Die Kraft zum Überleben

Eine beeindruckende Geschichte aus dem Holocaust am Theater Nordhausen

"Die Tänzerin von Auschwitz" ist die Geschichte von Roosje Glaser.  Bianca Sue Henne und Jutta Ebnother haben die Biografie der Frau, die das Grauen überlebte, für das Theater Nordhausen inszeniert. Herausgekommen ist ein beeindruckendes Werk, das viele Grenzen sprengt. Premiere war am Donnerstag im Theater unterm Dach.

Die Inszenierung ist als spartenübergreifend angekündigt. Es vereint Schauspiel, Tanz und Element des Figurentheater miteinander. Der offene Beginn zeigt zwei Paare, die sich im Tanz wiegen. Natürlich liegt es nahe, die Biografie einer Tänzerin mit Bewegung aufzufüllen. Aber der Tanz hat in diesen Konzept eine wichtige erzählerische Funktion.

Kann man dieses Grauen in Worte fassen? Nur schwer. Deswegen "vertanzen" Joy Kammin und Olaf Reinecke und Joy Kammin und Patrick Jech die Passagen, die weit über das Normalverständnis hinausgehen. Sie fassen das in Bewegung, wofür es immer noch keine passenden Worte gibt. Zweimal gibt es den Pas de deux zum Verhör, als Joy Kammin sich auf dem Boden windet und Olaf Reinecke ihr mit großen Schritten den Weg versperrt, sie immer mehr einengt. Das ist getanzte Gewalt, getanzte Unterdrückung.

Es gibt Spannung in der Ehe von Leo Crielaars und
Roosje Glaser. Alle Fotos: András Dobi
Aber auch die Liebesszene mit den SS-Männer werden getanzt. Doch, richtig gelesen. Roosja Glaser hatte sexuelle Beziehungen zu ihren Peinigern. Wo die Worte versagen, dort hilft der Ausdruck durch Bewegung. Und Roosje Glaser nimmt aus dem Tanz die Kraft zum Überleben. Ihre Biografie ohne Tanzdarbietungen könnte also nur unvollständig bleiben.

Die Elemente des Figurentheaters haben eine konträre Funktion. Sie sollen Stimmungen verstärken. Seien es die Liebesszenen zwischen Roosje und Kees van Mertens, sei es der Gang des kleinen Jungen in die Gaskammer. Diese Szene ist so intensiv, dass es fast schon schmerzt. Leider misslingt der Scherz mit der Hitler-Figur, die zu Michael Jacksons "Bad" den Moonwalk macht, eindeutig.    

Die Rollen sind auf vier Schauspieler verteilt. Diese wechseln immer wieder. Dies resultiert nicht aus dem Widerspruch zwischen den Grenzen eines Kammerspiels und der Fülle des Materials, sondern zeigt, das jeder mal in Rolle des Opfers, aber auch eines Täters geraten kann.

Die Klagewand dokumentiert den millionenfachen
Verlust.  Foto: András Dobi
Überhaupt konzentriert sich diese Inszenierung mehr auf den Weg ins Konzentrationslager. Dieses Stück zeigt die Stationen der Verfolgung, es macht die Entwicklung deutlich und es zeigt die Veränderungen in der niederländischen Gesellschaft während der Besatzung. Verrat ist ein Thema, dass immer wiederkehrt. Der Verrat durch ihren Ehemann, der Verrat durch die Nachbarn.

Vielleicht liegt hier sogar die Stärke dieser Produktion. Sie spart die Grauen der Vernichtungslager nicht aus, aber sie erliegt ihnen nicht. Sie präsentiert eine ganz persönliche Strategie des Überlebens und spart nicht mit Kontrasten, wenn sie die Banalität der Bösen zeigt. Massenmörder und Vollstrecker sind auch nur Menschen wie du und ich. Aber dies steigert das Unverständnis für das Geschehene ins Unermessliche.

Rachel überlebt den Todesmarsch nicht.
Foto: András Dobi
Die Erzählperspektive bleibt immer eine persönliche. Das Publikum erlebt das Grauen mit Roosjes Augen. Intensiver geht es kaum. Doch die beeindruckenste Szene ist ein stumme. Caroline Kühner steigt Roosje Glaser nach deren Verhaftung und nach tagelangen Verhören in einen Koffer, um ins Durchgangslager Westerborg transportiert zu werden. Sicherlich eine sehr starke Aussage. Polizei und SS zwängen ein ganzes Menschenleben zwischen zwei Deckel. Aber es ist auch an Anschluss an die Entstehungsgeschichte der Buchvorlage. Bei einem Besuch in Auschwitz entdeckt Paul Glaser den Koffer seiner unbekannten Tante Roosje. Er macht sich auf die Suche nach der Frau, die so lange über ihre Schreckensgeschichte geschwiegen hatte.

Eine weitere Säule dieser gelungenen Produktion ist das Bühnenbild von Wolfgang Kurima Rauschning. Eine Klagewand zeigt historische Fotos aus dem Alltagsleben, von der Verfolgung der Juden und Fotos des Völkermords. Aus allen Bildern ist mindestens eine Figur ausgeschnitten, ausradiert. Dieses Bühnenbild macht den millionenfach Verlust auf den ersten Blick und für alle Zeit deutlich. "Die Tänzerin" ist damit auch eine Form der Dokumentation.

Bianca Sue Henne und Jutta Ebnother haben Mut bewiesen, als sie sich "Der Tänzerin von Auschwitz" angenommen haben. Diese Mut hat sich gelohnt. Sie sprengen die Grenzen einer Studiobühne und intensivieren die Rezeption zugleich. Das schaffen nur wenige.




Der Spielplan am Theater Nordhausen
Das Stück

Das Buch

Kommentare

Beliebte Posts aus diesem Blog

Turandot vergibt jede Menge Chancen

Viel Abwechslung mit nur einem Instrument

Eine Inszenierung auf Tratsch-Niveau