Die Entdeckung der Langsamkeit

Mit einem FIAT 850  auf PS.Speicher-Rallye

Einbeck. An keinem anderen Tag im Jahr werden in Niedersachsen so viele Fotos gemacht wie an diesem. Es ist der erste Samstag in den Sommerferien und der Tross der PS.
Speicher-Rallye zieht durchs Land. Fast überall, wo er durchkommt, stehen Menschen an den Straßen lächeln, winken und drücken auf den Auslöser.

Es ist die siebte Auflage und die dritte unter Corona-Bedingungen. Die Sommerwelle hat den einen oder anderen Mitarbeiter frühzeitig aus der Vorbereitung herausgenommen. Am Morgen erzählt Lothar Meyer-Mertel, dass die Abschlussveranstaltung am Abend ohne Livemusik auskommen muss. „Die Band ist erkrankt“, erklärt der Geschäftsführer des PS.Speichers.

Zudem sind einige Startplätze coronabedingt freigeworden. Pressesprecher Stephan Richter bemerkt beim Briefing: „Einige Starter wissen erst seit gestern erfahren, dass sie heute hier sind.“ 170 Startplätze gibt es in diesem Jahr. Die waren vier Stunden nach Anmeldestart vergeben und die Warteliste lang genug, um die Ausfälle zu kompensieren.

Der Dreikampf des Publikums: Gucken,
staunen, fotografieren. 
Alle Fotos: Kügler
Jörg Weinhold ist einem Fiat 500 angereist. Er ist voll des Lobes für die PS.Speicher-Rallye: „Hier stimmt einfach alles und die Organisation ist einfach großartig.“ Dem Mann aus Leverkusen gefällt vor allem die Tatsache, dass es jedes Jahr eine andere Strecke gibt.

Meine Lebensgefährtin und ich, wir sind Wiederholungstäter und schon das vierte Mal in Einbeck am Start. Es ist jedes Mal anders. Wir sehen einige bekannte Gesichter und suchen vergebens nach anderen bekannten Gesichtern im Fahrerlager.

Im letzten Jahr ging es durch das Weserbergland, in diesem Jahr führt die Route durch das Leinetal in den nördlichen Vorharz zum Schloss Oelber und dann über den Harz zurück nach Einbeck.

Wir sind mit einem Fiat 850 Sport Spider am Start. Die Autobauer aus Turin hatten Ende der 60er Jahre gleich drei Sportwagen mit Faltdach im Sortiment. Der 850 war der „Kleinste“ davon. Er ist ein Schmuckstück. Entworfen und gebaut bei Bertone zeichnet er sich durch Leichtigkeit und Eleganz aus. In Zeiten, in denen jeder zweite Neuwagen aussieht, als wäre er für für kriegerische Handlungen konzipiert, ist der Fiat 850 Spider eine optische Erholung.

Später werde ich von den Fahreigenschaften schwärmen. Der Wagen liegt wie ein Bügelbrett auf der Straße und läuft selbst in den Kurven wie auf Schienen. Da untersteuert nix. Das Leichtgewicht braucht keine Servolenkung. Gewöhnungsbedürftig ist allein die Sitzposition: etwa 35 Zentimeter über dem Asphalt.

Das Briefing

Bevor der Startschuss fällt, steht noch das Briefing an. Rennleiter Manfred Schulz erklärt, dass diese Rallye keine Motorsportveranstaltung ist. Es sein eine touristische Ausfahrt mit Wertungsaufgaben. Über Sieg oder Niederlage entscheidet nicht die Stoppuhr, sondern die Strafpunkte, die man sich bei den Aufgaben und Durchfahrtskontrollen einhandeln kann. Der Streckendesigner gibt einen Tipp mit auf den Weg: „Entdecken Sie die Langsamkeit.“

Lothar Meyer-Mertel und Stephan Richter weisen auch noch einmal darauf hin. Im letzten Jahr hatte es Teilnehmer gegeben, die den sportlichen Aspekt überbetont haben. Nicht alle werden den Hinweis beherzigen.

Der Fiat 850 ist ein Traum:900 ccm, 52 PS,
schwarzer Lack, rotes Kunstleder. 
Für uns gilt das nicht. Der Fiat hatte einen Motorschaden und möchte nun nach der Reparatur vorsichtig eingefahren werden. Alles oberhalb von 85 Kilometern pro Stunde ist tabu.

Die Navigation ist gnadelos analog. Die Strecke ist im Roadbook niedergeschrieben. Das ist in diesem Jahr satte 36 Seiten stark. Hier finden sich auch die Standorte für die Wertungsaufgaben und die Kontrollpunkte. Die werden von den Streckenposten auf der Bordkarte "abgestempelt", die es zusätzlich zum Roadbook gibt. Wer mit digitaler Hilfe fährt, verfährt sich, denn die Strecke sucht nicht die kürzeste Verbindung zwischen den Punkten A, B und C.

Der Start

Ältester Teilnehmer ist ein Ford -T-Modell aus dem Jahr 1914. Er geht um 10.01 Uhr als erster auf die Reise. Die anderen folgen im Minutentakt und wir dürfen um 10.52 Uhr starten. Bis dahin machen wir Fotos und führen „Benzingespräche“.

Die ersten beiden Aufgaben in Einbeck bewältigen wir nicht fehlerfrei. Wir bleiben aber im Toleranzbereich und finden sogar die erste „stille Kontrolle“. Es sind Zahlen, die längst der Strecke verteilt sind und in die Bordkarte eingetragen werden müssen. Im Vorjahr waren sie Anlass für Verstimmungen zwischen Streckendesignern und vielen Teilnehmern.

Dann geht es in Richtung Süden und schon in Ippensen wartet die erste Gemeinheit. Die Route knickt scharf links ab, verlässt die Hauptstraße und führt über eine holprige Nebenstrecke bergauf bergab nach Greene. Auch nach hin Freden wird es nicht besser.

Die Natur entschädigt uns: Die Toskana des Nordens, eine offene Landschaft, ein weites Tal, umkränzt von Hügeln und Wäldern und die Sonne kommt durch die Wolken.

Überall stehen kleine Grüppchen und die Menschen winken uns zu. Wir winken zurück und wissen „Wo Leute an der Straße stehen und auf uns warten, da sind wir richtig.“ Zusammen lächeln wir alle. Mal abgesehen von Einbeck brandet uns später die größte Begeisterung in Seesen entgegen. Auf dem Jacobson-Platz und drumherum herrscht Volksfeststimmung. Unzählige Menschen jeglichen Alters haben sich hier versammelt und jubeln den fremden Menschen in den alten Autos entgegen. Die Mitarbeiterin des Stadtmarketings drückt den Kontrollstempel auf die Bordkarten und überreicht allen Teams ein Souvenir.

Aber bis wir dahin kommen, müssen wir erst noch zum Schloss Oelber. In Nette wartet die Landschaft mit der größten Überraschung auf uns. Sie gibt hier im südlichen Landkreis Hildesheim den Blick frei auf den Brocken. Am Horizont sind die Türme des Harzgipfels deutlich zu erkennen.

Bis Baddeckenstedt sind wir als Kolonne unterwegs, für einige ein fahrendes Hindernis mit 60 km/h. Hinter unserem FIAT hat sich ein Porsche 356 aus Hannover eingereiht, der keine Startnummer trägt. Auch an der Zwischenstation warten einige Oldtimer, die sich einfach in den Tross geschummelt haben. Was will man machen? Die Straße gehört allen.

Pause an der Filmkulisse

Schloss Oelber zeigt sich von seiner besten Seite. Es diente auch schon mal als Filmkulisse. Wir haben zwei Stunden Zeit für Mittagessen, Umschauen, Fachsimpeln, Erfahrungsaustausch und Fotos machen.

Wir sind noch gar nicht so recht auf Betriebstemperatur, als gleich nach der Mittagspause die letzte Wertungsaufgabe auf uns wartet. Wir müssen ein gefälschtes Verkehrszeichen enttarnen und liegen daneben. Anschließend verfahren wir uns gleich noch einmal. Dabei hätten wir doch nur auf die Menschengruppen achten müssen, die jetzt in Baddeckenstedt stehen, lächeln, winken und fotografieren. .

Es geht in Richtung Goslar auf einem Abschnitt, den wir schon einmal 2019 gefahren sind. Zum ersten Mal wird es an diesem Tag mehrspurig. Trotzdem bleiben wir unterhalb des 85 km/h-Limits

Dann heißt es „Rechts abbiegen und in Richtung Innerstetalsperre“. Es wird deutlich kühler.

Die Häuser verfallen, die Straßen kaputt und viele tote Bäume. Wir sind eindeutig im Harz. An der Steigung zum Sternplatz kommt der Fiat mit 900 Kubikzentimetern Hubraum und 52 PS an seine Grenzen. Wir fahren rechts ran, um zwei Ford Mustangs, einen Roll Royce und einen VW T 4 vorbeizulassen. Aber Seesen ist ganz großes Kino, die Freude auf dem Jacobson-Pöatz steckt an und verscheucht die trüben Gedanken.

Hinter Bad Gandersheim überrascht uns die Streckenführung mit immer neuen Finten. Wir bekommen die Gelegenheit, in Kuventhal die zweistöckige Wilhelmsbrücke von unten anzuschauen und in Andershausen haben wir den letzten phänomenalen Ausblick. Er geht über das Leine- und Ilmetal hinweg in den Solling.

Gegen 17 Uhr sind wir zurück am PS.Speicher. Dort erwartet uns das, was wir erwartet haben. Hunderte von begeisterten Zuschauern nehmen uns klatschend im Empfang. Marketingchef Alexander Kloss überreicht uns ein Bild von unserem Start am Morgen. Es ist wohl das einzige Foto, das mich in einem Auto und für das ich nicht bezahlen muss. Auto abstellen, ins Hotel und unter die Dusche.

Die Sieger 

Auch die Entdeckung der Langsamkeit endet mit einer Siegerehrung. Am Abend werden Preise in vier Kategorien und drei Sonderprämien vergeben. Weil die Jury tagt und tagt und tagt, verschiebt sich die Bekanntgabe der Gewinner auf 20 Uhr. Das gibt mir Zeit, mich mit Thorsten Lürsen zu unterhalten. Er ist einer von 50 ehrenamtlichen Helfer an diesem Tag und auch am nächsten Tag ist er beim Korso im Einsatz. „Das ist meine Art etwas zurückzugeben“, erklärt der Rentner. Wenn er nicht gerade die Rallye oder den Korso absichert, dann schraubt er im PS-Depot Motorrad und darf auch mal Maschinen fahren, die ansonsten für ihn unerreichbar wären.

Begrüßung im Ziel
Alle Fotos: Kügler
Der Vorsitzende des Kuratoriums lobt an diesem Abend kurz und knapp das Engagement der Ehrenamtlichen. Ganz unhanseatisch spricht er vom „Arsch aufreißen“, ohne dass diese Ausfahrt nicht möglich wäre. Dafür fordert er einen kräftigen Applaus ein.

Am nächsten Tag frage ich PS-Eventchefin Annika Schmitt, wie viele Menschen mit den Einbecker Oldtimer-Tagen beschäftigt sind und wie viele Arbeitsstunden in der Veranstaltung drinstecken. Die Personenzahl kann sie noch „Pi mal Daumen“ abschätzen. Aber bei der Stundenzahl muss sie passen. „Aber die will ich auch gar nicht ausrechnen“, beendet sie das Thema. Was zähle, sei das gelungene Ergebnis.

Die Resultate der touristischen Ausfahrt mit Wertungsprüfung sind nach Altersklassen geteilt und nach Pkw und Motorrad. In der Kategorie A 5 geht der erste Platz an Dr. Anastasios Neofitidis. Der Mittvierziger aus Herzberg nennt mehrere Oldtimer sein Eigen. In diesem Jahr sind er und seine Frau mit einem Mercury Montclair aus dem Jahr 1955 an den Start gegangen. Das ist ein Relikt aus den besten Tagen der amerikanischen Automobile. Kurz danach begann die lange Phase des Niedergangs.

Die Fahrt ist das Ziel

Anastasios Neofitidis ist scghon recht old school. Oldtimer fahren, pflegen und auch Hand anlegen ist für ihn eine Leidenschaft und keine Geldanlage. „Ich bin damit groß geworden“, betont der Sohn eines Kfz-Mechaniker. Dass er den ersten Preis gewonnen hat, das sei schöne Nebensache. Wichtiger ist dem Mann aus Herzberg die gemeinsame Ausfahrt und das Erlebnis PS.Speicher- Rallye.

Wir schaffen es auf Platz 61 der Gesamtwertung und haben uns damit im Vergleich zum Vorjahr deutlich verbessert. Bei einer reinen Fahrzeit von 4 Stunden 10 für 163 Kilometer haben wir die Langsamkeit entdeckt.

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