Wie aus Mitmenschen Mitläufer, Mittäter und Opfer werden
Das Theater ist zurück im DT Göttingen. Mit "Jeder stirbt für sich allein" hat Mathias Spaan eine Inszenierung vorgelegt, die all das hat, was man in den letzten zwei Jahren in Göttingen vermisst hat. Dazu kam bei der Premiere am 6. September ein Daniel Mühe, der alle seine Fähigkeiten abgerufen hat. Besser kann ein zum Spielzeitauftakt nicht sein.
Kein Klamauk mehr wie in der letzten Spielzeit im "Deutschen Haus" sondern reduziert und konzentriert, differenziert und analytisch, so kommt die Aufführung daher und trifft damit genau den nüchternen Stil der Romanvorlage von Hans Fallada. Zu dieser verkopften Sicht mischt sich am Ende das beklemmende Gefühl von Kloss im Hals und Pippi im Auge. Die klare Analytik mischt sich hier mit lebendiger Darstellung von Menschen und das macht Theater aus.
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Daniel Mühe in der Rolle des Kommissar Escherich drückt dieser Aufführung seinen Stempel auf. Alle Fotos DT Göttingen/Thomas Müller |
Das beginnt beim Bühnenbild, das nur Stühle zeigt und in einem Aquarium die zeitgenössische Wohnung der Familie Quangel. Dieser Schaukasten wird im Laufe der Aufführung immer weiter zerlegt und am Ende hat diese Kapsel ihre Schutzfunktion endgültig verloren. So verstärkt die Architektur die dramatische Aussage und das ist gut so.
Das Ehepaar ist im unauffälligen 40-er Jahre Alltagsdress gekleidet. Die Nebenfiguren tragen Kleidung aus der Jetztzeit und zeigen, dass "Jeder stirbt für sich allein" kein Historienstück ist, sondern bis in die Gegenwart reicht.
Von Anfang an ist klar, dass das, was gleich auf der Bühne passieren wird, in anderen Zeiten an anderen Orten in ähnlicher Form passiert ist und passieren wird. Es geht nicht nur um den Horror in der NS-Diktatur. Die Inszenierung von Mathias Spaan weist über den Moment hinaus. Sie ist nicht an eine bestimmte Zeit gebunden und verweist damit auch auf den Umgang mit dem Roman durch die Kulturbürokratie der SBZ und der DDR.
Die Ausgangslage
Vorlage ist der gleichnamige Roman von Hans Fallada aus dem Jahr 1947. In diesem letzten zu Lebzeiten veröffentlichten Werk greift er einen historischen Fall aus den Jahren 1940 bis 1942 auf. Dabei wurde aus dem authentischen Ehepaar Hampel für den Roman und die Tragödie die Familie Quangels. Als deren einziger Sohn 1940 beim Überfall auf Frankreich fällt, werden aus den unauffälligen Mitmenschen Widerstandskämpfer, die illegale Postkarten verteilen und zum Sturz des Regimes aufrufen.
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Die Widerständler von nebenan: Agnes Mann und Marco Matthes als Ehepaar Quangel. Alle Fotos DT Göttingen/Thomas Müller |
Bisher hatten sie die NSDAP gewählt, weil alle anderen das auch gemacht haben. Otto Quangel hatte nach langer Arbeitslosigkeit vom scheinbaren Wirtschaftswunder. Er wird zum Werksmeister in einer Fabrik, die erst Bombenkisten herstellt und später Särge.
Mit ihrer sparsamen und zuweilen sperrigen Darstellung verkörpern Agnes Mann und Marco Matthes dieses Ehepaar, das aus allen Wolken fällt, in eindringlicher Weise. Der Verzicht auf große Gesten, laute Worte und mitreißende Mimik verschärft den Kontrast zum abscheulichen Sicherheitsapparat und dem monströsen System dahinter. Das ist wohl im Sinne Falladas.
Die im Dunkel sieht man nicht
Das Licht ist sparsam und die Bühne in ein Halbdunkel getauscht, dass die Atmosphäre von Ungewissheit und Klaustrophobie verstärkt. Gekontert wird mit harten Lichtkontrasten, wenn die unerbittliche Staatsmacht in Form des Obergruppenführer Prall auftritt. Sei auf der Hut, kleiner Mann. An jeder Ecke lauert ein Spitzel und hier kommt keiner lebend raus, lauten die visuellen Botschaften.
Die Beschallung ist sparsam gesetzt. Spaan verzichtet auf einen Soundtrack zum Grauen. Das ermöglicht es dem Publikum, sich auf den Text zu konzentrieren. Das muss man auch, denn im gesprochenen Wort finden sich die rasanten Wendungen wieder, die die meisten der Figuren auf der Bühne nehmen. Der Text verdeutlicht, wie sehr eine Diktatur die Menschen deformiert. Die sind nämlich schon vor dem Sterben jeder für sich allein und wollen doch nur überleben.
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Aufgeflogen. Alle Fotos DT Göttingen/Thomas Mülle |
Damit geht diese Inszenierung an das Urmenschliche heran. Verkörpert wird in beeindruckender Weise von Nathalie Thiede in der Rolle der Postbotin Eva Kluge. Bevor sie ihre Ruhe findet, geht sie durch mehrere Täler des Jammers und überlebt nur durch Apathie. Man muss alles Menschliche ablegen, um in solch einem System überleben zu können, verdeutlich Thiede durch ihr stoisches Spiel, das an Pathologische grenzt.
Keiner kommt hier lebend raus
Das hektische Spiel von Volker Muthmann macht deutlich, dass seine Figur Enno Kluge das Ende der Aufführung nicht erleben wird. Irgendwie gehört er nicht dazu. Die Bewegungen fahrig, die Stimme gepresst, stets auf der Hut und ständig ist er ein Gehetzter. Da ist es klar, dass er von den Häschern erlegt wird.
Vorsicht schlägt in blanke Furcht, als er sich mit Kommissar Escherich am Kai. Das kann nicht gutgehen. Aber wenn einer die schnellen Wechsel von Mitläufer zu Mittäter zu Opfer wieder zu Täter und dann doch Opfer sehenswert auf die Bühne bringt an diesem Abend, dann it das Daniel Mühe in der Rolle des Kommissar Escherich.
Von Kumpel zu Jäger zu Killer und dann Selbstmörder. In Stimme und Gestik hat Mühe alle Nuancen drauf und erklärt so alle Schichten dieser Figur. Fast macht er den Büttel des Systems zu einem Sympathieträger und das tut der differenzierten Inszenierung tut. Wenn die Umstände es erlauben, dann wird jeder von uns zu einem Escherich.
Der letzte frei Wille besteht darin, diesem System durch Suizid zu entfliehen. Trotz der fatalistischen Botschaft gibt es jede Menge Applaus am Schluss. Auch das Publikum freut sich darüber, dass das Theater zurück ist im DT Göttingen.
Häppchenwissen
Hans Fallada hat den 700 Seiten starken Roman im 1946 in einem Schaffensrausch innerhalb von 4 Wochen geschrieben. Initiator war Johannes Becher als Präsident des des Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands in der Sowjetischen Besatzungszone. Die Kulturbürokratie und der Aufbau-Verlag haben noch vor der Veröffentlichung entscheidend eingegriffen und Passagen geändert und gestrichen. Mehr dazu unter "Jeder stirbt für sich allein" auf wikipedia.
Die ersten Bühnenfassungen entstanden erst nach der Neuauflage des Roman in seiner ursprünglichen Fassung im Jahr 2011, wiederum im Aufbau-Verlag.
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