Der Spagat ist zu breit

Rodelinda bei den Händel-Festspielen versucht 3 Jahrhundert zu vereinen

Göttingen. Endlich wieder Oper. Mit einem Jahr Verspätung startete am Donnerstag die Geburtstagsfeier zu einhundert Jahre Internationale Händel-Festspiele. Aus historischen Gründen hieß die Festspieloper in diesem Jahr „Rodelinda“. Schließlich begann mit der Dame 1920 in Göttingen die Renaissance der Barockmusik.

Doch die Inszenierung von Dorian Dreher weiß nur bedingt zu begeistern. Trotz exquisiter Zutaten wird kein überragendes Gesamtwerk daraus. Es fehlt in weiten Teilen einfach das Tempo.

Die Sängerinnen und Sänger brillieren an diesem Abend. In diesem Kammerspiel für sechs Stimmen gibt es keine, die abfällt. Ganz im Gegenteil, das Ensemble ist passgenau zusammengestellt und abgestimmt. Diesen Beweis treten Franziska Gottwald als Eduige und Julien Van Mellaerts in der vierten Szene des ersten Akts an. Mit einem leichten Vibrato ergeben Mezzosopran und Bariton eine Kombination, die Lust auf mehr macht.

So beginnt es: Rodelinda am Boden
zerstört. Alles Fotos: Theodora da Silva 
Van Mellaerts gibt einen überragenden Einstand in Göttingen. Der Neuling aus Neuseeland hat die dominante männliche Rolle des Abend und prägt die Inszenierung. Dazu ist sein Bariton klar und sauber und beherrscht auch die schwierigen Stellen, wie er in zwei Soli beweisen kann. Dazu kommt eine enorme Bühnenpräsenz.

Auch Franziska Gottwald zeige sich auf höchstem Niveau. Ihre Koloraturen kommen nicht nur sauber. Sie schafft in diesem Duett aus dem Auf und Ab auch die höchsten Töne mit beeindruckender Dynamik und ohne Verlust. Dabei kann sie auch schauspielerisch überzeugen. Das Gespräch mit Rodelinda zum Auftakt des zweiten Akts ist Zickenkrieg pur.

Natürlich kennt sich Anna Dennis mit Händel aus und es ist ein Vergnügen, sie mal wieder in Göttingen zu sehen und zu hören. Seit dem letzten Auftritt 2019 konnte sie ihre Fähigkeiten und ihre Stimme noch einmal ausbauen. Ihr Arie in der ersten Szene des ersten Akts ist Trauer pur und der Wettstreit mit Garibaldo in der achten Szene des zweiten Akts ist ein Wettstreit auf Augenhöhe. Auf jeden Fall wird deutlich, warum die Oper "Rodelinda" heißt und nicht "Grimoaldo" oder die "Intrigen des Garibaldo". 

Christopher Lowrey ist ein durchaus Göttingen-affiner Counter-Tenor. Zuletzt stand er hier 2018 auf der Bühne. Er ist wohl so etwas wie der Spezialist für die zurückhaltenden Charaktere. Das spielt er hier in der Rolle des Bertarido aus. Dabei kann er auch anders. Dafür muss man ihn aber aus der Reserve locken.

Thomas Cooley ist ein weiterer Neuling auf der Bühne im Deutschen Theater. Der Amerikaner ist der Prototyp eines lyrischen Tenors. Zumindest im ersten Akt verzichtet er auf den großen Auftritt. Dies liegt aber auch in der Rolle des Grimoaldo begründet. Usurpator geht anders. Es scheint, als müsse Colley einen Eroberer wider Willen spielen. Jemanden, der lieber Künstler geworden wäre anstatt Regent.

Erst im zweiten Akt kommt er aus sich heraus. Zwar kann er den Wandel vom Lyriker zum Racheengel glaubhaft verkörpern und ihr Stimme zu geben, das macht aber deutlich welch Potential im ersten Akt ungenutzt blieb.

Die Geschichte dreht sich eigentlich um Eroberung und Rückeroberung und Gewalt. Doch Dreher hat seiner Inszenierung alles Kriegerische genommen. Sein „Rodelinda“ ist zum Kammerspiel geworden. Er hat die Konflikte auf die persönliche Ebene „heruntergebrochen“. Das funktioniert mit solch starken Solisten auch.

Diese Transformation findet sich in der Musik wieder. Laurence Cummings hat bei der Besetzung des Orchesters auf die Blechbläser verzichtet. Die beiden übriggeblieben Hörner machen sich zudem nur selten bemerkbar. Das nimmt der Musik das Pompöse, aber auch die Möglichkeit der Differenzierung. Die ungewohnte Dominanz der Streicher hat die Tendenz zur Gleichförmigkeit. Daran ändert das Duett Traversflöte und Titelheldin wenig.

Die Schwierigkeit dieser Inszenierung liegt darin, dass die „Rodelinda“ für das Publikum historisch aufgeladen ist. Mit ihrer Aufführung ging 1920 von Göttingen ein Impuls in die Welt, der die Neuentdeckung der Alten Musik erst ermöglichte. Um diese zu betonen, versucht Dreher hier einen Spagat, der nicht aufgehen kann. Er präsentiert im 21. Jahrhundert eine Oper aus dem 18. Jahrhundert in der Ästhetik des 20. Jahrhunderts.

Das Bühnenbild präsentiert im ersten Akt einen Salon des lten Bürgertums. Die Garderobe ist ebenfalls „kurz nach Weltkrieg“ und einzig an Garibaldo entdeckt man Referenzen an das Barock. Das mag 1920 Avantgarde gewesen sein, wirkt heute aber nur noch bemüht und altbacken.

So endet es: Nichts bleibt von der bürger-
lichen Idylle. Fotos: Theodoro da Silva
Auch die Symbolik geht nicht jedes Mal auf. Einiges bleibt schwer verständlich, anderes unterbewertet. Das gilt für die Bilder, die im ersten Akt verpackt an die Wände gelehnt sind, im zweiten Akt gehängt sind und dritten Akt den blanken Wänden Platz machen musste. Immerhin stehen sie für die Wandlung Grimoaldos vom Künstler zum Tyrannen.

Bestimmt wird die Rezeption der Händel-Festspiele immer noch von der Konkurrenz „traditionell oder zeitgemäß“. Dreher versucht hier den Brückenschlag zwischen den Puritaner jeglicher Couleur.  Das naturalistische Bühnenbild wird zusehends reduziert bis nur noch kahle Spielfläche übrigbleibt. Doch der Einbruch der Modernen in den gutbürgerlichen Salon am Ende des zweiten Akts kommt zu überraschend und vielleicht auch zu spät.

Wo er Position beziehen sollte, sucht Dreher den Ausgleich, der nicht möglich ist. Man kann es nicht allen recht machen und die Reise durch die Ästhetik "100 Jahre Händel in Göttingen" kommt streckenweiser wie ein Lehrstück über den Wandel des Bühnenfachs daher. Für das Ensemble bleibt aber der tobende Beifall des Publikums.




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