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Zwei gelungene Statements

Chaix und Heckmann zeigen tänzerische Interpretationen barocker Musik


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Wer glaubt, zum Thema Barock sei schon alles gesagt, gespielt und getanzt, der irrt gewaltig. Mit dem Ballett-Doppelabend "Die vier Jahreszeiten" geben Martin Chaix und Jochen Heckmann am Theater Nordhausen zwei sehr unterschiedliche Statements ab, die zusammen die große Bandbreite des aktuelles Tanztheaters zeigen. Nicht nur deswegen gab es zur Premiere am 13. Februar standig ovations.
Berührend:  Amelie Lambrichts tanzt ein Solo mit
Smartphone. Alle Fotos: Tillmann Graner
Das Problem ist, dass die Vier Jahreszeiten zum kollektiven Gedächtnis der Menschheit gehören. Jeder bringt seine Bilder und seine Erwartungen mit. Für Richard Tognetti ist es wohl eins der schönsten Konzerte der Welt. Vivaldis Werk sei voller Inspirationen und Innovationen. Aber sei auch ein altes Schlachtross, dass man zum Schnauben, Hüpfen, Springen und Pirouettendrehen bringen könne, sagt der Geiger, der gerade mit dem Australian Chamber Orchestra eine Neueinspielung vorgelegt hat.
Doch halt, stopp, die Ankündigung Ballettabend weckt in diesem Zusammenhang vielleicht die falschen Erwartungen. Es gibt keine Tänzer, die in barocken Spitzen, Rüschen und im Tutu Arabesquen drehen. Doch halt, stopp, auch der Titel "Die vier Jahreszeiten" begrenzt die musikalischen Erwartungen auf dreizehn Sätze Musik aus dem 17. Jahrhundert. Es gibt an diesem Abend weitaus mehr. Aber der Reihe nach. Für den ersten Teil des Abends zeichnet Martin Chaix verantwortlich.

Transkriptionen

Er stellt seine Interpretationen unter den Titel "Transkriptionen" , Übertragungen. Sein Anspruch ist es, die widersprüchlichen Elemente der Epoche Barock in die Jetzt-Zeit zu transformieren, dass 17. und das 21. Jahrhundert miteinander zu verbinden. Dies gelingt ihm und dem Ensemble auf grandiose Weise.
Wichtiges Element dieser Transkription ist das reduzierte Bühnenbild von Ronald Winter. Es ermöglicht die Konzentration auf die Leistungen der 11 Tänzerinnen und Tänzer. Der einzige Schmuck ist 180 Glasperlen, die von der Decke hängen. Sind es Tautropfen, Tränen oder ist es Sternstaub? Auf jeden Fall erzeugen sie Lichtreflexe, die die karge Bühne verzaubern.
Die Kostüme sind Jahrhunderte weit von barocker Pracht entfernt und stehen für klassische Moderne. Aber wo ist hier nun der barocke Anteil? Es sind die Tänzerinnen und Tänzer, es sind ihre raumgreifenden Bewegungen, es ist der Schwung, mit denen sie den gesamten Bühnenraum durchschreiten.
Haltepunkte finden und auflösen. Foto: Graner
Eine Tänzerin steht allein in diesen riesigen und dunklen Raum. Das Cembalo spielt eine recht raue Version von Bachs Konzert in g-Moll nach Antonio Vivaldi, eine Transkription eben. Zwei Tänzerinnen kommen hinzu. Sie laufen miteinander und gegeneinander , sie drehen sich miteinander und gegeneinander. In der Folge zeichnen sie mit dem Mittel des Tanzes Bilder und Geschichten von Einsamkeit, vom Finden, von Gemeinsamkeit und vom Trennen. Dieses Thema taucht immer wieder auf und durchzieht den ersten Teil des Abends wie ein roten Fäden. Das Publikum bedankt sich immer wieder mit Szenen-Applaus. Es weiß, dass es Zeuge eine außergewöhnlichen Inszenierung ist. Chaix entwickelt das weiter, was er 2011 mit "We were right" begonnen hat.
Die Einsamkeit bekommt eine Gestalt, als Amelie Lambrichts zu den Klängen des Konzerts in d-Moll ein Solo mit Smartphone tanzt. Am Ende schließt sich der Kreis. Eine Tänzerin steht allein auf der großen dunklen Bühne und das Loh Orchester spielt Bachs Passacaglia mit aller Mächtigkeit.
Nicht klassisch, nicht barock. Was tanzt das Ensemble sonst. Es erweist der klassischen Moderne und setzt auf Contact Improvisation. Paare finden sich, treten in Kontakt, einigen sich auf Drehpunkte und lösen sich zu Schluss wieder, Gruppen finden sich, bauen Pyramiden aus Körper und lösen sich letztendlich wieder auf.

Vier Jahreszeiten recomposed

Der  Reduktion von Martin Chaix setzt Jochen Heckmann Opulenz entgegen. Nun sind die Spitzenbesätze da, das Blattgold, die mächtigen Frisuren und auch das Tutu. Der zweite Teil des Abends ist kein Stilbruch sondern eine andere Aussage zum Verhältnis von Tradition und Gegenwart. Die Musik bilden die Interpretationen von Hans Richter zu Vivaldis Werk. Eine Mischung aus Streichern und sphärischen Klängen, die an ein Frühwerk von Pink Floyd oder an Mike Oldfields erinnert.
Der zweite Teil des Abends ist vor allem eine
Gruppenleistung. Foto: Graner
Im Bühnenbild durchbricht Weiß die Dominanz des Schwarz. Drei Wände aus groben Stoff und fünf Seile bilden eine Kuppel. Ist das ein Zirkuszelt, eine Jurte oder einfach ein Nest.
Dem einsamem Individuum aus dem ersten Teil setzt Heckmann die Interaktion der Gruppe entgegen. Im zweiten Teil des Abends agiert die Ballettkompanie größtenteils als Ensemble und als Gruppe.
Der Titel "Spring 0" weckt sie aus dem Winterschlaf, das Leben beginnt, sie legen das Winterfell ab. In der Erzählstruktur hält sich Heckmann mit seiner Choreographie an die Vorgaben Vivaldis. Seine Interpretationen folgen dem Lauf der Jahreszeiten. Dem vorsichtigen Hineintasten in den Zyklus des Lebens folgt Beschleunigung und Tanz. Es folgt Liebe und Hoffen und Bedrohung.
Ist es die Liebe, die blind macht? 
Denn im Herbst taucht der Tod auf. Er sucht sich seine Opfer und findet sie. Das Duett von Amelie Lambrichts in Kostüm des schwarzen Vogel und Fem Rosa Has gehört zu den eindrucksvollen Momenten an diesem Abend. Doch der Tod bleibt nicht der Sieger, denn das Leben kehrt zurück zum Kreislauf aus Schlaf und Erwachen.
Von der klassischen Moderne aus macht Jochen Heckmann einen Rückgriff auf die Klassik. Seine Choreographie hat weit mehr Hebefiguren, mehr Zitate aus der Geschichte des Tanztheaters als die Transkriptionen von Chaix. Sein Statement zur Verbindung von Barock und Jetzt-Zeit ist keine Übertragung von Kernpunkten in eine neue Zeit, sondern eine Verbindung von Elementen in einem neuen Ausdruck.
Damit bietet der Doppelabend  dem Publikum zwei gleichwertige Variationen des aktuellen Tanztheater. Zum gleichen Thema gibt es zwei verschiedene Antworten und das ist gut so. Es bleibt jedem überlassen, sich die passende Antwort auszusuchen oder beide nebeneinander stehen zu lassen.

Die nächsten Aufführungen im Großen Haus sind am 18. Februar, am 1. und 6. März.

Zur Person Martin Chaix
Zur Person Jochen Heckmann

Der Spielplan in Nordhausen



Die Tonversion bei soundcloud





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