Das Theater Rudolstadt zeigt in Nordhausen die “Jugend ohne Gott” als Kinder ohne Eltern
Ödön
von Horváth “Jugend ohne Gott” zeigt, was passiert, wenn die
Menschlichkeit aufgekündigt wird. Das Werk wurde als treffende
Beschreibung des Werteverfalls im faschistischen Europa gefeiert. Das
Theater Rudolstadt hat die Bühnenadaption von Andre Rößler zu einer
Beschreibung des Werteverfalls im Du-bist-mir-doch-egal-Europa gemacht
und daneben Brechts Weisheit, dass Theater die Beschäftigung mit den
Themen der Zeit sei, neues Leben eingehaucht. Doch neben allen
Prinzipien sind erst vor allem starke schauspielerische Leistungen und
ein geschlossenes Konzept, die diese Inszenierung tragen.
Es
ist ein Mord geschehen, Schüler N wurde erschlagen. Der Lehrer und
Fernsehpfarrer Biene wollen den Fall aus der Retrospektive erklären und
ihre Rahmen ist eine Talkshow. Mit allen Weihwassern der televisionären
Seelsorge gewaschen, nehmen wir Matthias Winde diesen Talkmaster der
windelweichen Varianten von der esten Minute an ab. Souverän erfüllt er
diese Rolle und souverän spielt er mit dem Publikum. Johannes Arpe als
Lehrer wirkt da wesentlich kantiger aber auch abgeklärter. Burkhard Wolf
gibt den Wutbürger, der vor laufender Kamera ein Streit vom Zaun
bricht. Pfarrer, Lehrer und Wutbürger werfen sich Plattitüden an den
Kopf und das Publikum blickt nicht ganz durch. Es geht auch nicht um
Inhalte, sonder um die Talkshow-gerechte Präsentation von Ratlosigkeit,
die in Zorn umschlägt. Das bleibt nicht der einzige starke Auftritt von
Wolf.
Der Lehrer (rechts) findet keine Bindung zu seinen Schülern. Fotos: Peter Scholz |
Als
Nummernrevue werden die Stationen aufgezählt, die zum ungeheuerlichen
führten. Auch dem Horváthschen Weltkriegsveteran ist ein PR-Fachmann und
Afghanistankämpfer geworden, der als Mann der Praxis gern in den
Lehrbetrieb aufgenommen wird. Ute Schmidt spielt die resolute
Direktorin, Martin Andreas Greif spielt das resignierte Alter Ego des
Lehrers bis zur bitteren Neige konsequent. Ohne Halt im eigenen
Wertekatalog wird er es bei den Schülern schwerhaben, weil er keine
Orienierung geben kann. So ist es konsequent, dass dieser Lehrer den
Hilferuf des Schüler N nicht versteht und so ist es konsequent, dass die
Verletzung der Grenze zwischen Lehrer und Schüler, der Blick ins das
Tagebuch von Schüler E, aus dem Drama eine Tragödie macht. Wer sich
selbst nicht achtet, der kann auch den Anderen nicht achten. Aber ist er
Agitator oder ist er nur Katalysator?
Der
diagnostizierte Werteverfall ist auch ein Verfall des Bildungssystems.
Hier wird die “Jugend ohne Gott” zur Abrechnung mit Thüringens
Bildungsmisere, die sich in ähnlicher Form auch in den anderen
Bundesländern wiederfinden. Ist es der Putz, der von den Wänden rieselt
oder der Kalk aus den Köpfen einer überalterten und überforderten
Lehrerschaft. Der Lehrer zitiert Volker Pisper: “Deutschland wird nicht
am Hindukusch verteidigt, Deutschland wird an der Hauptschule
verteidigt.” Wie bereits gesagt, Theater ist die Beschäftigung mit den
Themen der Zeit.
Das
Bühnenbild ist auf das Wesentliche reduziert, löst somit das kommende
Geschehen von einem konkreten Ort und hebt die Bindung an einen
historischen Rahmen auf. Die Halfpipe im Hintergrund erzeugt das Bild
einer schiefen Bahn. Es erlaubt aber auch die klaustrophobischen
Elemente, wenn das Bühnenbild kein Entrinnen zulässt, wenn der
Gerichtssaal zum Pranger , zum Marterpfahl wird.
Die
Kostümwelt ist dreigeteilt. Die Erwachsenen sind in Overalls gekleidet,
deren Grün an die Uniform der Volkspolizei erinnert, die Schüler sind
uniform in schwarz-weiß der internationalen Jugend-Mode aus
Kapuzen-Shirt und Jogginghose gekleidet. Nur Julius Cäsar, Eva und der
zweite Polizist stechen durch ihre Farbigkeit hervor.
Julius Cäsar ist ein tuntiger Jesus mit Pferdeschwanz. |
Julius
Cäsar ist die zweite Glanzrolle von Burkhard Wolf an diesem Abend. Aus
dem mystischen Ratgeber der Vorlage wird ein schräger Freak, ein
tuntiger Jesus mit Bowling-Tasche und Pferdeschwanz, der
Altersweisheiten von sich gibt, aber keine Hilfe sein kann.
Im
Laufe der Vorstellung schmiegt sich die Inszenierung immer stärker an
die Vorlage, ohne jedoch kongruent zu werden. Als die Klasse ins
Zeltlager fährt, ist die Katastrophe vorgezeichnet. Aus dem gewohnten
Umfeld gerissen und der Natur ausgeliefert, werden die Schüler auf sich
selbst zurückgeworfen, erkennen ihre Verletzlichkeit und erzählen ihre
Biografien. Es sind Biografien, die von Einsamkeit geprägt sind und
vonabwesenden Eltern. Erst in der Begegnung mit dem Straßenmädchen Eva
erkennt Schüler E seine Seele und den Verlust durch den Selbstmord
seiner Schwester. Da ist Schüler N,stark und trotzig, der sich doch nur
nach den zärtlichen Momenten mit seinem Vater zurücksehnt. Man kann die
Stille im Saal hören, als Jörg Schlüter seinen Vortrag beendet.
Der
Gänsehaut-Moment ist da als Schülerin T in ihrer Schlussplädoyer von
der emotionalen Kälte erzählt, vom Zeitalter der Fische und davon, dass
sie spüren möchte und das sie gespürt werden möchte: “Ich möchte
jemanden unter die Haut gehen”. Gerade noch die kesse Pubertierende ist
Miriam Gronau im nächsten Moment ein Kind, das aus Verzweiflung mordet
und sich selbst richtet. Als im Schlussbild die Totenkopf-Bowlingkugel
die schiefe Bahn hinunterrrollt,wird klar, das eine Jugend ohne Gott
auch eine Frage von Sein oder Nichtsein ist.
Wenn
Ödön von Horváth mit “Jugend ohne Gott” 1937 einen Schnitt durch den
moralischen Zustand der Welt geleifert hat, dann bietet das Gastspiel
des Rudolstädter Ensemble in Nordhausen einen Querschnitt durch die
zahlreichen Gründe, warum die Jugend ohne Maßstäbe sein kann. In diesem
Sinne ist die Inszenierung von André Rößler eine intensive Beschäftigung
mit den Themen der Zeit, ein Werk, dass dem Gest der Zeit einfängt,
ohne aber dem Zeitgeist verhaftet zu bleiben.
Die nächsten Gastspiele in Nordhausen finden am 11. und 17. Mai statt.
Das Stück
Der Spielplan
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