Nur im Ansatz gelungen
Hohe Ansprüche: "1984" am Theater für Niedersachsen
Big Data ist Big Brother. Unter diesem Leitsatz inszenierte Reiner Müller am Theater für Niedersachsen die Bühnenfassung von Orwells Klassiker "1984". Doch die Premiere am Sonnabend zeigte, dass die eigenen Ansprüche nur teil umgesetzt werden konnten. Der Aktualitätsanspruch fehlt über weite Strecken.Es bleibt die Darstellung eines totalitären Staatsapparates.Die Anbindung sind die Jetztzeit sind ja da. Das Bühnenbild von Eva Humburg strotz nur so vor Computern und Bildschirmen. Bildschirme als Möbel, als Hocker, als Kletterhilfe, als Lebensinhalt. Die Blaumänner im Hoodie-Look mit modischen Sneakern verweisen auf Jetzt-Eben-Gerade. Das war es dann auch schon erst mal mit der Aktualität. Die Bezüge zu Big Data bleiben vorerst ein Versprechen, das nur zaghaft eingelöst wird.
Total fit und entspannt in die Hass-Woche.
Foto: TfN/Westhoff
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Das ersten Aufeinandertreffen von Winston und Julia ist sogar noch einer überraschenden Lyrik geprägt. Fast möchte man mit dem Liebespaar träumen. Die junge Mutter an der Wäscheleine wird später noch einmal solch lyrische Momente erzeugen
Das ist völlig anders als erwartet. Es gibt dem Zuschauer aber die Zeit, seinen Assoziationen und Vergleichen freien Lauf zu lassen. Somit kann jeder seine Parallelen zwischen Orwells Neusprech und den aktuelle Sprachverzerrungen durch PC und Gute-Laune-Kultur ziehen.
Erst nach der Pause nimmt die Inszenierung an Fahrt auf und das Geschehen beschleunigt sich. Müller und Humburg schaffen es bis dahin, erschreckende, eindringliche Bilder zu produzieren. Da ist die Erschießung vor laufender Kamera. Die Gefangenen mit Tüte auf dem Kopf rufen Erinnerungen an Abu Graib wach. Als das Kind mit dem Finger die Ränge und das Parkett abfährt und das Publikum warn "Big Brother is watching you", da stockt kurz der Atem.
Denunziantentum ist keine Altersfrage und man muss auch vor denen in Acht nehmen, die man bisher für unschuldig und schutzlos hielt. Das System der Bespitzelung kehr somit die Verhältnisse um. Der Kleine und Schwache muss sich nur an den Großen Bruder hängen.
Gut herausgearbeitet sind auch die Gruppenprozesse in der Hass-Woche. Auf der Bühne geschieht dies analog, doch es wird klar, dass ähnliche Prozesse in der digitalen Welt tagtäglich so ablaufen. In der Gruppe ist der Einzelne viel leichter zu manipulieren.
Big Brother is watching you.
Foto: TfN/Westhoff
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Moritz Koch wirkt in der Rolle der Hauptfigur Winston seltsam gehemmt. Seine Gestik ist an diesem Abend steif, gleich gilt für die Sprache. Er ist nicht in der Lage, eine Beziehung zu den anderen Darstellern herzustellen. Das ist wohl Absicht, sollte als diese aber besser gekennzeichnet werden.
Martin Schwartengräber in der Rolle des Mitläufers Parsons wirkt da echter, echter als begeisteter Vater eines Jungdenuzianten und echter als Verratener und als Delinquent. Totalitäre Systeme zereißen auch Banden, die man für natürlich hielt. Der Eltern-Kind-Verhältnis wird umgekehrt.
In der Rolle der Julia bringt Katharina Wilberg einen Hauch Menschlichkeit in das Stück ein. Sie macht glaubhaft, das Julia im Gegensatz zu Winston eher aus Eigeninteresse rebelliert. Den hehren Zielen Winstons setzt sie
TfN #1: Der Spielplan
TfN #2: Das Stück
Orwell #1: Soldat im spanischen Bürgerkrieg
Orwell #2: Das Buch
Orwell #3: Die Bühnenfassung
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