Kampf der Kulturen

Mark Zurmühle verabschiedet sich mit "Ay" Ay" Carmencita!"

Einst diente die Novelle Carmen als Vorlage für die weltberühmte Oper von Georges Bizet. Für seinen Abschied als Intendant interpretierte Mark Zurmühle das Werk von Prosper Merimée neu als ein Kampf der Kulturen, der Lebensentwürfe, die nicht zueinander passen können. Bei der Premiere seiner szenischen Fantasie am 19. Juni in der Lokhalle konnte die Mischung aus Musik, Schauspiel und Lesung überzeugen.
Mit dieser Bühne hat Eleonore Bircher einen großartigen Entwurf umgesetzt. Lange Tischreihe mit weißen Decken umrunden ein großes Geviert, dahinter stehen die kleinen Tribünen und zusammen bilden sie eine Stierkampfarena. Im Vorspiel streute Andreas Jeßing Sand in das Geviert, später werden die Opfer wie tote Stiere vom Schauplatz geschliffen und damit wird die Assoziationskette rund um den spanischen Kampf der Kulturen wieder aufgegriffen und verstärkt. Die offen Konstruktion in der Lokhalle sorgt dafür, dass das Publikum wie beim Stierkampf ein Teil des tödlichen Treibens ist. Die Nähe erlaubt keine Distanz und steigert die Spannung.
Das Licht geht aus und das Spiel beginnt mit einer einzelnen Frauenstimme, die zum Chor ergänzt wird. Carmen ist im kollektiven Gedächtnis mit Musik verbunden. Der Einstieg mit Mystik-Effekt vollbringt das Kunststück, dass trotz der technischen Kulisse der Lokhalle gleich die Atmosphäre eines erträumten Spaniens an der Schwelle zur Neuzeit geweckt wird. Das Publikum tauch so ein in eine fremde, vergangen Welt.

Carmen geht nicht ohne Musik

Carmen geht nicht ohne Musik, denn Carmen bedeutet für den Lateiner auch Lied, Liebesgesang, Gedicht oder Orakel. Doch die operettenhaften Gewalt spätromantischer Musik hat Albrecht Ziepert durch intime Töne ersetzt, die das persönliche Drama von Don José noch einmal verstärken. Musiker und Darsteller bilden eine Einheit an diesem Arbeit. In dieser szenischen Fantasie ist das eine  ohne das andere nicht denkbar. Der Mix aus Roma-Musik und Weltmusik greift nur zweimal Motive von Bizet auf, bei denen das Publikum zwanghaft mitsummt. Diese akustische Dominanz zwingt zum Nachdenken über Klischees.
Prosper und sein Fremdenführer
treffen einen Fremden.  Fotos: DT 
Untermalt wird das Treiben in der Arena von Klängen, die wie Flamenco klingen oder klingen sollen und es wirdviel mit den hacken gestampft an diesen Abend. Stierkampf und Flamenco sind Geschwister im Geiste, denn Liebe und Tod sind ihre gemeinsamen Themen. Der Kampf der Kulturen, die Auseinandersetzung um Wertvorstellungen und Lebensentwürfe erhält eine deutliche archaische Komponente. eitel ist alles angesichts des Todes. Schnell wird deutlich: stampft ein Akteur einen Rhythmus mit südspanischem Akzent, dann wird es gleich dramatisch, dann steht eine Entscheidung an. Aber es  wird ein bis zweimal  zu viel gestampft an diesem Abend, so dass nämlich nicht klar ist, ob es um den Franzosen in Andalusien oder um Asterix in Spanien geht.
In der Novelle Carmen verschmelzen die Geschichten um den Räuber Don José Maria Zempranito und die nicht standesgemäße Ehe des Grafen von Montijo miteinander. Der Forschungsreisende Prosper trifft in der Ödnis Andalusiens auf den gesuchten Mörder Don José Lizarrabengoa. Das ist das erste Aufeinandertreffen zweier unterschiedlicher Kulturen. Als der Franzose dem Verbrecher die Flucht ermöglicht, fasst Don José Vertrauen zum Fremden. Ein halbes Jahr später sieht Prosper den Mörder als Gefangenen wieder. In der Todeszelle berichtet der Verurteilte dem Franzosen von seinem Weg auf der schiefen Ebene seines Lebens. Seine baskische Heimat musste José Lizarrabengoa verlassen, nachdem er einen anderen Mann im Wettkampf getötet hatte. Als Soldat im Granada trifft auf die Zigeunerin Carmen und wird in ihren Bann gezogen. Nachdem er vor Eifersucht einen Offizier getötet hat, lebt er unter den Schmugglern und Zigeunern. Damit ist der Weg zurück ins bürgerliche Leben verschüttet.

Moralische Welten treffen aufeinander

Zurmühles Carmen ist eine freie Radikale. Ihre Herkunft, ihre Abstammung ist unbekannt, verwurzelt ist sie nur in ihrer Schmugglerbande und das auch nur auf der Basis der Freiwilligkeit. Damit steht ihr Lebensentwurf aus dem frühen 19. Jahrhundert Pate für die Hipster der Gegenwart. Ihre Vorstellung von Unabhängigkeit kostet sie bis zum bitteren Ende aus und Bündnisse werden nur auf Zeit geschlossen.
Don José bleibt hingegen, trotz aller Begeisterungen für den anderen Lebensentwurf, trotz der Verstöße gegen Recht und Gesetz und das fünfte Gebot, seinen bürgerlichen Vorstellungen verhaftet. Er will Carmen besitzen und ermordet deswegen ihren Mann. Er will Carmen besitzen und tötet alle, die diesem Anspruch im Wege stehen könnten. Gelegentlich überfällt ihn die Einsicht, dass die Rückkehr in bürgerliche Existenz besser für alle wäre, aber es fehlt ihm die Kraft zum Verzicht auf Carmen.
Carmen und Don José sind in Zurmühle Interpretation kein unglückliches, kein tragisches Paar, sondern sie sind Antagonisten in einer Auseinandersetzung über das Verhältnis des Einzelnen zu seinen Mitmenschen. Letztendlich mussder kleinbürgerlichen Moral Genüge getan werden, Carmen muss sterben und der Kampf der Kulturen endet tödlich. Mark Zurmühle entlockt Mérimées Novelle eine Aussage von tragender Aktualität.

Die Rollen

Alle Rolle sind mehrfach besetzt, aber alle Darsteller übernehmen mehrere Rolle. Andreas jeßing ist mal don José, mal der Erzähler, mal ein Mönch. Carmen wird von Gaby Dey, Angelika Fornell, Marie-Kristien Heger und von Anja Schreiber dargestellt. die Hauptfigur mal als Femme fatale, mal als alternde Wahrsagerin, mal als Girlie im Che-Guevarra-Look legt viele Schichten einer mehrdimensionalen Figur frei und bietet gleichzeitig Identifikationsmöglichkeiten und Interpretationsraum. Die Mehrfach-Besetzung verleiht dem Werk auch zeitliche Tiefe. Wenn Carmen in unterschiedlichen Reifegraden am Publikum vorbeizieht, löst dies Gedankenspiele aus unter der Überschrift "was wäre eigentlich, wenn ...". Damit bleibt dem Zuschauer Raum für eigenen Interpretationen und zum Durchatmen in dieser temporeichen Inszenierung und trägt einen deutlichen Teil zum wirken diese Stücks bei. Doch weil Carmen den vorbestimmten Tod findet, verbleiben diese Gedankengänge im "Hätte, hätte, Fahrradkette"-Modus.
Dancarro (mitte) ist der König der Schmuggler.
Foto: DT
Mal ist Andreas Jeßing Don José, mal ist es Benjamin Krüger. Der erste darf den abgeklärten Protagonisten spielen, der andere den Verzweifelten. Dass gibt beiden die Möglichkeit, sich auf eine Seite des gescheiterten Helden zu konzentrieren, welche beide aber unterschiedlich nutzen. Krüger wirkt gelegentlich, als würden ihn die Ereignisse wie eine Lawine überrollen. Er ist zu sehr Getriebener, zu wenig Treibender.
Michael Meichßner hat die rolle des erzählenden Forscher Prosper und des Schmugglerkönigs Dancarro. Beide rollen gelingen ihm unterschiedlich gut. Der Franzose in der spanischen Fremde wirkt an einigen stellen überdreht und am Rande der karikatur. den Bendenchef spielt er hingegen souverän und locker.
Doch heimlicher Chef in der Stierkampfarena ist an diesem Abend Karl Miller. Alle sieben Rollen bewältigt er gekonnt, mit gebotener Ernsthaftigkeit und ohne Brüche. Häufig stellt er den ruhenden Pol in einer Gesellschaft und stellt häufig den ruhenden Pol einer eigenartige Gesellschaft in Abrutschgefahr dar.
Mit "Ay! Ay! Carmencita" entlockt Mark Zurmühle einem Werk, den viele für sattsam bekannt halten, ganz neue Ansichten. Mit der Verwandlung einer vermeintlichen Liebesgeschichte in einer Auseinandersetzung über Besitzen, Bestimmen und Frei sein transzendiert er den Carmen-Stoff nicht nur zu einer moralischen Fragen, er aktualisiert ihn gleichzeitig. Der moralische Zeigefinger bleibt aber in der Hosentaschen. Fragen und Antworten müssen sich die Zuschauer selbst stelle und geben, diese Auffüjhrung gibt dazu Anregungen. Das ist gut so und darin liegt der Wert dieser Inszenierung.
Die nächsten Vorstellungen sind am 24. und 29. Juni und am 6. und 7. Juli. weitere Aufführungen folgen.

Die Novelle bei wikipedia
Das Stück
Der Spielplan im DT

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