Mittwoch, 3. Juli 2019

Das Schicksal läutet mit viel Musik

Der Glöckner von Notre Dame bei den Domfestspielen

Ist dass noch ein Drama oder schon ein Musical? Auf jeden Fall inszeniert Achim Lenz den "Glöckner von Notre Dame" mit viel Musik. Das Werk nach dem Roman von Victor Hugo wird zu einem Lehrstück über die Angst vor dem Anders sein. Dabei liegen die Überraschungen in den Details und den Nebenrollen.

Trotz der musikalischen Leichtigkeit schafft es Achim Lenz seiner Inszenierung Tiefe zu verleihen. Es um die Macht über Andere, um Mitgefühl, um Erwartungen und um die Schwierigkeit, die Andersartigkeit des Gegenübers zu ertragen.

Wie eine Gänseschar zieht eine Gruppe Touristen vor das Domportal. Fremdenführer Jan Kämmerer rattert die Daten zu Notre Dame runter, er zieht sein Programm durch. Die Gruppe interessiert ihn nicht. Aber immer wieder scheucht er die Gästeschar vor sich her. Er hat sie im Griff, die Masse lässt sich lenken. Damit gelingt Kämmerer ein unterhaltsamer Auftakt. Später wird er als Poet Pierre diese Leistung nicht halten können.

Quasi läutet und Frollo schau zu.
Alle Fotos: Rudolf A. Hillebrecht
 Aber auch Fehmi Göklü kann hier erste Ausrufzeichen setzen und das liegt nicht nur an den Tennissocken in Sandalen. In der Rolle des Clopin wird er zudem eine der bestimmenden Figuren der Aufführung. Seine Stimme ist nicht nur fest, sondern auch wandlungsfähig und immer angepasst. Vom Flüstern bis zum Proklamieren hat alles im Repertoire. Seine gesten sind raumgreifend und die Bühne das passende Parkett für den König der Bettler und Gaukler.

Dann kommt der Zeitsprung ins 15. Jahrhundert. Die Klerikalen ziehen ein und vertreiben die Touristen Marco Luca Castelli geht als Erzdiakon Claude Frollo wie ein Speerspitze voran. Dieses Motive der Waffe, die sich auch gegen das Publikum richtet, taucht später immer wieder auf.

Castelli bleibt nichts anderes übrig, als grimmig zu schauen. Die Narren übernehmend die Regenschaft. Sie rollen eine weiter Bühne herein, auf der eine Schauspieler vor sich her dilettiert. Später werden weitere Element auf die Bühne. alle haben unterschiedliche Funktionen. Aber in der Gesamtheit ergeben sie am Ende die Dachkonstruktion der Kathedrale, die wiederum wie ein Labyrinth wirkt. Es braucht also etwas, bis das Bühnenbild von Sandra Becker seine Wirkung entfalten kann. Aber dann ist es umso schöner.

Zwischen die Narren tritt Esmeralda. Felicitas Heyerick schreitet geradezu über die Bühne und ist das Selbstbewusstsein in Person. Ihr Wortgefecht mit Fehmi Göklü als Clopin wird der erste Höhepunkt der Aufführung.

Achim Lenz hat die Zahl der Akteure auf ein Minimum reduziert, aber einen neuen Protagonisten hat er hinzugefügt: Das Volk als eigenständigen Akteur. Manchmal bildet das Ensemble einen Chor, der in der griechischen Tradition Unheil verkündet. Mal agiert es als Antreiber, wenn das Ensemble als spitzes Dreieck an der Rampe aufgebaut das Publikum bedroht.

Die Kreuzigung der Andersartigen: Esmeralda auf der
Folterbank.  Alle Fotos: Rudolf A. Hillebrecht
So wird deutlich, dass "Wir und die anderen" eins der Themen ist, die sich durch die gesamte Inszenierung ziehen. Das andere Thema ist "Macht und Abhängigkeit". Während Esmeralda immer wieder ihre Selbstbestimmung beton und damit den Argwohn der Mitmenschen provoziert, ist das Verhältnis Quasimodo von Unterwürfigkeit geprägt. Deswegen wirkt der Bruch zwischen Glöckner und Erzdiakon umso tiefer. Die Rache des Krüppels wird zum Vatermord, zu Loslösung vom Scheinheiligen.

Natürlich kommt auch die Szene, auf die alle Vorbelasteten gewartet haben: Das große Geläut. Das hat Lenz in beeindruckender Weise gelöst. Die Vertikalartisten Sabina Roanczak und Jakub Urbanski fliegen im Glockenkostüm vogelgleich über die Fassade der Stiftskirche. Selten hat man so leichtfüßiges Geläut gesehen.

Damit erweitert Lenz das Spiel in die fünfte Dimension. Das hat im letzten Jahr mit dem "Jedermann" schon funktioniert und auch in diesem Jahr wirkt es so gut, dass der Tanz unter den Türmen gleich noch zweimal vollführt wird.

Das Drama mit Musik endet als Tragödie. Zum Schluss sind alle tot. Damit findet das Stück einen logischen Schluss.




Material #1: Die Gandersheimer Domfestspiele 2019 - Der Spielplan
Material #2: Der Glöckner von Notre Dame - Die Inszenierung

Material #3: Der Glöckner von Notre Dame - Der Roman

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