Ach Michel, wärst du doch in Lönneberga geblieben

Tim Egloff inszeniert Klassiker von Astrid Lindgren als Nummerrevue

Der härteste Kritiker der Welt und sein Vater waren mal wieder bei ihrem liebsten Theaterfestival. Auf dem Spielplan stand das Familienstück "Michel aus Lönneberga" nach den Büchern von Astrid Lindgren. Regisseur Tim Egloff und Dramaturgin haben aus den beschaulichen Geschichten eine grelle Show auf SpongeBob-Niveau gemacht, die vieles andeutet, nichts zu Ende bringt.

Na ja, einiges habe ihm gefallen, sagt der härteste Kritiker der Welt am Ende der Vorstellung. Da wären zum Beispiel die Kuh und die Ente. Mehr dazu später. Aber warum der Michel einen Schnurrbart trage, das leucht ihm nicht ein.

Da liegt halt die Krux, wenn man sich auf einen Stoff einlässt, der zum kollektiven Gedächtnis gehört. Jeder kommt so mit seinen eigenen Vorstellungen, die dann doch meist von den telegenen Bildern geprägt sind. In der Vorlage spielen die Geschichte auf einem Bauernhof Ende des 19. Jahrhunderts irgendwo im südschwedischen Småland, das bei Lindgren die Funktion des verlorenen Paradieses erfüllt. Das Leben verläuft im Rhythmus der Natur und ist ein Gegenentwurf zur urbanen Realität.

Der härteste Kritiker der Welt schaut skeptisch zu.

Alle Fotos: tok
Mit dieser Idylle bricht Egloff. Seine Figuren habe nichts Folkloristisches an, nirgends quietscht ein Akkordeon und Pantinen trägt auch niemand. Optisch wohnt dieser Michel eher in Lüdenscheid als in Lönneberga. Vater Alfred trägt den Angestellten-Chic der 80er Jahre, Knecht Alfred ist in Ballonseide gekleidet und Mutter Alma stolziert im Petticoat durch die Gegend. Die Ausstattung von Friederike Meisel verlagern die Streichparade vom Bauernhof in die Vorstadt. Kuh und Huhn bleiben die einzigen Reminiszenzen an die ländliche Idylle. Das ist ihre einzige Aufgabe in diesem Stück.

Überhaupt Alfred, der erlebt wohl die stärkste Deformation. Bei Lindgren ist der Knecht als personifizierte Güte und gesunder Menschenverstand der Gegenpol zum aufbrausenden Vater Anton. Bei Egloff nutiert er zum Kaspar im bunten Trainingsanzug, der es noch nicht einmal schafft, sich gegen Magd Lina durchzusetzen.

Bauer Anton ist ein Kleinbürger, der nichts so sehr fürchtet wie den Verlust des häuslichen Friedens. Gerät dieser in Gefahr, dann schlägt die Überforderung der eigenen Person in Raserei um. Gunter Heun kommt in dieser Rolle sehr dicht an in Louis de Funes heran.    

Wer SpongeBob mag, der wird auch diese Inszenierung mögen. Aber selbst der härteste Kritiker der Welt versteht nicht alles bei dem grellgelben Comic-Schwamm, dabei ist er mittlerweile doch schon zehn Jahre. Er versteht deswegen nicht alles, weil die SpongeBob-Autoren gelegentlich Anspielungen auf die Fundamente westlicher Pop-Kultur, die ein Zehnjährige gar nicht kennen kann. In diese Falle laufen auch Egloff und Traum. Der häusliche Friede ist ein Wert, dessen satirischen Wert Drei- bis Sechsjährige gar nicht einordnen können, weil Satire gar nicht zum Verhaltensrepertoire dieser Altersgruppe gehört. Satire müssen Kinder erst lernen, wie Geschmack eben auch.

Eltern am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Die Anspielungen auf die aktuelle Milchpreis-Diskussionen in Deutschland fällt in die gleiche Kategorie. Der härteste Kritiker der Welt versteht aber die Anspielung "Ich bin ein Bauer, holt mich hier raus!"

Überhaupt ist die Inszenierung nicht barrierefrei. Wer die Michel-Geschichte nicht kennt, der wird die Beziehungen der Handelnden nicht verstehen und nicht erhanen. Als Beispiel sei nur das Verhältnis zwischen Lina und Alfred genannt. Schwupss, auf einmal sind sie verlobt.

Es werden fünf Sketche gespielt Welche Geschichten nun gespielt werden, dass ist zweitrangig. Hauptsache, es wird am Anfang einer Szene viel gebrüllt und mittendrin und zu Ende auch.

Die fünf Riesen-Buchstaben M I C H E L dienen als Bühnenbild. Das M dient dabei als jener Holzschuppen, in denen Michel seine Strafen absitzen muss. Das überzeugt so weit. Aber warum diese Buchstaben immer wieder umgruppiert werden, das ist dem härtesten aller Kritiker nicht einleuchtend. Das sie mal das Wort MILCH und auch das Wort LEIM bilden, ist wohl dekorativ gemeint. Zum tieferen Verständnis trägt es jedenfalls nicht bei.

Einmal in 75 Minuten dürfen Michel und 

Alfred Luft holen und Männergespräche
 führen.      Alle Fotos: tok
Aber gut, die Altersgruppe "3 bis 6 Jahre" und auch die darüber kann "Michel aus Lönneberga" so nehmen wie die Inszenierung eben ist: Eine Aneinanderreihung von Michels bekanntesten Streichen mit 180 bis 240 Beats per minute. Aber das Tempo, das hat dem härtesten aller Kritiker gefallen. Damit trifft Egloff die Rezeptionsgewohnheiten der Generation U 25 allemal. Deswegen gibt er am Ende drei von fünf Sternen.

Mit Shorts, Basecap und Ukulele wirkt Michel wie die Småland-Ausgabe von Angus Young, dementsprechend steht Moritz Fleiter in der Titelrolle auch 75 Minuten lang unter Strom. Die reflexiven Momente der Michel-Geschichten sind bis auf eine Ausnahme verschwunden. Das Verhältnis zwischen Michel und Alfred wird auf die Klamauk-Ebene reduziert. Ihre Gespräche, die die Geschichten strukturieren, weil sie ein Gegensatz zum Tohuwabohu sind, entfallen bis auf die Szene, als Alfred und Michel gemeinsam im Schuppen eingesperrt sind. Damit wird aber auch der Konflikt zum Vater auf die Klamauk-Ebene. Das ist wirkt wie eine Operation am offenen Herzen.

2016 kann man eine Geschichte nicht gemächlich erzählen wie 1963, das ist klar, und die Bühne vor der Stiftskirche ist sicherlich keine Ausstellungsfläche für Trachten aus Småland. Aber es scheint, als hätten Egloff und Traum vergessen, nach der notwendigen Dekonstruktion eines Klassikers die notwendige Rekonstruktion einzuläuten. Gut, der härteste aller Kritiker würde das anders ausdrücken, aber überzeugt war er von dieser Inszenierung nur bedingt.


Spielplan der Gandersheimer Domfestspiele


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