine Erklärung für den Aufstieg des Rechtspopulismus in Österreich und in der Schweiz, bei dem Narrative die Fakten verdrängt haben.

Bemüht, überdreht, dominant. Diese und ähnliche Adverbien beschreiben die Figur der Stiefmutter Anni Krause. Rebecca Klingenberg verkörpert sie in dieser Rolle allesamt. Durch ihr vordergründig selbstbewusstes Spiel scheint immer die Gewissheit, dass mehr dahintersteckt, dass tief drin in der Mutter-Maschine eine verletzte Seele steckt. Dennoch lässt auch Klingenberg keinen Raum für Mitleid, denn Anni Krause hat sich bewusst entschieden für ihren Weg.

Familie kann die Hölle sein und den Krauses wird die Erlösung verweigert. Das Kind wird tot geboren. Ob damit die Vollendung der Idylle nur verzögert wird oder dem Clan die Hoffnung auf eine bessere Zukunft genommen wird, darf das Publikum selbst entscheiden. Das siebte Zeichen der Apokalypse ist es nicht, dafür gibt es zu viele Familien wie die Krauses.

Mit „Vor Sonnenaufgang“ präsentiert Erich Sidler eine Inszenierung, die vom Publikum verlangt, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Regisseur und Ensemble gelingt es, vielschichtige und glaubwürdige Figuren vorzustellen und auf Richtungsvorgaben bei der Suche nach Orientierung zu verzichten.






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