Das Herz vom Bier umspült
Jacques-Brel-Abend mit Dirk Schäfer eröffnet die Domfestspiele
Die ersten Worte blieben am Eröffnungsabend der 56.Gandersheimer Domfestspiele noch Intendant Christian Doll überlassen. Dann beherrschten Dirk Schäfer und Band die Bühne und das Publikum vor der Stiftskirche. Im Programm "Doch davon nicht genug" haben der Schauspieler und seine Mitmusiker die wichtigsten, schönsten und bekanntesten Chanson von Jacques Brel zusammengetragen. Am Freitagabend zeigte das Quartett, dass die Musikgattung Chanson nichts von ihrem Reiz und ihrer Dramatik eingebüßt hat.
Ferdinand von Seebach (Porsaune), Karsten Schnack (Akkordeon) und Dirk Schäfer starten die Reise durch das Brel-Universum. Alle Fotos: tok |
Der Sänger und sein Ensemble verzichten auf eine Einleitung,auch im Laufe des ganzen Abends gibt es kein moderierendes Wort. Dieser Verzicht ermöglicht einen eigenen unverbauten Blick auf die Chansons. Das Publikum darf sich das Material eigenköpfig erarbeiten, die Interpretation bleibt jedem selbst überlassen. Nur gelegentlich zitiert Dirk Schäfer Texte ohne musikalische Begleitung, schiebt sie als Erläuterungen voraus und hinterher.
Hier wird das Einmalige an Brel deutlich, seine ganz besondere Poesie. Während Zeitgenossen wie Charles Aznavour auf eine direkte Ansprache setzen und setzen verzauberte Brel den Alltag mit einer eigenen, minimalistischen Lyrik. Es sind Bilder, mit denen er seine Lieder malt, Bilder aus guten wie aus schlechten Zeiten. Brels Chansons handeln letztendlich von der Ehe, die wir alle mit dem Leben geschlossen haben und von den Höhen und Tiefen in dieser Beziehung.
Zwei Männer und ein Instrument:
Wolfram Nehrlich und Dirk Schäfer.
|
Weil die Chansons vom Leben erzählen, sind sie mit das Leben. Mal schnell und überdreht, mal langsam und traurig und doch immer mit einer ordentlichen Portion Trotz vorgetragen. Das Leben geht ja weiter und es hat noch so viele schöne Augenblicke zu bieten. Da sind die holprigen Rendezvous mit Madeleine, da ist die Freude nach Mathildes Rückkehr und da sind die Missverständnisse in einer Beziehung, wenn beide sich nicht auf ein gemeinsames Ziel, Ulm oder Hamburg oder Marseille einigen können.
Dirk Schäfer hat Brels Texte selbst ins Deutsche und in die Jetztzeit übertragen. Das tut ihnen gut, den Texten und den Zuhörer. Der Abend ist keine musikalische Leichenschau, nicht das Bewahren der Asche, sondern das Weitertragen der Flamme. Nur wer selbst brennt, der kann auch andere anstecken. Dies gelingt dem Quartett an diesem Abend nicht nur einmal, weil sie einen ungeschönten Blick auf das Werk des Belgiers haben.
Jacques Brel gilt als der Schlusspunkt des klassischen Chansons. Sein Werk bezieht die Einmaligkeit aus der zerbrechlichen Poesie seiner Text und der dramatischen Vortragsweise des Sängers und Komponisten, die heutzutage manchen kitschig anmuten mag. Da schmolzen in den sechziger Jahren auch schon einmal eine Menge Streicher im Hintergrund dahin. Dirk Schäfer und sein Ensemble setzen dem sparsame und deswegen eindringliche Arrangement entgegen. Der Sängern begibt sich in den Dialog mit dem Klavier oder nur mit Akkordeon. Wenn einzelne Töne von der Bühne heruntertropfen, dann ist man zum Zuhören gezwungen.
Intensität verdeutlichte Jacques Brel mit einer schmachtende Vortragsweise. Dirk Schäfer ersetzt sie durch Dynamik, durch körperliches Engagement, und steht an diesem Abend selten still. Er erarbeitet sich die Lieder schweißtreibend. Da stolpern die betrunkenen Matrosen durch Amsterdam, auf der Suche nach Prostituierten und nach Trost. Schließlich kann morgen schon alles vorbei sei. Das ist keine Seefahrerromantik, sondern hier schreien sich Entwurzelte und Heimatlose durch die Nacht. Der Topos ist aktueller denn je und das Engagement des Sängers und Schauspielers ist nicht aufgesetzt, sondern logisch.
Aber dann sind da immer wieder diese ruhige Momente: Ein Mann, ein Stuhl, ein Lied. Stille legt sich über die Bühne, über das Publikum, wohl über die gesamte Stadt, selbst die Vögel scheinen zu schweigen als Dirk Schäfer "Ne me quitte pas" vorträgt, die Hymne der Verlassenen, ganz konzentriert. Erst piepst das Akkordeon und wird vom Klavier abgelöst, der Kontrabass sich zurück und zum Schluss piepst wieder das Akkordeon. Das ist Traurigkeit, Angst vor der Einsamkeit pur und wirkt sofort und geht bis ins Mark.
Dirk Schäfer singt und schreit und engagiert sich sehr stark in dieser Aufführung. |
Chanson ist der Soundtrack zum Leben und manchmal ist ein Chanson eine ganze Oper zusammengeschmolzen auf 3 Minuten 45. Dann erzählt die Geschichte von den Heranwachsenden, die allabendlich, die Herzen vom Bier umspült, sich im Suff zu Höheren berufen fühlen, die heimischen Honoratioren unflätig beschimpfen und die dreißig Jahre später, selbst Honoratioren geworden, allabendlich auf dem Heimweg unflätig beschimpft werden von Heranwachsenden, die sich zu Höherem berufen fühlen und deren Herzen vom Bier umspült sind. Der Selbsterkennungswert steigt nicht nur an dieser Stelle auf 105 Prozent.
Während sich viele Vertreter des neuen Chansons wie Benjamin Biolay oder Zaz das Genre durch Einflüsse aus Rock, Pop, Reggae und Weltmusik erweitern und beleben, konzentrieren sich Dirk Schäfer und seine Band auf die Wurzeln und den Kern. Revitalisierung durch Reduktion und aktive Retrospektive lautet das Konzept. Diese Auslegung überzeugt nicht nur einhundert Mal auf kleinen Bühnen, sondern beim 101-mal auch auf der großen Bühne in Bad Gandersheim.
Der Spielplan in Bad Gandersheim
Die Biografie von Dirk Schäfer
Das Konzert 2015
Kommentare
Kommentar veröffentlichen