Das Leben ist härter als das Cabaret

Ein packendes Musical  

Große Gefühle und tiefe Verzweiflung, belebende Musik und mitreißende Tanzszenen und zwei unglückliche Liebesgeschichten verpackt in ein visuelles Gesamtkonzept. Alles gepaart mit einem überragenden Hauptdarsteller. Die Inszenierung von "Cabaret" am Theater Nordhausen hat alles, was man von einem Musical erwarten kann.

Die Erwartungen sind hoch gesteckt, denn "Cabaret" hat als Film die Wahrnehmung der frühen 30-er Jahre mitgeprägt. Dabei hat sich Ivan Alboresi aber für eine Inszenierung entscheiden, die sich stärker am Musical aus dem Jahre 1966 orientiert als am Streifen von 1972.

Deutlich wird dies an der Namensgebung. Alboresis Held heißt wie in der literarischen Vorlage „Goodbye to Berlin“ Clifford Bradshaw und damit wird die persönliche Perspektive des Autors Christopher Isherwood übernommen, wie sie den Ursprungsroman „I am a Camera“ bestimmt.

Auf der dunklen Bühne steht ein einsamer Mann im Spotlicht von oben. Im Hintergrund läuft Trumans Erklärung zum Sieg der Alliierten im Mai 1945. Der Mann fängt davon zu erzählen, wie es war, damals als in Berlin die ganze Geschichte begann.
David Arnsperger: Zwischen Teufel und Jedermann,
Zirkusdirektor und SS-Mann.  Alle Fotos: Marco Kneise

Dann springt ein anderer Mann nach vorn. Ein Gesicht geschminkt wie eine Mischung aus Totenschädel, Gründgens Mephisto und Batmans Joker. David Arnsperger singt „Willkommen, bienvenue, welcome!“. Das Leben ist ein Cabaret und manche sind nur Zuschauer und manche eben die Akteure.

Gesteckt in ein Kostüm aus Zirkusdirektor und SS-Tracht ist Arnsperger als Conferencier die Schimäre. Er ist mehr als der Beobachter, aber er wird nie zum Handelnden, mehr als Kommentator aber weniger als ein Supervisor. Damit gehört auch er als Figur am Ende zu den Verlierern.
Gleich beim ersten Einsatz macht er deutlich, wer hier das Zentrum des Geschehens ist, ohne selbst zu Handeln. Böse, teuflisch oder einfach nur Jedermann? Das muss das Publikum für sich klären

Arnspergers Präsenz ist beeindruckend, sein Tenor nicht nur kraftvoll, sondern auch differenziert genug für die Zwischentöne und das Mienenspiel trotz der Fratze vielschichtig. Daran müssen sich in dieser Inszenierung alle messen lassen.

Die Kulisse öffnet sich, es dampft, im Hintergrund signalisieren drei Lichter im Dreieck die Front einer Dampflok. Im Vordergrund sitzt Bradshaw im Zug von Paris nach Berlin. Hier trifft er auf den zwielichtigen Ernst Ludwig, der von Jörg Neubauer durchaus nachvollziehbar dargestellt.

Später fahren ein Bett und ein Schreibtisch auf die Bühne und wieder ab, manchmal kommen auch Separees. Dieses schnelle Schnitte imitieren in der Dramaturgie den Film als das atemberaubende Medium der frühen 30.er Jahre. Mit wenigen Handgriffe und ohne Pausen wechseln die Orte vom Zug zur Pension zum Kit Kat-Club. Das verleiht der Inszenierung einen deutlichen Zuwachs an Tempo.

Liebeslied für eine Ananas: Thomas Kohl und Brigitte
Roth.        Foto: Marco Kneise
Das durchdachte Lichtkonzept schafft auf der großen Bühne nicht nur Inseln für die kleinen und intimen Handlungen. Es schaltet sogar in Sekundenbruchteilen von Galnz auf Elend und wieder zurück einmal durch den Stimmungswechsel.

Bradshaw trifft auf seine Vermieterin Fräulein Schneider, Typ ewige Jungfrau. Brigitte Roth gibt der Vertreterin der unteren Mittelschicht immer an der Grenze zum wirtschaftlichen Abstieg nicht nur ein Gesicht sondern auch eine Stimme. Sie macht die Freuden und Ängste dieser grauen Maus greifbar. Randnotiz: Sie hat schon in allen Cabarets am Theater Nordhausen mitgewirkt. Vielleicht verschafft das nötige Verständnis

Zu den ganzen Selbstdarsteller ist sie der Kontrapunkt und ihre Duette mit Thomas Kohl als Witwer und Gemüsehändler Schultz sind die lyrischen, die anrührenden Momente. Nie zuvor wurde eine Ananas auf einer deutschen Bühne so liebevolle besungen.

Nun fährt der obere Teil des Bühnenbilds hoch und gibt den Blick frei auf die Big Band des Loh-Orchesters. Das zeigt sich an diesem Abend in bester Spiellaune. Es gibt Hot Jazz, Swing und Blues und jede Menge Stimmung. Henning Ehlert hat seine Musiker bestens eingestellt

Hunderte von Glühbirnen leuchten. It‘s Showtime. In Sekunden gelang der Quantensprung vom Elendsquartier in den Kit Kat-Club und der hat sogar eine Showtreppe. Es ist eine Hommage an die große Zeit der Musicals und Musikrevuen und an die sexuelle Befreiung im Berlin der späten 20-er und frühen 30-er Jahre.

Die Ballett-Compagnie des Theater Nordhausen erobert die Bühne und die Grenzen zwischen Männer und Frauen sind fließend. Die Tänzerinnen und Tänzer sind in dieser Inszenierung nicht nur Staffage. Es ist nicht verwunderlich, dass ihre Choreographien mit Dynamik, Ausdruck und erzählerisches Vielfalt überzeugen. Aber so viel Freizügigkeit mag auch heute noch manchen die falsche Schamesröte auf die Wangen treiben.

Sally kann auch traurig.    Foto: Marco Kneise
Mit Eve Rades als Sally Bowles bekommt Arnsperger eine gleichwertige Partnerin. Da ist bei der Besetzung ein Glücksgriff gelungen. Die junge und unverbrauchte Stimme reißt nicht nur in den Up-Tempo-Partien mit. Ihr „Maybe this time“ rührt schlicht und einfach zu Tränen. Dazu gelingt ihr die Darstellung der Sally Bowles als ahnungsloses Revuegirl bestens.

Showtime is over. Vor der Pause hängt die NS-Fahne wie ein Damoklesschwert über dem Kit Kat-Club. Das ist kein billiger Blickfang. Es ist der Einbruch der Realtität und damit die Wendemarke. Es gibt ein Leben außerhalb des Kit Kat Clubs und das ist alles andere als schön. Aus der rasanten Revue mit den Hits der 30-er Jahre und jeder Menge Glanz und Glammer wird nun eine feine Studie über den Aufstieg der Nationalsozialisten.

Aus dem Musical wird ein Drama mit Musik, das zeigt, wie die Nazis die Gesellschaft Stück für Stück durchdringen und wie das Bürgertum dies nicht sehen will. Es ist ein umgedrehtes Deja vu, zu beobachten, wie rechtsextreme Standpunkt häppchenweise zum Mainstream werden. Damit ist Alboresi die Anknüpfung an die Gegenwart gelungen.

Nun kann sich auch Marian Kalus auszeichnen. Er schafft es, den Bradshaws Wechsel vom Ignoranten zum Widerpart zu verdeutlichen. War er bisher lethargisch, sondern steckt seine Präsenz nun vor lauter Trotz und Widerwillen gegenüber den kommenden Machthabern.

Aus der Dauerparty wird ein Trauerspiel. Aus dem rasanten Musical ein eindringliches Drama. Damit ist Ivan Alboresi ein weiterer Clou gelungen, der auf das Publikum auf allen Ebenen mit nimmt.




Material #1: Theater Nordhausen - Der Spielplan

Material #2: Cabaret - die Inszenierung



Material #3: Cabaret - Das Musical

Material #4:  Goodbye to Berlin Das Buch









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