Der Verlust der Menschlichkeit
Warten auf Godot am Deutschen Theater in Göttingen
Wie nähert man sich einen Stück, dass seit mehr als 60 Jahren zu den Allgemeinplätzen des Theaters gehört. Zu dem alles gesagt und alles interpretiert scheint? Man nähert sich so wie Erich Sidler mit seiner Inszenierung von "Warten auf Godot" am Deutschen Theater in Göttingen. Weil es zudem noch starke Schauspieler gab, fiel der Applaus bei der Premiere am Samstag sehr stark aus.Zwei Landstreicher treffen sich in einer Ödnis. Die Nacht zuvor haben beide im Straßengraben verbracht. Gemeinsam warten sie auf Godot, den sich nicht kennen und von dem sie nicht wissen, was sie von ihm wollen. Während Estragon immer wieder zum Aufbruch in das Nirgendwo auffordert, erinnert Wladimir daran, dass man eben mit jenem Godot verabredet sei und dass dieser zu unbestimmter Zeit kommen werde.
Die Wartezeit verbringen die beiden Landstreicher mit Betrachtungen über das Leben im Allgemeinen und ihres im Besonderen. Es wird klar, dass sie schon den Tag vor dem ersten Akt so verbracht haben und dass sie auch den Tag nach dem zweiten Akt so verbringen werden.
Warten? Ok, aber worauf?
Alle Fotos: Georges Pauly/DT
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Erich Sidler hat eine Arbeit abgeliefert, die das Kunststück vollbringt und dem viel Gespielten eine neue und wichtige Perspektive gibt. Sein Wladimir und sein Estragon sind keine Gescheiterten, die auf einer Bank sitzenden sich in Küchenphilosophie üben. Sie werden zu Agierenden.
Damit verschiebt Sidler den Fokus vom Plaudern über die Absurditäten der menschlichen Existenz hin zur zwischenmenschlichen Interaktion. Er zeigt Abhängigkeiten und Machtstrukturen und wie schnell sich Menschen davon korrumpieren lassen. So holt Sidler "Warten auf Godot" aus dem "Werte und Normen"-Unterricht zurück in die aktuelle Berichtstaatung. Das ist aber nur möglich, weil er mit Paul Wenning, Gerd Zinck und Bastian Dulisch drei starke Hauptdarsteller aufbieten kann.
Beklemmend, fordernd und schonungslos zeigt sich das Stück. Die Aufführung findet auf der Vorbühne statt, ganz dicht am Publikum. Weil die oberen Ränge abgehängt sind, wird das Große Haus zu einer Studiobühne. Das steigert die Intensität noch einmal
Das Bühnenbild von Dirk Becker verstärkt den klaustrophobischen Eindruck. Mit Traversen hat Becker einen Käfig um die Vorbühne gezogen. Wladimir, Estragon, Pozzo und Lucky werden Gefangene sein. Im Hintergrund täuscht eine Ideallandschaft mit Allee Behaglichkeit vor. Im Laufe der Aufführung wird sich die Landschaft verdunkeln, im Nebel auflösen, wieder sichtbar werden und zum Schluss bedrohlich nahe rücken. Sie ist ein leicht verständlicher Indikator der inneren Handlung.
Estragon ist bereits auf der Bühne, Wladimir kommt hinzu. In wohlgesetzten Worten unterhalten sie sich über ihre Situation. Es geht um Vergangenheit und verpasste Chancen und auch im gegenwärtige Gewalt. "Warten auf Godot" ist Sprechtheater in Vollendung. Es kommt auf jedes Wort an, auf jede Betonung, alles ist mit Sinn aufgeladen. Das stellt höchste Anforderungen an die Darsteller und Wenning und Zinck erfüllen diese. Sie verstehen es, die Intonationen zu finden, die den Sinn erst aufblühen lässt. Selbst in Bewegung bleibt die Gestik auf ein Minimum beschränkt. Wenning und Zinck verzichten auf Raumgreifendes. Die Aussage ist wichtig, nicht das Gehabe. Das fordert das Publikum, aber es sorgt für Gewinn.
Estragon und Wladimir müssen Pozzo aufrichten.
Foto: Georges Pauly
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Dann dringt die Realität in diese Philosophenidylle ein. Der Auftritt von Pozzo und seinem Knecht ist erschütternd. Bepackt wie ein Esel, mit einer Schlinge um den Hals und an der langen Leine geführt, quert erst Lucky die Bühne. Roman Majewski hat hier wohl die schwierigste Rolle der Inszenierung. Gramgebeugt und geschunden weckt er Mitleid und lässt mit leiden.
Es ist ein Bild, das sich einprägt und das Publikum zum Schweigen bringt. Dann tritt sein Herr auf. Gekleidet in Reitstiefel und in Trenchcoat und mit einer Peitsche in der Hand gleich er einem Kolonialherren.
Bastian Dulisch gibt als Pozzo ein Musterbild an Selbstherrlichkeit und Selbstgefälligkeit ab. Stets in strammer Haltung, die Stimme zwischen Brüllen und süßem Flüstern erliegen Wladimir und Estragon schnell diesem Eroberer und seiner Macht. Die anfängliche Empathie für den gepeinigten Lucky schlägt bald in Häme um. Pozzo führt ihnen sein Knecht vor wie einen Primaten und die beiden Landstreicher beteiligen sich am üblen Spiel. Das ist der Verlust der Menschlichkeit.
Doch Pozzo fällt tief. Im zweiten Akt ist der Erblindete auf Hilfe angewiesen, die Wladimir und Estragon nur widerwillig gewähren. Nun haben sie Macht. Aus den schrägen Helden werden echte Anti-Sympathen. Sidler lässt hier tief in die menschliche Seele blicken und der Blick legt wenig Gutes frei. Da tröstet es nur wenig, dass Wladimir und Estragon damit wenig anfangen können. Godot versetzt sie wieder, das Warten geht in eine neue Runde.
Wenn Warten ein Affront zur rastlosen Gegenwart ist, dann ist diese Inszenierung ein Ausrufezeichen gegen rastlosen Aktionismus auf deutschen Bühnen. Die Kraft liegt in der Reflexion und der Erkenntnis. Ob der nun Godot heißt oder sonst irgendwie. Es bringt nichts, auf den Erlöser zu warten. Man muss schon selbst für das eigene Wohlergehen sorgen. Das st sicherlich retro, aber nötiger denn je.
Material #1: Deutsches Theater Göttingen - Der Spielplan
Material #2: Warten auf Godot - Die Inszenierung
Material #3: Samuel Becket - Der Autor
Material #4: Warten auf Godot - Das Stück
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