Keiner ist ohne Schuld

Faszinierende Neuinszenierung von Brechts „Dickicht der Städte“ im DT Göttingen

Durchweg gelungen und nix zu meckern. So lässt sich die Katharina Ramsers Inszenierung von „Im Dickicht der Städte“ zusammenfassen. Der Regisseurin, ihrem Team und dem Ensemble des DT Göttingen ist es gelungen, just zum 100. Geburtstag von Brechts Drama das in den Vordergrund zu stellen, was über den Tag hinausweist: Abhängigkeiten und Verstrickung in Schuld.

In Brechts Werk nimmt dieses Drama eine besondere Stellung ein. Es zeigt schon alle Elemente dessen, was Brecht und Piscator 1926 als episches Theater formulieren. Auf jeden Fall sorgte die Welturaufführung 1923 im Residenztheater München für einen ordentlichen Skandal und den Aufstieg des Autors.

Einhundert Jahre später kann man mit Brecht nicht mehr für Skandale sorgen. Aber die Premiere am Deutschen Theater Göttingen zeigt, dass viel Gegenwart in diesem Drama steckt, weil es die ewigen Themen Macht, Familie, Umgang und Menschlichkeit verhandelt. Das legt die Inszenierung von Katharina Ramser auf beeindruckende Weise offen.

Dabei vermeidet sie es, irgendeinen der Akteure als Sympathen zu bevorzugen. Am Ende liegt alles in Schutt und Asche und niemand bleibt ohne Schuld. Alle sind Täter und Opfer zugleich.

Das Stück

Im Jahr 1912 ist Chicago eine Boomtown. Doch die Menschen profitieren sehr unterschiedlich von der wirtschaftlichen Rasanz. Einige werden eher als das sie auf den Zug aufspringen können. Dazu gehören auch George Garga und seine Familie. Er arbeitet für einen Niedriglohn in der Leihbibliothek von C. Maynes. Seine Verlobte Jane Larry verdient ihr Geld als Näherin.

Das Unheil nimmt seinen Lauf: Maynes,
Garga, Jane und einige zwielichtige
Gestalten. 
Foto: Thomas Müller

Zu Beginn betritt der Holzhändler Shlink die Leihbücherei. Er ist in Begleitung dreier Freunde mit fragwürdiger Reputation, Gestalten aus dem Rotlichtmilieu. Shlink möchte Garga dessen Meinung abkaufen. Der ist in seiner Würde verletzt, denn mehr hat ein armer Mann nicht. Garga verweigert sich dem Angebot, egal wie hoch es sein mag. am Ende liegen Shlinks Imperium und Gargas Familie in Scherben.

Aus dem Kaufangebot entsteht ein Kampf um des Kampfes willen. Der Konflikt hat kein Ziel. Es geht nur noch darum, dem Widerpart die eigene Überlegenheit zu demonstrieren. Solches Verhalten hat Eingang gefunden in die Popkultur, die ganze Rap-Szene lebt davon. Das führt uns diese Inszenierung mit der Wrestler-Szene, als sich Shlink und Garga mit „fetten Mics“ vor dem Mund regelkonform „batteln“. Immer wieder hauen sie sich ihre Bekenntnisse um die Ohren.

Es ist offensichtlich: Brechts Sprache liefert eine wunderbare Vorlage. Diese bedeutungsschwangeren Allegorien und Worthülsen zwischen Expressionismus und Surrealismus sind wie gemacht fürs Rappen. Dramaturgin Sarah Becker ist hier ein Geniestreich gelungen.

Man solle sich keine Gedanken über die Sinnhaftigkeit machen, warnt Brecht im Vorwort zu seinem Werk. Katharina Ramser lässt dieses Vorwort auf die Lamellen des Vorhangs projizieren. Dazu präsentiert Vito Rana Szenen aus dem Boxsport.

Zum Glück spielt die Animation von Thomas Bernhard keine Eigenrolle. Sie ist kein Selbstzweck, sondern sie korrespondiert mit dem Geschehen auf der Bühne. Sie leitet das Geschehen ein, bereitet vor und kommentiert. Nicht mehr und nicht weniger. Dass Boxer Rana zum Schluss KO geht, ist das mehr als logisch.

Alles in dieser Aufführung arbeitet darauf hin, zur Kernaussage vorzudringen. Nichts lenkt ab. Das Personal wurde reduziert. Die Requisiten beschränken sich auf das Nötigste. Ein Bett, mal ärmlich, mal luxuriös ausgestattet, verdeutlich das Heim der Familie Garga. Der Wagen mit Büchern steht für die Leihbücherei. Mehr braucht es nicht.

Verständlich ist auch die Kostümsprache. Die unschuldigen Lämmer tragen weiß bis beige. Die bösen Buben und Mädchen Rottöne. Elena Gaus hat aber auch Mischungen vorgesehen. Denn ganz so einfach ist es auch nicht. Das verdeutlicht die Szene, in der der beige Steuermann Pat Manky auf brutalste Weise Maria Garga misshandelt.

Die Bühne

Das Bühnenbild ist einfach phänomenal. Es besteht aus fünf Zügen, behängt mit meterlangen Lamellen. Diese dienen als Projektionsfläche, als Sichtschutz, als Bar, als Höhle, je nach Beleuchtung und nach Höhe. Vor allem wecken die Lamellen Assoziationen an Schlingpflanzen. Ist es ein Dschungel oder ein Wald voller Algen. Das darf jeder Zuschauer selbst entscheiden.

Die Aufführung beginnt mit einem hohen Tempo. Angesichts der Rasanz der Ereignisse droht dem Publikum schon nach 15 Minuten die Erschöpfung. Dann kommt aber das Heim der Gargas ins Spiel. Das Tempo sinkt deutlich und dem Publikum bleibt die nötige Zeit zum Reflektieren und Atem holen.

Hoch die Tassen, noch ist die Partie
offen. 
Foto: Thomas Müller

Das ist ein wunderbares Timing. Überhaupt scheinen die Ereignisse zum Stillstand zu kommen, wenn Andrea Strube als Mutter Mae Garge und Florian Eppinger als ihr Gatte die Bühne betreten. Die Besonnenheit trägt also reichlich Falten. Der Weg zum guten Ende ist versperrt, nachdem sich Mae Garga sich aufhängt.

In der finalen Szene stehen Paul Trempnau als Georg Garga und Christoph Türkay als Shlink vor dem großen Nichts der leeren Bühne. Mehr Verlorenheit war selten. Es gibt kein schützendes Dickicht.

Tempnau hat vielleicht die einfachere Aufgabe. Er verkörpert als George Garga das Update eines Michael Kohlhaas. Besessen vom Gedanken der Rache angesichts der anfänglichen Demütigung bewegt sich Trempnau stimmlich, mimisch und körperlich immer am Limit. Damit gelingt es ihm, die Rücksichtslosigkeit des ehemaligen Bibliothekars bis an die Schmerzgrenze auszufüllen. Solch einen Meneschen möchte man nicht zum Nachbarn haben, auch nicht in der hippen Version des Jungspießers

Christoph Türkay darf seinen Shlink Tiefe geben, sich mal zurücknehmen, verhalten agieren und argumentieren. Gegen den Wüterich Garga wirkt er wie ein bedauernswerter Feingeist. Noch nicht einmal sein Smoking passt in diese Welt voller Tank-Tops und Jogginghosen. 

Türkay macht deutlich, dass Shlink verlieren wird, weil er sein gewohntes Terrain, das Monetäre, verlassen hat und die Emotion Einzug gehalten in sein Leben. Aber Emotionen muss man sich leisten können.

Katharina Ramser und ihr Team haben Brecht nicht reanimiert. Sie zeigen mit dieser Inszenierung, dass „Im Dickicht der Städte“ viel Gegenwart steckt. Das ist eine sehr starke Leistung.



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