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Erwartungen erfüllt, Chance verpasst

"Anatevka" bei den Schlossfestspielen hat viel Broadway-Flair

Opulente Kostüme, kräftige Stimmen und berauschende Tanzszenen. Bei ihrer Inszenierung von "Anatevka" greifen Jutta Ebnother und Toni Burckhardt in die Vollen. Bevor sie sich nach Schwerin verabschieden, zeigen die Choreografin und der Regisseur noch einmal, was den besonderen Zauber des Genre Musical ausmacht. Dabei können sie vor allem auf eine überragende Leistung von Thomas Bayer in der Rolle des Milchmann Tevje bauen. Bei der Premiere am Freitag war das Publikum berauscht und begeistert.

Schon die Anfangsszene macht deutlich: Das Thema des Abends ist die Tradition in vielfältiger Form. Sie gibt den Menschen im Ort Anatevka, das irgendwo in der Ukraine liegt, den Lebensrhythmus, die Weltsicht und die Verhaltensregeln vor. Ganz in der Tradition des Broadway-Musicals macht Burckhard dies mit einer Massenszene, mit viel Tanz und überbordender Musik eines vollständigen Orchesters.

Die Anfangsszene macht noch etwas anders deutlich: Dies ist der Abend von Thomas Bayer. Er beherrscht die Szenerie durch seine Präsenz, seine stabile Gestik und seinen sonoren Tenor. Kräftig aber klar absolviert er sein erstes Solo und macht damit die Vorgabe für den ganzen Abend.  Er darf seine Nachbarn und ihre Marotten vorstellen und schon ist das Publikum im Bilde und mitten drin.

Tevje spricht gern und ausgiebig mit seinem Gott.
Alle Fotos:; Tilmann Graner
Gottesfürchtigkeit und trotzdem ein wenig Aufmüpfigkeit, jede Menge Lebenserfahrung und trotzdem immer noch optimistisch und alles gepaart mit einer ordentlichen Prise Humor. Thomas Bayer zeigt einen kompletten Tevje, einen glaubwürdigen Menschen. Sein Monolog mit Gott und das anschließend "Wenn ich einmal reich wär"-Solo gehört zu den eindrucksvollsten Szenen des Abends.

Im Grunde sind die Einwohner von Anatevka es alles liebenswerte Menschen, die sich mit ihren Schicksal und ihrer Not abgefunden haben. Ihrem Elend begegnen sie mit jeder Menge Witz. Der Wachtmeister ist zwar der Vertreter der zaristischen Obrigkeit und damit der Büttel eines Unterdrückerregimes, Aber irgendwie ist auch er nur ein Mensch und man hat sich eben arrangiert.

Doch eben dieses Regime wird die Juden von Anatevka im zweiten Akt zwingen ihre Häuser und ihre Heimat zu verlassen. Sie wandern nach Amerika aus, ins gelobte Land. Die Parallelen zu den aktuellen Weltereignissen sind augenscheinlich, aber leider in dieser Aufführung nicht zu sehen.

Burkhardt betreibt das, was andere zur Jahrtausendwende begonnen haben. Er verklärt des Stetl, das Ghettos der Juden in Osteuropa. Die Kostüme von Elisabeth Stolze-Bley unterstützen diese Aussage. Sie ahmen das späte 19. Jahrhundert nach. Man ist zwar arm aber anständig gekleidet. Sogar bis zu den Franzen des Gebetsschals sieht der Sondershäuser Tevje aus wie die Vorlage aus dem Film von 1971. In der Kategorie "Nachspielen einer Filmvorlage" erhält diese Aufführung die volle Punktzahl.

Als Hodel und Perchik entgegen der
Tradition tanzen, bricht das
Unglück über alle herin.
Allein das karge Bühnenbild und die fast schon surrealen Auftritte des "Fiddler on the Roof" kontrastieren die traditionsbewusste Inszenierung. Mit Bauten in Schwarz und Weiß und mit wenigen entlaubten Birken erinnert Wolfgang Kurima Rauschning an die einfachen Verhältnisse der osteuropäischen Juden um die Jahrhundertwende. András Dobi taucht immer dann als stummer Geiger auftauchen, wenn eine entscheidende Wendung ansteht.

Nur einmal wird das Historienspiel unterbrochen: In der Traumszene mit der toten Großmutter und der toten Frau des Metzgers Lazar Wolf. Es ist eine gekonnte Mischung aus surrealen Elemente und Slapstick. Der Mut des Regisseurs wird viel Beifall belohnt und es ist die Szene, die am stärksten in Erinnerung bleibt.

Es geht in dieser Inszenierung um Traditionen und um den Bruch mit dem Althergebrachten. Fast schon mit anthropologischen Eifer werden die Gebräuche der osteuropäischen Juden dargeboten. Selbst der Bezug zu den Geschehnissen der Zeit fehlt. Immerhin befinden wir uns im Jahr 1905, im Jahr des Blutsonntags von St. Petersburg und im Jahr der ersten russischen Revolution. Nichts davon findet sich in diesem Traditionsstück wieder.

Wenn dieses Musical neben dem Erzählen einer amüsanten Biografie noch einen Kern bietet, dann ist es die Auseinandersetzung mit der Tradition und ihrem Zerbrechen. Diesen Kern hat die Aufführung in Sondershausen vollumfänglich erfasst. Der Bruch der Tradition personifiziert sich in Tevjes ältesten Töchtern. Keine folgt dem Wunsch des Vaters, alle drei gehen ihren eigenen Weg. Tevje findet sich damit ab, doch die Strafe folgt auf dem Fuße. Die Juden werden aus dem Paradies Anatevka, aus dem Garten Eden vertrieben. Aber ihnen bleibt die recht konkrete Verheißung des gelobten Landes USA. Das klingt alles nach frühe 1960er Jahre,

Bei der Besetzung konnten Jutta Ebnother und Toni Burkhardt in die Vollen greifen. Auf der Festspielbühne stehen, singen und tanzen viel Darstellerinnen und Darsteller, die das Geschehen am Theater Nordhausen in den letzten Jahren geprägt haben. Uta Haase ist in der Rolle der Ehefrau Golde ist Thomas Bayer als Milchmann Tevje ebenbürtig. Als Sänger beeindruckt an diesem Abend David Johnson. Sein Solo als Russe Sascha hat einen hohen Gänsehaut-Faktor.

In der Wäsche-Szene des ersten Aktes zeigen sich Irene Eggerstorfer als Zeitel, Rebekka Reister als Hodel und Anita Rosati als Chava als Darstellerinnen und Sängerinnen auf Augenhöhe. Auch Philipp Lang in der Rolle des aufmüpfigen Studenten Perchik kann mehrfach Akzente setzen.

Es ist ein komplett gleichwertiges Ensemble, das an diesem Abend auf der Bühne der Schlossfestspiele steht, alle Rolle sind durchweg stark besetzt und das Zusammenwirken mit dem Loh-Orchester klappt bestens. Die Musiker lassen unter der Leitung Sergi Roca den Darsteller eindeutig den Vorrang.

Tänzerisch bewegt sich das Musical auf höchsten
Niveau.     Alle Fotos: Tilmann Graner. 
Swing, Polka und jede Menge Klezmer. Für ein Musical der 60er Jahre verfügt "Anatevka" über eine außergewöhnliche Bandbreite. Das Loh-Orchester stellt alle Spielarten gleichermaßen gut dar. Auch die ungewohnten Klänge des Klezmer kommen transparent und vielfältig daher.

Mit ihre Choreographie kann auch Jutta Ebnother  dieser Produktion ihren Stempel aufdrücken. Die Tanzszenen. ob Masse oder Solo, beleben den Geist des klassischen Broadway-Musical wieder. Spektakulär wird es bei der Verbrüderung von Russen und Juden und so viel Kasatschok gab es noch auf der Bühne des Schlossfestspiele. Die Aussage ist klar: Alle Mensch wären Brüder, ließe man sie nur miteinander tanzen.

Diese Inszenierung hat genau das, was Musical-Freunde suchen: Musik, Tanz und Romantik. Auf der technischen Ebene ist alles bestens und der Unterhaltungswert erreicht Spitzenwerte.
Mit dieser Inszenierung trifft Burkhardt den Kern der literarischen Vorlage von Scholem Alejchem. Zudem erfüllt er die Erwartungen des Musical-Publikum voll und ganz. Diese Stück steckt voller technischer Höhepunkte. Aber Zeiten, in denen Flucht und Vertreibung wieder zum Alttag gehören, hätte ein wenig Mut zu mehr Gegenwart nicht geschadet.

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