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Ganz entspannt in den Untergang




Sidler inszeniert im DT Göttingen den Kirschgarten im Down-Tempo

"Der Kirschgarten" von Anton Tschechow hat in den letzten 120 Jahren immer wieder Konjunktur. Denn irgendwo ist ständig Untergang. DT-Intendant Erich Sidler greift das Offensichtliche auf und überrascht doch. Seine Inszenierung glänzt durch Ruhe und Analyse. Damit verschiebt er den Fokus weg vom Abwenden der Katastrophe hin zu den Ursachen.

Die Botschaft ist eindeutig. Das Unglück ist keine Naturgewalt sondern von Menschenhand gemacht. Entscheidend ist nicht was kommen wird, denn das ist klar. Entscheidend ist die Frage, warum es so kommen musste, warum es alternativlos ist.

Dabei arbeiten Sidler und das DT-Ensemble mit der Laubsäge und nicht mit der Axt. Statt der Versuchung zu erliegen, eine ganze Klasse in Bausch und Bogen zu verurteilen und der Geschichte zu überantworten, liefern sie feine Psychogramme von Menschen, die mit der Situation und mit sich selbst überfordert sind. So bietet die Göttinger Inszenierung genug Raum für Reflexion und Selbstbetrachtung. Das ist in hysterischen Zeiten erfrischend altmodisch.

Ljubow Ranjewskaja umringt von
ihren Liebsten und ihrem Bruder.
Alle Fotos:Klaus Herrmann

Ein früh verstorbener Gatte, der nur Schulden produziert hat, dann ein Liebhaber, der den Rest des Geldes durchgebracht hat und dazu der nicht verarbeitete Tod des Sohns. Die Biografie von Ljubow Andrejewna Ranjewskaja ist alles andere als eine Erfolgsgeschichte, als sie nach fünf Jahren in Frankreich nach Russland zurückkehrt. Einzig ihre Tochter Anjah freut sich darüber, wieder in der Heimat zu sein.

Dort auf dem Gutshof erwarten sie nicht nur die Gespenster der Vergangenheit wie ihr Bruder Leonid, sondern auch jede Menge Schulden und die anstehende Zwangsversteigerung des Familienbesitzes. Der Kaufmann Jermolaj Alexejewitsch Lopachin unterbreitet ihr einen Vorschlag, um zu retten, was noch zu retten ist. Der berühmte Kirschgarten soll parzelliert werden, die Bäume gefällt und Ferienhäuser gebaut werden. Mit dem Erlös ließen sich dann die Reste des einstigen Glanzes retten.

Wenn Gesellschaften oder ihre Subsystem in existenzielle Nöte geraten, dann verfallen sie meist dem Extraktivismus. Anstatt nach Lösungen zu suchen, verfolgen sie mit noch mehr Energie die gewohnten Strategien und Handlungsmuster, die sie erst in die prekäre Lage gebracht haben.

Rebecca Klingenberg in der Rolle der Ljubow Ranjewskaja ist davor gefeit. Sie bleibt zwar der Vergangenheit verhaftet und kann deswegen auf den Vorschlag von Lopachin nicht eingehen, aber ihr geht zugleich jegliche Energie ab, um sich aktiv gegen das scheinbar Unvermeidliche zu stemmen. Damit verbietet sich die Bezeichnung Protagonistin schon.

Seit der Antike wehren sich in den Tragödien die Menschen gegen ihr Schicksal und müssen deswegen sterben. Die Ranjewskaja ist darüber längst hinaus. Etwas in ihr ist schon vor langer Zeit abgestorben. Das macht Klingenberg deutlich.  

Stoisch und mit eiserner Miene schwelgt sie in den Erinnerungen und erzählt von dem, was schon lange nicht mehr ist. Überhaupt scheint Erich Sidler seinen Schauspielern und Schauspielerinnen Bewegungsarmut verordnet zu haben. Es ist eine Inszenierung, die auf große Gesten weitestgehend verzichtet. 

Einzig Paul Trempnau in der Rolle des Jermolaj Lopachin darf sich den Raum nehmen, denn er für die kraftvolle Darstellung des Selfmade-Mannes braucht. Deswegen ist er eine Störenfried. Als Anja in der ersten Szene ihrer Freude über die Rückkehr in die Heimat freien Lauf lässt, entpuppt sie sich schon als Fremdkörper.

Es ist eben ein besonderes Völckchen, dass in seinen Konventionen und seinen Plattitüden erstarrt ist. Der Wunsch nach Befreiung wird artikuliert, aber nicht umgesetzt, das drohende Unglück in Form der Zwangsversteigerung wird ständig beklagt, aber nix dagegen getan. Man weiß nur, das Lopachins Vorschlag inakzeptabel ist

Geist gegen Kapital: Pjotr Trofimow im
Gespräch mit Jermolaj Lopachin.
Alle Fotos:Klaus Herrmann
In seiner Inszenierung greift Sidler Tschechows Impuls für das moderne Theater: Nie spricht miteinander, alle sprechen ständig aneinander vorbei. Die Parallele zur Jetztzeit ist offensichtlich. Seine Akteure sind steif und starr und deswegen gewinnen die wenigen Momente der Berührung eine solche Bedeutung als taktiler Hilferufe 

Das Bühnenbild von Jörg Kiefel verstärkt die klaustrophobische Gesamtlage. Die Innenseite der Blase, der Echokammer ist mit Kirschblüten tapeziert, die dank Projektion ihre Farben wechseln. Es gibt nur zwei Zugänge in diese sehr eigene Welt, die eben auch nur die Eingeweihten kennen. Aber selbst für die Bewohner des Planeten Kirschgarten gibt manchmal keinen Fluchtweg aus der Umklammerung.

Das Mobiliar besteht aus drei groben Holzbänken, kein Inventar lenkt ab von den Personen. Damit liegt der Fokus des Publikums ganz auf dem gesprochenen Wort. Die Selbstoffenbarung der Nicht-Handelnden erfolgt durch den Text.

Abgerundet wird die Inszenierung durch die Musik von Michael Frei.  Der spendiert der sparsamen Inszenierung nur einige wenige Akkorde und Einzeltöne auf Mandoline und Balalaika. Mehr braucht es nicht für diesen besonderen Flair des untergegangenen Russands.




Link eins: Der Kirschgarten auf der Website des DT Göttingen


Link zwei: Eine andere Lösung



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